Ein Mensch, ein Hafen, die Abenddämmerung: Ist das schon Stoff genug füt ein gelungenes Gedicht?
Foto: Chris McGrath/Getty Images
Unter den Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse war auch in diesem Jahr wieder ein Gedichtband. Es hat dann zwar nicht für den Preis gelangt, aber mit Steffen Popps Band 118 wurde eine avantgardistische lyrische Stimme in die Auswahl aufgenommen – eine mutige Entscheidung. Steffen Popp bekennt sich im Sammelband Helm aus Phlox. Zur Theorie des schlechtesten Werkzeugs zur Poesie als Lebensform. Mit Reminiszenzen im neuen Gedichtband an den „Mond“ oder an Novalis, aber eben auch durch seine Weigerung, Leben und Schreiben strikt zu trennen, schreibt Popp am Projekt der romantischen Universalpoesie weiter, gleichsam poststruktralistisch auf den neuesten Stand gebracht.
118 ist sein vierter Lyrikband. Der sachliche Titel spielt auf das Periodensystem der E
l spielt auf das Periodensystem der Elemente an, das im Chemieunterricht als bunte Wandkarte an der Wand hing und die stoffliche Zusammensetzung der Welt systematisch verzeichnet hielt; insgesamt 118 Elemente, natürliche, radioaktive und künstliche. Letztere bilden die materielle Grundlage der Welt – „nichts, was nicht aus ihnen bestünde“. Als „Extremgeschöpfe der symbolischen Sphäre gleichsam gegenüber“ definieren die Gedichte Popps, wie er selbst sagt, „ihre eigenen Elemente – eine Folge (Feld und Wolke) elementarer Bezugsgrößen ihres Autors“.Witz durch AssoziationSo wie der Chemiker die Zusammensetzung und die Umwandlung von Stoffen erforscht, loten Popps zehnzeilige, auf eine Überschrift zulaufende Gedichte den Aufbau der Welt aus. In einem Gedicht wie „Mond“ wird aus dem Himmelskörper ein Textkörper, der die semantische, kulturelle und ästhetische Dimension des Himmelskörpers nebeneinanderstellt, sie regelrecht ineinander verzahnt. Das Periodensystem gilt zum einen heute als wissenschaftlich überholt, zum anderen wird die Vorherrschaft der Naturwissenschaft vor den Geisteswissenschaften von vielen, zum Teil sogar von den Geisteswissenschaften selbst mitbefördert: Vor diesem Hintergrund lässt sich Popps neuer Band als entschiedener Einspruch gegen eine Welt lesen, in der sich alles in „Zahlen und Figuren“ fassen lassen soll.118 ist ein bild- und klangkräftiges Buch, das voller sprachspielerischem Humor steckt, wie etwa das Gedicht „Wunderblock“ zeigt. Freuds „Notiz über den Wunderblock“, mit dem der Psychoanalytiker das „Aufzeichnen“ und Erinnerung im „seelischen Apparat“ illustrieren wollte, wird von Popp zusammengebracht mit einem Backrezept für den „Kalten Hund“, der ja optisch gesehen gewissermaßen ein kalorienreicher „Wunderblock“ ist, Wachstafel hier, Crememasse da. Und das Rezept wird gleich noch mitgeliefert. Der Witz des Gedichts ist hier kein Kalauer, er entwickelt sich aus einem außergewöhnlichen Assoziationsvermögen: „Erinnern, verschiedene Süße- / Schichten. Nie waren Wörter j e t z t, in nervenverzeichneterer Zeit, ein Zugriff / auf was – unaussprechlich, lesbar wie Vogelflug, Menschenspur, Ozeangrün / eines Meeres, wo du bist: jener Vogel / jener Mensch und eben – jenes Meer. // Wunderblock“.Außergewöhnlich auf ganz andere Weise als Popps überschäumendes und bildreiches Werkist der vierte Band des 1972 geborenen Nico Bleutge. nachts leuchten die schiffe, so sein Titel, hat auch dem ersten von insgesamt sieben Zyklen dieses Bandes den Titel gegeben. Eingeflossen in diese Gedichte sind unter anderem die Eindrücke, die Bleutge während eines Stipendienaufenthaltes im historischen Istanbuler Viertel Tarabya sammelte. Der Blick des Autors auf die vorbeiziehenden Schiffe auf dem Bosporus, die Erinnerung an Rheinschiffe, die Bleutge als Kind in Mainz den Rhein hinunterfahren sah, aber auch Versatzstücke aus Alfred Döblins dystopischem Roman Berge Meere und Giganten und Juan Gelmans Kom/positionen – „Hintergrundstimmen“, wie der Autor selbst diese Lektürespuren in einer Nachbemerkung nennt – werden zum Material dieser Gedichte, in denen das Subjekt weitgehend zurückgenommen ist. Es wirkt hier eher wie ein Flussbett, durch das Bilder und Erinnerungen treiben. Die Verben sind häufig nicht flektiert, was in Verbindung mit diesem diskreten Subjekt ein eigenartiges Gleiten des Tons erwirkt, der aus klanglichen Ähnlichkeitsbeziehungen und wiederkehrenden Motiven seine Dringlichkeit bezieht: „versenk dich in die bewegung des wassers / mischte sich jenes licht mit dem licht, erzeugte ihre verbindung ein anderes licht, verwandtschaft von flucht und begreifen / ein zwischending aus gas und flüssigkeit, das die welt umpflügte. die wellen verstehen / so wie ein tanker durch die helle wasserfläche gleitet“.Einen ganz anderen Ton schlägt der 1970 geborene Tom Schulz an. Sein neuer Band Die Verlegung der Stolpersteine, der auf Gunter Demnigs Stolpersteine anspielt, vermischt Elemente der eigenen Kindheit in der DDR mit Partikeln der Familiengeschichte, aber auch der Geschichtsschreibung. Wie verhalten sich individuelle Erfahrung von Geschichte und historische Bewegungen zueinander?Schulz’ Gedichte spielen mit dem Sprachmaterial, stolpern allerdings manchmal im unfreiwilligen Sinn. Katastrophen und Brüche in der Geschichte, wie etwa die Zerstörung Dresdens, „Prager Straße“, „Der Krieg und die Krim“, „Münchner Stolperstein“ werden in eher narrativem Ton verhandelt, so dass nur bedingt vorstellbar wird, wie das sprechende Subjekt von diesen Ereignissen tatsächlich bewegt ist. In „Prager Straße“ sind es erinnerte Stadtspaziergänge mit der Großmutter durch das Dresden der Vorwendezeit, aber auch deren verstörende Aktualisierung beim Anblick von Pegida-Kundgebungen. Schulz’ Gedichte zeigen, wie sehr das bloße Hilfsmittel der Trennung von Form und Inhalt bisweilen doch Inkonsistenzen im Formalen deutlich machen kann.Souveräner sind da die Gedichte des 1982 geborenen Paul-Henri Campbell. Im Nachwort zu seinem dritten Gedichtband nach den narkosen denkt der Autor nach über den kategorialen Unterschied zwischen gesund und krank geborenen Menschen: Gesundheit ist stets das Maß, Krankheit stets die Abweichung. In Anlehnung an Judith Butlers Konzept der „Heteronormativität“ spricht Campbell von der „Salutonormativität“, die unser Denken bestimmt. Wie sehr unser aller Sterblichkeit bei einem, der auf Medikamente und Apparatemedizin angewiesen ist, an Drastik gewinnt, wird in nach den narkosen plastisch.Campbells Gedichte thematisieren klinische Erfahrung, die Ohnmachtsgefühle des Patienten als im wahrsten Sinne des Wortes Erleidenden, sie brechen diese Perspektive aber bisweilen humorvoll, wenn etwa das frisch am Herzen operierte Subjekt eines Gedichts damit beschäftigt ist, den eigenen Puls beim Onanieren so niedrig zu halten, dass davon kein Alarm ausgelöst wird.Keine BetroffenheitslyrikCampbell, der mit einem angeborenen Herzfehler lebt, diesen Umstand aber aus seinem Schreiben bislang weitgehend herausgehalten hat, verdichtet in seinem neuen Band autobiografische Erfahrungen so weit, dass die Gedichte sich von Bekenntnislyrik und Betroffenheitsdichtung weitmöglichst entfernen. Der Zyklus „digitales dharma“ lotet den Einfluss des Digitalen auf die gegenwärtige Lebenswirklichkeit aus, der Zyklus „gärten ohne menschen“ denkt über die Folgen der Gestaltetheit von Parks und Landschaft durch den Menschen nach.Und wer je in der Deutschen Nationalbibliothek in Frankfurt zwischen Büchern, still Brütenden gesessen und den Blick auf die Grünanlagen hinter der Bibliothek gerichtet hat, wird in dem Gedicht „grünflächen hinter der nationalbibliothek, frankfurt am main“ sprachlich gefasst finden, was unartikuliert den Blick auf den trostlos menschenleeren, landschaftsgärtnerisch unambitionierten Außenbereich womöglich immer schon grundiert hat: „ (...) muss denn jede bibliothek sich den anschein einer werkshalle geben / o sehnsucht des gelehrten / nach schweißschweren brauen // und draußen diese grünfläche weit leer / rundformen zweimal gebogener kopfsteinsaum / des schotterwegs // sind mandalas die matrix für rasen und busch nach der auflösung der gärten nach euklid mit proportionen / nach der herrschaft des geistes übers gedeihen (...)“.Placeholder infobox-1
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