„Hunderte Festivals“

Interview Romane aus dem Gastland der Buchmesse haben wir schon vorgestellt. Aber wie steht’s um die Lyrik?
Ausgabe 42/2015
"Auch wenn kaum jemand Bücher kauft: Lyrik ist populär"
"Auch wenn kaum jemand Bücher kauft: Lyrik ist populär"

Foto: Putu Sayoga/Getty Images

der Freitag: Herr Jankowsi, woran liegt es, dass die indonesische Literatur – und damit die Lyrik – so unbekannt ist?

Martin Jankowski: Indonesien scheint uns zunächst zu groß, zu fern, zu anders. Bei der Lyrik mag es daran liegen, dass es im deutschen Sprachraum kaum Übersetzer aus dem Indonesischen gibt – eine Folge der Unlust deutscher Verlage, indonesische Literatur zu verlegen. Auch mental-kulturelle Unterschiede bewirken, dass man sich fremd bleibt. Außerdem begreift sich Indonesien selbst kaum als Literaturnation und stellt sich nicht als solche dar.

Die indonesische Amtssprache ist seit 1945 Bahasa Indonesia. Was bedeutet diese Vereinheitlichung für das literarische Sprechen?

Indonesiens Gesellschaft ist ein Musterbeispiel für Diversität, eine hochkomplexe Mischung aus Kulturen und Traditionen, die seit Jahrhunderten friedlich koexistieren. Das Indonesische war bei seiner Einführung als Amtssprache insofern keine Umstellung, sondern eine Erleichterung, denn diese malaiische Sprache war die Lingua franca des indonesischen Archipels. Das Bekenntnis zu ihr kam Anfang des 19. Jahrhunderts aus der Bevölkerung selbst. Ihre Bedeutung und Popularität ist auch durch das Engagement etlicher Literatengenerationen entstanden. Bis heute mögen es die Indonesier, neben ihren lokalen Muttersprachen das Indonesische zu sprechen. Es ist ein Bekenntnis zur Einigkeit der Inselkulturen – und es gilt als die Ausdrucksweise des jungen, progressiven Indonesiens und seiner Literatur.

Zur Person

Martin Jankowski wurde 1965 in Greifswald geboren. Der Schriftsteller und Indonesienreisende realisierte seit 2001 zahlreiche deutsch-indonesische Literaturprojekte. Jankowski lebt in Berlin

Sind die literarischen Gattungen mit den unseren vergleichbar?

Ja, es gibt Epik, Lyrik und Dramatik. Anders als bei uns findet aber die literarische Praxis weniger in festen Formen statt, sondern ist in den Alltag und die lokalen Lebensgewohnheiten eingebunden. Die traditionelle und moderne Poesie sind sehr populär, aber man liest sie kaum in Büchern, sondern man rezitiert sie in Wettbewerben oder schreibt und diskutiert sie in Internetforen.

Wie ausgeprägt ist die indonesische Lyrikszene?

Auch wenn kaum jemand Bücher kauft (die im tropischen Klima selten lange halten): Lyrik ist populär. Tageszeitungen und Internetforen sind voll davon, Rezitationswettbewerbe und Lyrikvertonungen gehören zum Kulturprogramm an Festtagen, fast jeder Indonesier kann viele Verse auswendig. Hunderte Lyrikfestivals und -gruppen bleiben allerdings in lokalen Kulturen verankert und werden national selten wahrgenommen. Wir Zaungäste bekommen eher die Szene von 200 bis 300 akademischen Lyrikern aus den Großstädten zu Gesicht, die hoch angesehen, sind aber nur von einer Minderheit gelesen werden.

Wir haben neulich das Gedicht eines Bauernsohns gehört, das von seinem Autor Agus R. Sarjono quasi singend vorgetragen wurde. Ist diese Rezitation typisch für indonesische Gedichtlesungen?

Typisch ist ein Hang zum dramatischen Vortrag: Den Text nüchtern vorzulesen, wie wir es bevorzugen, gilt als armselig und langweilig – ein guter Poet ist auch ein guter Rezitator. Ob man dabei singt, tanzt oder noch anderes tut, bleibt den Poeten überlassen; es geht darum, einen persönlichen Vortragsstil zu entwickeln. Indonesische Lyriker sind oft auch Performance-Künstler, eine Eigenart, die sie bei westlichem Publikum oft verbergen.

Welchen Lyriker oder welche Lyrikerin würden Sie zur Einstimmung in die indonesische Poesie besonders empfehlen?

Und warum?

Weil sich Indonesiens Literatur, wie ich schon angesprochen habe, durch eine Vielfalt der Stimmen und Stile auszeichnet, lässt sich kaum Typisches empfehlen. Zwei Namen sollte man aber kennen, wenn man sich mit Indonesiens Poesie beschäftigt: Chairil Anwar (1922–1949) war der erste bedeutende moderne Dichter Indonesiens, ein eindringlicher und lakonischer Poet. Der einflussreichste Gegenwartsdichter war W. S. Rendra (1935–2009), ein Dichter, Dramatiker und Theatermann, unter dessen Einfluss die gesamte heute tätige Lyrikszene Indonesiens steht. Und denjenigen, die sich einen ersten Überblick über die indonesische Gegenwartslyrik verschaffen möchten, empfehle ich diedeutschsprachige Sonderausgabe von Indonesiens führendem Lyrikmagazin Jurnal Sajak.

Info

sasakananas: INDONESIEN MATERIAL. gedichte und notate Martin Jankowski Leipziger Literaturverlag 2015, 120 S., 14,95 €

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Geschrieben von

Beate Tröger

Freie Autorin, unter anderem für den Freitag

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