Die Freischwimmerin

Lyrik Monika Rinck blickt tief in die Verfasstheit der Dinge und denkt dabei das Verdinglichende des Denkens stets mit
Ausgabe 17/2019

Erkenntnissattes, aufmerksamkeitsgeschärftes Bewegtsein ist, was die Texte von Monika Rinck hervorrufen. Davon überzeugen kann man sich nun mit dem 500-seitigen Sammelband Champagner für die Pferde. Rinck, die am 29. April ihren 50. Geburtstag feiert, hat ihn mit ihrer Verlegerin Daniela Seel zusammengestellt als eine Zwischenbilanz über zwei Jahrzehnte ihres Schaffens. Champagner für die Pferde enthält Gedichte, Essays, Lieder, poetologische Reflexionen, Texte zur Kunst Dritter und Auszüge aus dem „Begriffsstudio“, einem Archiv, benannt nach einem Kunstwort, das erst durch seine letzten Buchstaben die Differenz zum Adjektiv „begriffsstutzig“ markiert, und unter dem die Autorin seit 2001 Stilblüten sammelt: Verhaspler, Versprecher, Schilder in semantische Sackgassen, die Teil- oder Richtig-Verkehrtes transportieren.

Die Muskeln der Sprache

Die Beweglichkeit und Bewegungen von Monika Rincks Denken, Sprechen und Schreiben deuten sich schon in der Gliederung des Bandes an. Seine fünf Kapitel sind überschrieben mit den Titeln von Rincks hier erstmals veröffentlichten Münster’schen Poetikvorlesungen aus dem Winter 2015: Ansprechen, Schwimmen, Schlafen, Verkörpern und Sammeln, mit Verben also, den „Muskeln der Sprache“, die Aktivität, ein Geschehen, einen Vorgang oder Zustand bezeichnen.

Wie hier ein In-der-Welt-Sein mündet in ein Schreiben, in dem das Sprunghafte, Assoziative, Alogische, Fragende und Fragmentarische vieldeutig aufgehoben ist, zeigt sich besonders eindrücklich an Schwimmen: Am letzten Tag der Berliner Freibadsaison 2015 sitzen wir mit der Autorin am Schreibtisch. Ein Text harrt der Abgabe. Noch einmal bestünde die Möglichkeit, im Freien zu schwimmen, ehe man sich dem Hallenbadchlormuff ergeben muss. Die Autorin schaut prospektiv von einem noch nicht eingetretenen Novembertag aus auf die Stunden im Freibad, auf die „türkisblauen Wasserflächen“, die „Edelstahlsäule des Wasserpilzes“, auf Routinen und Kabinen, die veränderte Perspektive vom Wasser, fühlt dem Schwimmen nach und gerät in einen Zustand, in dem sich Erinnerung, Traum, historische Exkurse mit Meditationen über den Zusammenhang von Körper und Schreiben, von Erkenntnis und Erfahrung, überblenden: „Das Schwimmen ist ja niemals schöner, als wenn die Aufmerksamkeit der Technik gilt. Es gibt dann eine Selbstvergessenheit, die wegführt von mir. Techne bringt Sophia hervor, indem sie einen von einem missgünstigen und zum Kreiseln neigenden Eigengeschehen weglenkt.“

Ja, könnte man sagen, „it’s work“. Das Handwerk des Dichters hat eben auch mit Übung, Training, Verzicht zu tun. Fällt also die Entscheidung zugunsten des Schreibens? Der Schluss griffe zu kurz, wie überhaupt alle vorschnellen Schlüsse, da die Autorin selbst sie immer wieder anzweifelt. Also doch schwimmen? Ginge es, so Rinck, nicht eben darum: die eigenen Fähigkeiten weniger aus Fleiß, sondern aus Freiheit unter Beweis zu stellen?

Sympathie für das Kleine

Ständig steht man mit Rincks Texten vor neuen Fragen: War da nicht noch was? Wird nicht aus jeder Einsicht eine neue, andere Aussicht? Worum geht es, faktisch? Und worum könnte, sollte, müsste es doch gehen, utopisch? Hat man tatsächlich genau genug hingeschaut, während man schon überzeugt oder hingerissen war, auch vom Ulkigen oder Circensischen, das Monika Rincks intellektuell durchtränktes wie empathisches Werk immer mit sich führt, das sich in einem so klangvollen Gedicht wie der hoho hortensie, einer Pastiche auf Rilkes Blaue Hortensie äußert? Oder in einem so herzzerreißend traurigen, analytisch tiefen wie alleine weinen, das 2012 in dem mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichneten Gedichtband Honigprotokolle erschienen ist: „Denke, dass ich verwahrlost bin, wo mich nur Stimmen treffen, / Mautgesang, ein jeder hat sein Ding. Mich dünkt, ich habe / keines. Meine Taille steht herum, die Beine stehn herum, / ich muss mich selber halten, etwas andres hält mich nicht. / Ich weine auch alleine. Alleine weinen taugt mir nicht.“ Einige von Rincks Gedichten haben längst Eingang in Lyrik-Anthologien gefunden. mein denken, zum fernbleiben der umarmung, wie bitte geht vorbereiten oder was machen die frauen am sonntag.

Neue Aspiranten, Gedichte, die das Zeug zu Klassikern haben, finden sich im jüngstem Gedichtband Alle Türen. Alltägliche Dinge spielen im Werk der Autorin nicht erst seit ihrem ersten Essayband Ah, das Love-Ding insofern eine Rolle, als aus ihrer Verfasstheit Einsichten über den Zustand der Gesellschaft gewonnen werden können, und zudem im Begriff des „Dings“ immer das Verdinglichende des Denkens, Sprechens und Handelns schon mitgedacht wird. Welche Türen hier knallen, schwingen, klappern, offen stehen oder – etwa in dem Gänsehaut verursachenden Unfall-Gedicht Davonziehende Tür. Hochrasanztrauma – wie sehr mit den Türen nicht nur die Alltagspraxen von Ein- und Ausschließen, sondern, im übertragenen Sinn auch die Analogien zwischen Raum und Begriff, zwischen Innen und Außen, mitbedacht werden, zeugt einmal mehr von der Beobachtungs- und Imaginationskraft dieser Autorin, die zugleich immer Sympathie für das Kleine und vermeintlich Unbedeutende mitbringt, etwa, wenn sie die Operette, die leichtgewichtigere Schwester der Oper zu einem weiteren Epizentrum des Bandes macht. „Das Prinzip der Operette ist ganz einfach: Man nimmt einfach zu viel von allem“, beginnt dieses Gedicht. Und die neuen Klassiker im Band? Vielleicht Wie teuer es ist oder Der Regler.

Bei aller theoretischen Versiertheit der Autorin, bei aller Vertrautheit mit dem Werk von Dichterinnen und Dichtern aus vielerlei Sprachen, bleiben Rincks Texte in gewisser Weise klein wie die von ihr in Tierbabybingo bedichteten Tiere. Sie zählen zum Klügsten, Eindrücklichsten, was die deutschsprachige Gegenwartsliteratur derzeit bereithält.

Info

Champagner für die Pferde. Ein Lesebuch Monika Rinck S. Fischer Verlag 2019, 528 S., 24 €

Alle Türen. Gedichte Monika Rinck KOOKbooks 2019, 104 S., 19,90 €

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Beate Tröger

Freie Autorin, unter anderem für den Freitag

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