Höhere Kartografie

Würdigung KLG, text+kritik: Mit seinen Editionen machte sich der jüngst verstorbene Heinz Ludwig Arnold bei Germanis­tikstudenten unvergesslich

Gibt man den Namen Heinz Ludwig Arnold in das Suchfeld des Online-Katalogs der Deutschen Bibliothek ein, erhält man beeindruckend viele Treffer. Und doch ist damit kaum etwas gesagt über die Lebensleistung dieses Mannes, der am 1. November in Göttigen im Alter von 71 Jahren gestorben ist und dessen Arbeitsgebiet am Übergang von primärtextzentriertem Enthusiasmus zum wissenschaftlichen Blick auf die Literatur angesiedelt war. Unzählige Germanistikstudenten lernten gleich im ersten Semester, dass fürderhin die Begriffe „Text“ und „Kritik“ untrennbar miteinander verbunden sein würden. Die gleichnamige, 1963 von Arnold begründete Reihe, deren Einzelbände sich in Form von Aufsätzen von Literaturwissenschaftlern meist einem Autor, manchmal einer Epoche oder einem Genre widmeten, wurde zum unverzichtbaren Begleiter. Mit einem Heft über Günter Grass begonnen und bis heute fortgeführt, ist die Reihe aus keiner germanistischen Seminarbibliothek wegzudenken.

Von der Coverabbildung abgesehen schmucklos, ermöglichen die in Umfang und Qualität durchaus schwankenden Einzelhefte samt angehängten Auswahlbibliografien einen Überblick über den Stand der Forschung, je nach Alter des Bandes mal etwas veraltet, mal aktuell. So oder so markieren die Aufsätze aber wie Fähnchen auf der Landkarte interessante Gegenden auf literarischer Terra incognita. Weitersuchen kann und muss man von da aus selbst, auf alle Fälle sucht es sich leichter – ganz gleich, ob es um Ilse Aichinger oder Stefan Zweig, um Jean Améry oder Joseph Zoderer geht, ganz gleich auch, ob es schon meterweise Sekundärliteratur gibt oder ob man es mit einem kaum erforschten Autor zu tun hat, dessen Platz im Olymp der deutschsprachigen Dichtung durch einen text+kritik-Band quasi postuliert wird.

Einem Wanderer gleich

Ein zweiter Meilenstein der literaturwissenschaftlichen Orientierung sind die losen Blätter des von Arnold ab 1978 herausgegebenen Kritischen Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, kurz KLG, das in seinen roten, mit schwarzen Serifenlettern bedruckten Sammelordnern von ferne an eine politische Kampfschrift erinnert. Das als Loseblattsammlung angelegte Nachschlagewerk stellt erste Informationen zu Leben und Werk von bislang über 600 Autorinnen und Autoren der deutschsprachigen Literatur seit 1945 bereit. Einem Wanderer gleich, der in Landkarten noch zu begehende Wege aufspürt, stöberte man in den Ordnern herum. Das seit 1983 erscheinende Kritische Lexikon zur fremdsprachigen Gegenwartsliteratur, das KLfG, stellt das Pendant für den Blick über den deutschsprachigen Tellerrand dar.

Schließlich widmete sich Arnold als Generalherausgeber und Redaktionsleiter mit einem Team der Überarbeitung des Kindler, jenem legendären Lexikon, mit dem, zumindest bis zum Beginn des Wikipedia-Zeitalters, Schüler, Studierende, Lehrer, Kritiker und Leser die Lektüre eines Werkes begannen, wann immer diese gegenüber Dritten zu dokumentieren war. Diese dritte, aktualisierte Ausgabe wurde 2009 zugleich gedruckt und online allen Lesenden an die Hand gegeben. Manch einer wunderte sich über das Neuartige, etwa über die Aufnahme von Björks Songtexten. Dennoch attestierten viele der Ausgabe einen überaus soliden Eindruck.

Beeindruckender Querschnitt

Überaus solide wird man alle aus dieser fast irrwitzigen Produktivität hervorgegangenen Arbeiten nennen dürfen. Dass diese Solidität, die von außen betrachtet eher trocken wirkende Archivarstätigkeit, kaum je langweilige Resultate zeitigte, lässt sich wohl nur auf leidenschaftliches Interesse Arnolds am, wie er selbst sagte, „prallen Leben“ der Autoren zurückführen, das er dennoch nie mit ihren Werken verwechselte. Soeben erschienene Originalaufnahmen mit von 1970 bis 1999 geführten Interviews, unter anderem mit Martin Walser, Peter Rühmkorf, Walter Kempowski, Wolfgang Koeppen und vielen anderen dokumentieren diese Leidenschaft. Die so entstandenen Porträts sind zugleich ein beeindruckender Querschnitt bundesrepublikanischer Literaturgeschichte im Plauderton; sie dürften all diejenigen anrühren, die mit Texten der hier interviewten Autoren literarisch sozialisiert wurden.


Heinz Ludwig Arnold: Meine Gespräche mit Schriftstellern 1970-1974; 1974-1977; 1977-1999. Jeweils eine mp3-CD mit 19, 22 und 23 Stunden Spielzeit, Quartino 2011, je CD 29,95

Beate Tröger schrieb im Freitag zuletzt über Nora Gomringer

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Geschrieben von

Beate Tröger

Freie Autorin, unter anderem für den Freitag

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