Kaum ein anderer in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur dürfte so eindrucksvoll von der Blindheit der Subjekte für ihr ganz spezifisches So-Sein erzählen wie Norbert Gstrein. Gstrein verhandelt kunstvoll Fragen der Identität jenseits identitätspolitischer Schablonen. Wie geschieht das in seinem neuen Roman?
Gleich auf der ersten Seite von Vier Tage, drei Nächte stellt der Erzähler eine entscheidende Frage, es fällt ein Schlüssel-Adjektiv: Ob sich überhaupt noch „glaubwürdig“ ein solches Drama ausdenken lasse wie in einem der großen Ehebruchromane des 19. Jahrhunderts, wo immer die Frauen an ihren Sehnsüchten zugrunde gingen, fragen sich der Erzähler Elias und seine Halbschwester Iris, eine Literaturwissenschaftlerin, die an ihrer Habilitationsschrift über romantische Liebe in der deutschsprachigen Literatur sitzt.
Abgesehen davon, dass Gstreins Roman auch die Frage nach der Möglichkeit des großen Ehebruchromans im Sinne der Möglichkeit des großen Beziehungsromans der Gegenwartsliteratur mitverhandelt, liegt ein Schlüssel zur Lektüre in dem Adjektiv „glaubwürdig“. Beinahe alle Figuren, auch der Erzähler Elias selbst, sind höchst unzuverlässige Kantonisten, neurotisch nervös stehen sie schräg in der oder zur Welt.
Corona wirkt intensiv auf alle
Gstreins Roman setzt nach Als ich jung war (2019) und Der zweite Jakob (2021) den Schlusspunkt seiner Trilogie. Der Vater des Erzählers, ein Tiroler Hotelbetreiber, hat drei Frauen geschwängert. Elias und Iris sind die erwachsenen Kinder und haben sich seit der Kindheit in allen Sommerferien im väterlichen Hotel gesehen, das Iris mit ihrer Mutter bereist hat. Sie pflegen ein inniges Verhältnis, das mutmaßlich inzestuös ist. Doch Elias lebt auch seine homosexuellen Neigungen aus. Iris dagegen verschleißt Mann um Mann. Zu Beginn unterhält sie ein manipulatives und asymmetrisches Verhältnis zu einem verheirateten Hamburger Architekten, den sie am Telefon regelmäßig wüst beschimpft und abzuservieren versucht, was zur Folge hat, dass er sie stalkt. So weit, so kompliziert. Iris schreibt an ihrer Habilitation, quält weiterhin Ulrich, vertraut sich Elias in gewohnter Weise an, der seinen Job als Flugbegleiter durch Corona verloren hat und seitdem orientierungslos und subventioniert vom väterlichen Vermögen durch die Gegend und immer wieder auch zu Iris treidelt. Sie entschließt sich, nachdem Elias Ulrich brutal aus dem Feld geschlagen hat, ihre wissenschaftliche Karriere hinzuschmeißen, um einen Roman zu schreiben, in dem Carl, Elias’ Geliebter, eine so zentrale wie zwiespältige Rolle spielt.
Denn Carl ist womöglich, ausgesprochen wird das nirgends in Vier Tage, drei Nächte, eine Person of Colour. Iris’ Sicht auf ihn, die sie in ihrem Roman „Drei Arten, ein Rassist zu sein“ kundtut, bringt Carl, der als Einziger halbwegs ruhig erscheint, bis zu dem Moment, in dem Iris ihm und Elias die Schlüsselszene des Manuskripts vorliest, völlig aus der Fassung. Er rastet aus.
Warum das so ist, soll nicht verraten werden. Gesagt werden kann aber, dass das hochnervöse Personal in diesem Roman auf ziemlich vielen diskursiven Feldern ziemlich intensiv agiert: Corona wirkt auf alle, doch welchen Anteil die Folgen des pandemischen Elends an dem irrwitzigen Verhalten der Figuren haben könnten, wird an-, aber nicht ausgedeutet. Das macht Vier Tage, drei Nächte zu einem Roman, der diese gesamtgesellschaftliche Erschütterung auf gelungene Art und Weise verhandelt, indem glücklicherweise niemand als Durchblicker einer unübersichtlichen Gegenwart auftritt und durch Perspektivwechsel verschiedene Lesarten eröffnet werden. Vier Tage, drei Nächte ist auch ein Roman über die Härten des Wissenschaftsbetriebs, an dem Iris scheitert, über das Leid, das aus idealtypischen Vorstellungen der bürgerlichen Kleinfamilie erwächst, und auch über das Elend, das aus Patchworkfamilien erwachsen kann. Es ist ein Roman über symbiotische Geschwisterbeziehungen, wie man sie auch in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, Thomas Manns Wälsungenblut oder Gilbert Adairs Träumern beziehungsweise deren filmischer Adaption von Bernardo Bertolucci findet. Und Vier Tage, drei Nächte ist auch der poetologische Roman eines Autors, der, wie sein Erzähler und die Roman-im-Roman-Autorin Iris, mit Fragen der Glaubwürdigkeit des fiktionalen Erzählens befasst ist.
Was unausgesprochen bleibt
Ein Metaphernfeld, auf dem der Autor sich bereits in vorangegangenen Romanen bewegt hat, ist das des Weißen, des Schnees. Iris schreibt in verschiedenen AirBnB-Wohnungen, verhüllt erst einmal möglichst viel von der Einrichtung hinter Tüchern und dreht die Bücher im Regal mit dem Schnitt nach vorn. Im Kapitel „Was ich der Therapeutin gesagt habe“ erinnert sich Elias an seine Zeit in Amerika, wo er seine Pilotenausbildung abgebrochen hat und bei einer Drei-Tage-und-vier-Nächte-Wanderung im Schnee Matt, den damaligen Freund von Iris, beinahe in den Tod gestoßen hätte, womöglich aus unmöglicher Liebe zu seiner Halbschwester. Das Weiße und der Schnee stehen für das Verblassen der Erinnerung, das Verdecken von traumatischer Erfahrung und Schuld.
Vier Tage, drei Nächte führt mit traumwandlerischer Sicherheit in Abgründe und Widersprüche. Die Erinnerung filtert und trügt; was bleibt, ist die Gewissheit, dass man in den letzten Dingen mit sich bleibt, unabänderlich fremd. Der Schnee, der in seiner Schönheit zudeckt, aber auch Klarheit schafft, indem er den Klang der Schritte, die Optik verändert, steht auch für die Zwischenräume, in denen, auf Glaubwürdigkeit des Erzählens setzend, präzise gefasst unausgesprochen bleibt, was Vier Tage, drei Nächte verhandelt.
Schade, dass Norbert Gstreins Roman nicht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis gelandet ist.
Vier Tage, drei Nächte Norbert Gstrein Carl Hanser 2022, 352 S., 26 €
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