„153 Formen des Nichtseins“: Radikaler als Annie Ernaux
Buchbesprechung Slata Roschals Roman „153 Formen des Nichtseins“ ist kluge, unideologische Emanzipationsliteratur – und steht zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises
Bei aller Dringlichkeit der Erkundungen ist Slata Roschals Buch auch hinreißend komisch
Foto: picture alliance/dpa/Georg Wendt
In ihrem Essayband Unziemliches Verhalten. Wie ich Feministin wurde zitiert Rebecca Solnit einmal aus John Bergers legendärem Kunstbuch aus dem Jahr 1968 Sehen: Das Bild der Welt in der Bilderwelt: „Die Frau wird in einen zugeteilten und beschränkten Raum hineingeboren, in die Obhut des Mannes. Das gesellschaftliche Auftreten der Frau, ihre Stellung in der Gesellschaft, konnte sich demzufolge nur entwickeln als Ergebnis ihrer Lebensnichtigkeit, die sie unter der männlichen Bevormundung innerhalb des begrenzten Raumes erworben hat. Diese Entwicklung vollzog sich auf Kosten einer Spaltung ihres Selbst. Eine Frau muss sich ständig selbst beobachten und wird fast ständig von dem Bild begleitet, das sie sich von sich macht. Sie muss alles prüfen, was sie ist,
was sie ist, und alles, was sie tut, denn wie sie sich anderen darstellt und – letzten Endes – sich Männern darstellt, ist von entscheidender Bedeutung dafür, was man gemeinhin als den Erfolg ihres Lebens ansieht. Ihr eigenes Selbstgefühl wurde durch das Gefühl verdrängt, etwas in der Einschätzung anderer zu sein.“Die Abhängigkeit der Frau von Männern und ihrer Meinung führe, so Solnit, zu einem „Doppelbewusstsein“, das Frauen dazu bringt, ständig im Spiegel zu überprüfen, ob sie den Erwartungen entsprechen. Diese Überlegungen, deren Verwandtschaft auch zu Klassikern der feministischen Literatur wie Simone de Beauvoirs Das andere Geschlecht unübersehbar ist, definieren einen Horizont, vor dem Slata Roschals Debütroman 153 Formen des Nichtseins gelesen werden kann, der für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2022 nominiert wurde. Roschal, die 1992 in St. Petersburg geboren wurde, mit ihren jüdischen Eltern im Alter von vier Jahren nach Deutschland kam, dort unter Zeugen Jehovas aufwuchs, mit dem Schreiben begann, Slawistik studierte und über Dostojewski promovierte, lebt heute in München. In ihrem Roman erzählt sie in 153 Miniaturen von Ksenia Lindau, einer Figur, die eine klare autobiografische Verwandtschaft zu ihrer Autorin erkennen lässt.Auch Ksenia Lindau kommt mit vier Jahren mit Eltern und Bruder von Russland nach Deutschland, wächst unter den Zeugen Jehovas auf, vernimmt aber auch noch das Echo der jüdischen Religion des Großvaters, der in Deutschland lebt. Vor allem aber nimmt sie sehr früh mit feinem Sensorium und mit großer Skepsis die Regeln, Normen und Gesetze aller Instanzen wahr, die sie formen wollen, wie auch ihr erster Geliebter Georgij, der Vierzigjährige, der regelmäßig hinter dem Rücken der streng religiösen Eltern mit der 18-jährigen Erzählerin schläft. Und sie wehrt sich: „Er war es, der mich zum ersten Mal in meinem beginnenden Leben als devuška bezeichnete, etwa ,junge Frau‘, ein gebräuchliches Wort, das mich definierte. Nein, sagte ich, Ich bin keine devuška, in erster Linie bin ich ein Mensch, in erster Linie sind wir zwei Menschen.“Ksenia spricht zwar an dieser Stelle von ihrem „beginnenden Leben“, Tatsache ist aber, dass sie, die Außenseiterin in vielen Zusammenhängen, zu dem Zeitpunkt, an dem sie mit Georgij auszugehen beginnt, längst eine Reihe strenger und starrer Zuschreibungen zu hinterfragen begonnen hat, wie diese aus einer Ausgabe der Missionsschrift Erwachet der Zeugen Jehovas: „WIE KINDER SELBSTBEHERRSCHUNG LERNEN. Lernen Sie, Nein zu sagen und dabei zu bleiben. GRUNDSATZ AUS DER BIBEL: „Euer Ja soll einfach ein Ja sein und euer Nein ein Nein“ (Matthäus 5:37). (…) Heute ihr Nein zu hören, wird ihrem Kind morgen helfen, selbst Nein zu sagen – zu Drogen, Sex vor der Ehe und anderen Dingen, die ihm schaden.“Slata Roschals Erzählerin montiert mit chronologischen Sprüngen die Miniaturen unterschiedlicher Provenienz zu einem beweglichen Ganzen, das einem Kaleidoskop mit vielen Steinchen ähnelt, die sich zu wandelnden, aber nicht beliebigen Mustern fügen. Erinnerungen an die Kindheit, E-Mails, Zeitungsannoncen, Zitate wie das aus der Missionsschrift, Erfahrungen mit der eigenen Zweisprachigkeit gehören ebenso dazu wie Träume, Episoden aus psychoanalytischen Sitzungen, Berichte von Tagungen, an denen die Slawistin Ksenia teilnimmt, Szenen der frühen Mutterschaft der Erzählerin, die in der Münchner Kita mit drei Müttern sitzt, die vom Alter her ihre Mutter sein könnten, die aber alle Mütter gleichaltriger Kinder sind. Körper- und Spiegelbilder werden erzählend reflektiert. Was extrem authentisch wirkt, ist das Ergebnis einer kombinatorischen Kunstfertigkeit, die immer mitbedenkt: „Nichts ist Tatsache – alles passiert, indem davon erzählt wird, erst beim Erzählen passiert es.“Kann ein Klassiker werdenIm direkten Zugriff auf im Grunde außerliterarische Texte entwickelt sich eine Art von Autosoziografie, die der einer Annie Ernaux verwandt ist, sich aber im vergleichsweise roheren Umgang der Erzählerin mit Material und Chronologie radikaler geriert, sich auch durch die geringere zeitliche Distanz der Erzählerin zum Erzählten unterscheidet, vor allem aber mit höchster Entschiedenheit auf die Differenz zwischen Erzählerin und Autorin pocht. 153 Formen des Nichtseins holt nicht nur das Dilemma weiblicher Identität, sondern insbesondere auch das Dilemma vieler Menschen, die zweisprachig aufwachsen, plastisch ins Bewusstsein.Und: Bei aller Dringlichkeit der Fragen und Erkundungen der Erzählerin ist es hin und wieder auch hinreißend komisch, etwa wenn die letzte der drei Fragen, die Ksenia an Gott oder ein ähnliches Wesen zu stellen hätte, lautet: „Nehme ich ab, wenn ich abends keine Kohlenhydrate esse?“Man sollte sich allerdings nicht täuschen lassen. Mit Klamauk hat dieses Buch nichts zu tun. 153 Formen des Nichtseins ist ein brisanter Text, der in der Analyse des vielfältigen Außenseitertums etwas gewinnt: einen eigenen Blick der Erzählerin auf die Bedingungen ihrer Identität. Dieses Buch hat das Zeug zum Klassiker, es ist kluge, unideologische Emanzipationsliteratur.Placeholder infobox-1