Fahren, bis der Tank leer ist

Literatur Unsere Kolumnistin Beate Tröger liebt Lyrik. Die Auswahl, die sie hier trifft, handelt von „sozial organisierten Säugetieren“. Mancher Vers klingt wie eine geballte Faust
Ausgabe 41/2021
Bitte das Holz nie grob aus dem Wald klauen. Auch Bäume haben Gefühle
Bitte das Holz nie grob aus dem Wald klauen. Auch Bäume haben Gefühle

Foto: Shotshop/IMAGO

„Wann spürte ich die Wucht der Begriffe. / Jahr, Schlaf. / Wir müssten sie längst neu, anders denken, alles verschieben, / den Schlaf in die Lücken des Jahrs, das Jahr in die Lücken des Schlafs“, heißt es in Versen der 1965 geborenen Martina Hefter, die dem Gedichtband In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen entnommen sind. Merkwürdig, wie das Gedicht, das vor dem Frühjahr 2020 entstand, Gedanken und Gefühle der Pandemiezeit vorwegnimmt. Ein Ikea-Bett, auf das im Titel angespielt wird und in dem das Sprecher-Ich zu schlafen pflegt, steht für Objekte, mit denen sich Bewohner der westlichen Welt ausstatten, ohne zu fragen, in welch ambivalente ethische und moralische Zusammenhänge sie treten: „Das Gute Bett. / Wofür im Amazonasgebiet eine Mücke um ihr Leben aus einer Holzarbeiterin Blut saugt.“

Wie Hefters Gedichte setzen auch die der 1980 geborenen Mara-Daria Cojocaru das Denken in Gang. Sie pochen auf Differenzierung, wie schon der Titel zeigt. Buch der Bestimmungen heißt Cojocarus vierter Band, dessen Umschlagrücken auflistet, welche Bedeutungen in dem Wort „Bestimmung“ mitschwingen: „Ziel“, „Position“, „Berufung“, „Anordnung“, „wissenschaftliche Ermittlung“, „mit einer Stimme versehen“, „Verendungszweck“ (sic!) und „Festsetzung“. Cojocarus Gedichte sind Einübungen in Empathie, zart wie das Lied von der leichten Diesigkeit, zugewandt allen Geschöpfen. Bisweilen sind sie komisch, so die Gedichte unter der Überschrift „Hominide B-Seiten“, eine Art von Feldnotizen, in denen die Autorin „Beobachtungen tatsächlicher Menschen jenseits idealistischer Selbstbilder berücksichtigt“: „Herr und Frau Grau kaufen sich ein Mischbrot / Beim Bahnhofsbäcker / Nich von hier (… Auslassung, Zeichen). Sie zischeln mehr, als dass sie zahlen / Sie setzen, wohin sie gehen, einen Kriegsfuß / Vor den anderen.“ Wie Hefters mindern auch Cojocarus Gedichte die „Wucht der Begriffe“, blicken auf den Umstand, dass Vernunft und Gefühl nicht so einfach voneinander zu trennen sind. Darüber und über Menschen als sozial organisierte Säugetiere, die sich auch in moralischer Hinsicht entwickeln, denkt die Philosophin Cojocaru auch in ihrer Studie Menschen und andere Tiere. Plädoyer für eine leidenschaftliche Ethik nach, in der sie sich als Verfechterin eines „leidenschaftlichen Denkens“ zeigt.

Eine ganz andere, nicht minder empathische Leidenschaft spricht aus den Gedichten des 1979 im rheinischen Nettetal geborenen Dinçer Güçyeter, Kind so genannter türkischer „Gastarbeiter“ der ersten Generation (ein Porträt des Autors ist in der Freitag 06/2021 zu lesen). Mein Prinz, ich bin das Ghetto blättert ein Familienalbum auf, in dem neben den Gedichten auch Fotos von Vater, Mutter, Tanten und Onkeln enthalten sind, die der Autor handschriftlich be- und überschrieben hat, womit er die visuellen Zeugnisse der Familiengeschichte poetisch überhöht. Das Gedicht im Jahr 1983, Deutschland schildert, wie eine erschöpfte Mutter mit dem Sohn am Küchentisch zu zeichnen beginnt: „– wir zeichnen jetzt zwei Kreise, das sind die Räder / oben einen Buckel, das ist das Dach / und der alberne Pimmel von deinem Papa, das ist der Auspuff / – und jetzt machen wir brumm brumm brummm (…) – denke nicht an das Ziel, wir fahren bis der Tank leer ist“. Prägnante Verse führen in eine Welt rauer Freundlichkeit, zärtlichen Spotts, in der Entwurzelte nach Orten und Rollen suchen und in der sich Mythen und Moden mischen, in der die Gespaltenheit des Sprecher-Ichs, das Hin- und Hergerissensein zwischen mehreren Kulturen sich in einer Zweistimmigkeit zeigt, wenn Gedichte von kursiv gesetzten Kommentartexten begleitet werden.

Die Ausflüge in die Türkei, die Mein Prinz, ich bin das Ghetto unternimmt, schildern die Entwurzelung noch einmal von ganz anderer Warte: Der Junge, der mit den Tanten tagelang in den Gewässern eines ländlichen Thermalbades plätschert, verwandelt sich später in Istanbul in einen, der in den „Kabinen“ der Großstädte lustvoll seine Scham verliert. Güçyeters Gedichte beweinen ihre Befremdung nicht, sondern bestaunen sie: „ich bin der Nachtfalter, und wer sind sie / wenn ich Dinçer heiße / wer hat dann diese Gedichte geschrieben / antworten sie bitte auf script@elifverlag.de“.

Die Selbstadressierung, wie Güçyeter sie vornimmt, findet sich auch bei Wanda Coleman. Eine Auswahl aus acht Gedichtbänden der 1946 in Los Angeles geborenen, 2013 verstorbenen Lyrikerin, Prosa-Autorin und Essayistin bündelt Strände. Warum sie mich kaltlassen, übersetzt von Esther Ghionda-Breger. Man begegnet einer kraftvoll-wütenden Stimme, die soziale Ungerechtigkeiten anprangert und den Blick auf die Ausgrenzung von Persons of Color, Frauen und Armen aus der mittelständischen amerikanischen Gesellschaft zum Gegenstand macht: „Gleich zu beginn meines besuchs auf erden haben mich Schwarze hände geschlagen und gezüchtigt … / haben mich Schwarze gemüter, herzen und seelen brüskiert. (…) Gleich zu beginn meines besuchs auf erden / beschimpften mich Schwarze lippen und Weiße lippen ebenso“.

Auch hier reagiert das sprechende Subjekt auf Druck von außen mit Abspaltungsreaktionen: „Ja, gleich zu beginn meines besuchs / wurde ich durch Weiße regeln separiert / aber Schwarze angst, ignoranz und der selbsthass / separierten meine gesundheit von meiner seelenfaust.“ Wanda Colemans Sprache ballt regelrecht ihre Fäuste, und Esther Ghionda-Breger holt diese Wut gekonnt ins Deutsche – eine Entdeckung!

Entdeckungen sind auch mit kyung der 1991 in Bern geborenen Eva Maria Leuenberger zu machen, nämlich die der koreanisch-amerikanischen Performancekünstlerin Teresa Hak Kyung Cha, deren Buch Dictee, das 1982 erschien, in jenem Jahr, in dem Cha im Alter von 31 Jahren in einem Parkhaus vergewaltigt und anschließend ermordet wurde. Dictee gilt als Meilenstein der New Yorker Avantgarde der 1980er Jahre und des postkolonialen Schreibens. Leuenbergers Annäherung an Chas viersprachigen Band und an die Biografie einer Künstlerin zwischen Kulturen und Sprachen ist ein feiner, mit höchster Reduktion arbeitender Band, bei dessen Lektüre sich ein meditativer Zustand einstellen könnte, wäre nicht gar so verstörend, was Cha widerfahren ist. Es ist ein Text, in dem die Grenzen zwischen Sprache und Körper zu flimmern beginnen: „hier ist der körper / paratext der nacht / ein körper in einer reihe von körpern / in einer reihe aus tausend reihen von zeit.“

Info

In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen. Gedichte Martina Hefter Kookbooks 2021, 96 S., 19,90 €

Buch der Bestimmungen. Gedichte Mara-Daria Cojocaru Schöffling 2021, 112 S., 20 €

Menschen und andere Tiere. Plädoyer für eine leidenschaftliche Ethik Mara-Daria Cojocaru WBG Academic 2021, 256 S., 28 €

Mein Prinz, ich bin das Ghetto. Gedichte Dinçer Güçyeter Elif 2021, 98 S., 20 €

Strände. Warum sie mich kaltlassen. Ausgewählte Gedichte Wanda Coleman Esther Ghionda-Breger (Übers.), Maro 2021, 248 S., 24 €

kyung Eva Maria Leuenberger Droschl 2021, 136 S., 20 €

Beate Tröger, geboren 1973 im oberfränkischen Selb, studierte Germanistik, Anglistik und Theater- und Filmwissenschaft. Tröger arbeitet als Literaturkritikerin, Moderatorin und Jurorin. Am allerliebsten schreibt, spricht und streitet sie über Lyrik. Sie lebt in Frankfurt am Main

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Geschrieben von

Beate Tröger

Freie Autorin, unter anderem für den Freitag

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