Spezifische Dichte Unsere Kolumnistin Beate Tröger liebt die Lyrik. Wer Geduld für sie aufbringt, wird belohnt – mit eigenwilligen Stimmen, die im Geschrei von Welt und Netz viel zu oft untergehen
„Was von uns nach dem Tod weiterwirkt, ist nicht das, was von uns übrig bleibt, sondern das, was wir verkörpert haben: unser Wesen. Was all die Grabreden, Nachrufe und Erinnerungen dann in den Raum stellen, ist weniger was als wie und wer wir waren. Doch auf welche Weise dieses Wie und Wer, dieses Wesentliche fassen?“ So fragt Raoul Schrott am Beginn seiner Inventur des Sommers,und er fragt auch, wie man Abwesenheit aushält.
Zunächst ist folgende Abwesenheit festzustellen: Michael Braun, der im Februar seinen 65. Geburtstag hätte feiern können, der umtriebigste Lyrikkritiker des Landes, der auch lange für diese Zeitung schrieb, starb am Morgen des 23. Dezember 2022. Er hinterlässt eine nicht zu schließende Lücke, wird intensiv be
icht zu schließende Lücke, wird intensiv betrauert von allen, denen die Lyrik und das Gespräch darüber etwas bedeuten. Vor seinem Tod hatte er die Anthologie des großen Lyrikers Günter Eich zusammengestellt, aus Anlass des 50. Todestags von Eich, dessen Datum nun beinahe mit Brauns Sterbedatum zusammenfällt.„Miriam hat mir ein Haus gebaut / aus Bananen und Wachstuch. / Da bleibe ich, / da erwarte ich alles, / Scrabble und Atemnot, / Labskaus und jedes / andere Gericht, auch das jüngste.“ Diese Verse aus Eichs Kleine Tochter stehen als Motto vor der Sammlung von Essays zu Eichs Werk, dem eine „radikale ästhetische Negativität die Schreibhand führte“, wie Braun in seiner Skizze Über Günter Eichs Topographien bemerkt.Radikal ist auch, was Michael Lentz in seinem fünften Gedichtband Chora unternimmt, in dem Kindheit und Sterben, der Abgesang auf die Ahnen oder der Topos der verfeindeten Geschwister (kainer und aber) zu Zentren einer Sprache werden, die manchmal traumhaft deliriert, lautmalerisch wie in den Strophen von stille feiung: „wie sich alles wieder holt das grab der altern / das elterngrab der bruder tot die schwesterfern / das einzelne kind daseinzelkind des bruders grab / das brudergrab der weg ans grab ganz grap und graf / und grob das grab die augenstele kalt wie kalt / wie eiseskalt der frost der frist der augenkammer“. Mit Chora wählt Lentz einen Titel, der bei Platon Erwähnung findet und dessen Bedeutung als „Raum, Materie“ in der philosophischen Tradition einen weiten Deutungshorizont eröffnet, zugleich als Anspielung auf Jacques Derridas Text Chora verstanden werden kann. Es geht mit diesem Begriff um Fragen der Weltordnung, um die Organisation der Grundbausteine einer materiellen Welt. In Lentz’ Gedichten finden wir diese Fragen in eine konzentriert experimentelle Sprache übersetzt. Die Beweglichkeit, mit der in der antiken Philosophie, in der Chora die Elemente zueinander stehen, wird über die Beweglichkeit der Buchstaben und Silben mimetisch nachgebildet, am deutlichsten in den Anagramm-Gedichten.Einige motivische Verwandtschaft zu Michael Lentz’ Band weist der ebenfalls fünfte Gedichtband von Nico Bleutge auf: schlafbaum-variationen. In 61 Gedichten denkt er über Formen eines Sprechens nach, das Gegenwart und Erinnerung, die nicht selten im Denken neben- und übereinanderstehen, zusammendenken kann, über Formen des Sprechens, die näher an das herankommen, was in unser aller Köpfen ungeordnet nebeneinandersteht, als es kohärente sprachliche Aussagen und Beschreibungen vermuten ließen. Das Eintreten eines kindlichen Wesens in die Welt, das Hinaustreten eines Sterbenden in Sprache zu fassen, gehört zu den Unterfangen, die der Band unternimmt, wenn er dem Werden und Vergehen mal ganz konkret, mal abstrakt zuschaut, so anrührend wie in Versen, die zu existenziellen Fragen ins Märchenhafte schwenken: „den flocken folgen, mit der bewegung von schnee / in die verschiebung gehen. einander entgegen / durch lücken. alles trägt sich zu: / die spule, das haus, die lange ausgereiften / pflastersteine und die frage wer bist du? „du“, / um darauf zu pochen, zweimal noch, als sei der schlaf / in den brunnen gefallen. wiese ist da und der ofen, / äpfel und brote gesetzt.“Wer vorschnell den Versuch aufgibt, das feine Gespinst der Verweise, die sich zwischen den drei Abteilungen des Bandes mit seinen Zyklen auftun, tiefer zu durchdringen, sei an dieser Stelle gewarnt: Dieser Vielfalt kann nur mit Geduld begegnet werden. Wer sie aufbringt, wird belohnt, in der Begegnung mit einer eigenständigen Stimme, die das Resultat genauester Beobachtung ist, ohne all die „Hintergrundstimmen“, wie Nico Bleutge es nennt.Vielleicht ist die Lyrik ohnehin so etwas wie das Ausmachen von bedachteren Hintergrundstimmen abseits vom Geschrei in Welt und Netz? All denen, die sich im Anschluss an die diesjährige Vergabe des wichtigen Peter-Huchel-Preises an Judith Zanders im ländchen sommer im winter zur see auf der Facebook-Seite des SWRin ressentimenttriefenden Kommentaren ergingen, würde man jedenfalls genau das wünschen: das Beglückende der stillen Erfahrung einer um Verstehen bemühten Versenkung in die Sprache eines anderen, die wiederum ein gewisses Maß an vorhandener Eigenwilligkeit und Autonomie voraussetzt. Man muss die Abwesenheit (von Verstehen) auch aushalten können.Und damit zurück zu Raoul Schrotts Inventur des Sommers. Über das Abwesende. „Lesen heisst“, so schreibt Schrott in der Vorbemerkung, „sich in den Zwischenzustand zwischen Ab- und Präsentem zu begeben, eine Zeitlang darin zu leben, während das sprachliche Dazwischen des Schreibens die Nähe zu einer sich immer wieder neu ausformenden Welt herstellt, in der alle möglichen Arten von Blumen wachsen und fallen, ohne dass es je letzte Gewissheit geben könnte, was sie in welcher Wirklichkeit darstellen. Gedichte geschehen auf die gleiche Weise: sie reden vom Fehlenden und sprechen zum Anwesenden – jedes Mal im Unwirklichen von Worten.“Diese Pendelbewegung zwischen An- und Abwesenheit, die Paradoxien des abwesend Anwesenden und anwesend Abwesenden leuchten Schrotts Gedichte aus, mit jener dem Autor so eigenen Lust, zu verborgenen Quellen, auch denen der Musen, vorzudringen, mit Aufmerksamkeit für die feinsten Nuancen der Sprache, die „kehrseite der worte“, für unsere Gegenwart, die auch Sprache ist: „ich durfte dolmetsch studieren / und stosse dabei ständig auf worte die eine kehrseite besitzen / über die sie am ende ihre bedeutung verlieren: / weg und weg • pass und pass • schloss und schloss • bank und bank / welche seite vereinahmt mich? diese seite? / beiden gemein ist das unbefreite / arm und der arm mit den ungeübten notizen / in einer sprache die mir nicht mehr fremd ist und dennoch so blank / dass mit ihr alles von neuem beginnen könnte.“Placeholder infobox-1Placeholder authorbio-1