Erstarrte Lava

Literatur Ulrike Almut Sandig erzählt in „Monster wie wir“ vom Umgang mit sexueller Gewalt
Ausgabe 37/2020
Der Mond, ein ambivalenter Sehnsuchtsort
Der Mond, ein ambivalenter Sehnsuchtsort

Foto: NASA/Central Press/Getty Images

Unter allen Sehnsuchtsmotiven der Romantik ist der Mond sicherlich das sehnsüchtigste von allen. Ulrike Almut Sandig, 1979 im sächsischen Großenhain geboren, vielfach ausgezeichnete Lyrikerin, Musikerin, Performerin und Autorin von Erzählungen, geht ein Wagnis ein, indem sie ein doch strapaziertes Motiv wie den Mond zu einem Leitmotiv ihres ersten Romans macht. Es sind aber noch ganz andere Wagnisse, die das Buch eingeht und bezwingt.

Monster wie wir nähert sich sprachlich sehr dunklen „Nachtseiten“ eines Lebens an. Im ersten Teil des Buchs, unter dem Titel „Ruth“, wird geschildert, wie die gegen Ende der 1970er Jahre Geborene als Tochter eines DDR-Pfarrers aufwächst, den sein jugendliches Dissidententum zum Außenseiter und Internatszögling hat werden lassen, ehe er Pfarrer wurde. Erzählt wird, dass Ruth nicht nur die Schläge ihres Vaters, sondern auch die Übergriffe ihres Großvaters zu ertragen hat. Die ebenfalls unter der Willkür ihres Mannes leidende Mutter schweigt zu alldem. Auch der Bruder ist machtlos. Und Ruth reagiert in einer Weise, die für Opfer sexueller Gewalt in der klinischen Psychologie als typisch beschrieben wird. Die unerträgliche Realität wird abgespalten: „Mit kerzengradem Rücken saß Großvater an meinem Bett, atmete schwer und hörte sich mehr und mehr wie ein sehr altes weinendes Kind an. Wenn ich nur fest daran glaubte, schlief ich wirklich, und Großvater war nichts als dichte Dunkelheit, die außerhalb meines Körpers donnerte, donnerte, und mich nichts anging.“

Den Körper abspalten

Sandig stellt ihrer Figur Ruth die Figur Viktor gegenüber. Auch Ruths Schulfreund, der bezeichnenderweise einen Mondglobus besitzt, wird zum Opfer sexueller Gewalt. Und auch er spaltet seinen Körper von seiner Realitätswahrnehmung ab, wann immer er vom Mann seiner älteren Schwester missbraucht wird: „Später, wenn sein Bauch und bald sein ganzer Körper sich längst nicht mehr anfühlten, als gehörten sie ihm, (…) war Viktor noch etwas mehr allein. Dann rollte er sich auf die Seite, zog die Beine an und betrachtete die dunklen Flecken der erstarrten Lavameere des Mondes.“ Es sind entsetzliche Erfahrungen, die der Roman beschreibt. Doch miteinander sprechen können Ruth und Viktor über ihr geteiltes Leid nicht. In ihrem Faible für Vampirismus werden die beiden lediglich eine Chiffre finden, die es ihnen erlaubt, zumindest anzudeuten, welche Rolle Gewalt und Ausbeutung in ihrem Alltag spielen. Als Heranwachsende werden sie dann aber unterschiedliche Wege einschlagen: Während Ruth in der Musik einen Weg findet, durch die sexuelle Gewalt abgespaltene Anteile ihrer Persönlichkeit wieder zu integrieren, schließt sich Viktor einer Gruppe rechtsradikaler Schläger an. Während eines Überfalls auf einen linken Club trifft er Ruth wieder, es kommt zu Gewalt, einem von mehreren Zwischen-Showdowns des Romans.

Eine derartige Gewaltszene wird sich im zweiten, mit „Viktor“ überschriebenen Teil des Romans in ähnlich entgrenzender und entgrenzter Weise wiederholen, wenn erzählt wird, was Viktor erlebt, der sich unter dem falschen Namen Viktoria, als Au-pair-Mädchen getarnt, in eine südfranzösische, gutbürgerliche Familie hineingemogelt hat. Im zweiten Teil „gönnt“ Ulrike Almut Sandig ihren Lesern auch einige Komik, ehe ihr Text wieder Anlauf nimmt, um erneut zu zeigen, wie die mechanisch-kalte Dynamik wiederholter sexueller Gewalt sich verselbstständigt und weiterträgt, wie sie die Opfer auf geheimnisvolle Weise zueinanderführt.

„An die wirklich krassen Ereignisse erinnert man sich entweder überhaupt nicht. Oder man erinnert sich in aller Schärfe.“ Ulrike Almut Sandig findet eine schockierende, verstörende und zugleich plausible und kunstvolle Sprache, um von sexueller Gewalt zu erzählen, von ihren möglichen Ursachen und den verheerenden Wirkungen, von Schmerz, Scham und Schweigen, die damit zusammenhängen. Und sie bettet die aus gleichem Leid geborenen, aber in unterschiedlicher Weise verlaufenden Biografien in eine Konstellation ein, durch die die Spiegelung gebrochen wird. Ruth, die ihre Geschichte im Rückblick erzählt, tut dies in einem Gespräch mit Voitto, den sie im ersten der drei Teile nur kurz erwähnt. Im letzten Teil, in „Voitto“ werden die Ereignisse des Romans auf dramatische Weise enggeführt, erzählt Sandig, wie Opfer sexueller Gewalt einander oft intuitiv erkennen.

Ein preiswürdiges Buch

Monster wie wir ist das Erkennungswort, das der finnische Musiker Voitto der Musikerin Ruth als verklausuliertes, weil auf Finnisch ausgesprochenes „Sesam, öffne dich“ mitteilen wird. Auch er kennt die Erfahrung von sexueller Gewalt, die Ruth und Viktor verbindet. Die Formulierung „Monster wie wir“ spricht aber in ihrem appellativen und inkludierenden Gestus nicht nur die Figuren an, sondern auch die Leserschaft von Sandigs so kunstvollem wie empathischem Roman. Indem die Autorin ihren Roman so betitelt, richtet sie die alte Frage „Was ist das, was in uns hurt, lügt, stiehlt und mordet?“, die so pointiert in Georg Büchners Drama Dantons Tod gestellt wird, ausdrücklich an alle. Ihren Lesern die kalte Seite des Menschseins, die Mondseite als „Mon(d)sterseite“ mit den Mitteln der Literatur so nahe zu bringen, dass sich ihr niemand nicht stellen kann, das macht diesen Roman so groß. Der Mond als Ort, an dem sich die Nachtseiten des Menschseins entfalten, ist nicht nur schön und hell, sondern auch kalt, zerklüftet und unwirtlich – und gerade aufgrund dieser Ambivalenz ein Sehnsuchtsort.

Bedauerlich, dass man Monster wie wir nicht unter die Romane gewählt hat, die für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert wurden. Andererseits hat der Text das nicht nötig, denn er beweist Ernsthaftigkeit, Gültigkeit, kluge Empathie aus sich selbst.

Info

Monster wie wir Ulrike Almut Sandig Schöffling & Co. 2020, 240 S., 22 €

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Beate Tröger

Freie Autorin, unter anderem für den Freitag

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