Qual der Poesie

Lyrik Ben Lerner klärt auf, was Dichten so schwer macht – und brilliert in dieser Kunst
Ausgabe 21/2021

Ein Essay mit dem Titel Warum hassen wir die Lyrik? lässt einen Autor vermuten, der nichts mit Gedichten am Hut hat. Wer das Schaffen des 1979 geborenen Ben Lerner verfolgt hat, weiß aber: Das Gegenteil ist der Fall. Gedichte sind das Herzstück seines Schreibens. Warum also hat der Lyriker diesen Titel gewählt? Lerner ist Aufklärer. Es gehört zu seinen Schreibstrategien, Sprache und Begriffe aus verschiedenen Richtungen zu untersuchen. Bei der Lebendigkeit des Sprachmaterials geht diese Untersuchung bei aller Liebe nie ohne Enttäuschung, Zweifel oder Widerstand ab. Lerner ist zugleich Romantiker. Jedes Gedicht, so der Autor, sei eine Manifestation des Scheiterns. Durch den Wunsch, dichtend das Endliche zu transzendieren, entstehe ein Konflikt, der dem Material innewohnt. Mag Sprache dehnbar sein, grenzenlos ist sie nicht. Es winkt Novalis’ Suche nach dem Unbedingten, die immer nur Dinge findet.

Regt zur Unvernunft an

Die Abneigung gegen Lyrik, so Lerner, begründe sich aus der enttäuschten Haltung des Dichters. Sie wurzelt aber auch darin, dass ja alle, Absender und Adressat, durch Sprache vereint sind. Wer darin nicht länger nach Höheren strebe, dem müsse das Stellvertretertum der Dichter ebenso peinlich sein wie die eigene Entfremdung von der Dichtkunst. Historisch angelegt findet er den „Hass“ gegen die Lyrik schon in der Antike. In den „Gründungsdialogen der Dichtkunst“ habe die folgenreichste Attacke stattgefunden: Laut Platon und Sokrates animiere Dichtkunst zur Unvernunft. Dieser Angriff schlüge dann wiederum in ihre Verteidigung um.

Lerners Essay schildert Dichten als Sisyphosarbeit mit langer Geschichte und hohem Ziel: ins Unendliche zielend zur Endlichkeit verdammt, geadelt im Verbanntsein. Doch er entfaltet auch ihre Möglichkeiten. Da jeglicher Sinn provisorisch sei, könnten Menschen um eine Äußerung herum eine Welt aufbauen, in der jeder Gebrauch eine Bedeutung hat. So sieht Lerner im Wort „Dichtung“ eine Art von Wert repräsentiert, den kein bestimmtes Gedicht realisieren kann – den Wert von Menschen, menschlichen Tuns, etwas existenziell Gestisches, so könnte man sagen.

Ein Reiz des Essays liegt in seiner Provokation. Sie dürfte die Leserschaft hierzulande verwundern, die sich, was die Aufmerksamkeitsökonomie in Sachen Lyrik betrifft, nicht beklagen kann. In den USA mag es während der Entstehung des Essays anders gewesen sein. Eine Fortschreibung vor dem Hintergrund des Hypes um Amanda Gormans Inaugurationsgedicht wäre also spannend. Mit The Hill We Climb hat sich die von Lerner konstatierte politische Schwäche in eine zauberlehrlingshexenbesenhafte Stärke der Dichtkunst verwandelt, angesichts derer man fragen könnte, ob man sie so je ersehnt hat.

Wie produktiv Ben Lerner als Lyriker ist, beweist sein Gedichtband No Art. Er umfasst drei Bände. Den Auftakt bilden Die Lichtenbergfiguren. Die Figuren bezeichnen baum- oder farnförmige Muster, die bei Hochspannungsentladungen auf oder in isolierenden Materialien entstehen. Jede ist einzigartig, sie sind aber geeint durch ein gemeinsames Strukturprinzip. So auch die 52 Gedichte des Bandes. In Ableitung des Bauplans eines Sonetts mit zwölf Zeilen umfassen sie je vierzehn. Pointiert könnte man also sagen, Lerners fein ziselierte Lichtenbergfiguren sind Lichtenbergfiguren des Sonetts.

Eine stärkere Abstraktionsbewegung als die Lichtenbergfiguren vollziehen die Gedichte des Bandes Scherwinkel. Man kann diese lyrischen Prosaminiaturen wie surreale Gebrauchsanweisungen lesen, wie Vexierbilder, die Wahrnehmungsgewohnheiten und logisches Denken irritieren: „DAS MÄDCHEN SPIELT mit unspezifischen Puppen. Ihre Spiele sind frei von jedem Erzählen, Vergnügen, die in ihren eigenen intrinsischen Formen leben. Schenkt man ihr ein Spielzeug, wird sie es weglegen und mit der Schachtel spielen. Und doch wird sie nur mit Schachteln spielen, die einmal Spielzeug enthielten.“ Eine formale Ausnahme gegenüber den übrigen Gedichten des Bandes macht die Didaktische Elegie, ein Langgedicht auf die US-amerikanische Gesellschaft, in dessen Fokus die Ästhetisierung der medial verbreiteten Bilder des Attentats auf die Twin Towers steht.

Wände gingen durch mich

Für Mean Free Path, den dritten in No Art vertretenen Band, hat Steffen Popp beim Übersetzen mit Monika Rinck zusammengearbeitet. Die Mittlere freie Weglänge bezeichnet in der Physik und der Chemie den Weg, den ein atomares Teilchen oder Molekül in einem gegebenen Material im Durchschnitt zurücklegt, ehe es mit einem anderen zusammenstößt. Popp erklärt Lerners poetisches Verfahren so: Zwei Abteilungen, die je 36 neunzeilige Gedichte enthalten, nehmen den Begriff auf, indem sie ein Spektrum optischer, akustischer und elektronischer Signale thematisieren und mit deren Ausbreitung verbundene Phänomene der Ablenkung, Beugung und Brechung in Textbewegungen umsetzen. Was abstrakt klingt und es in gewisser Weise auch ist, liest sich dann so: „Was, wenn ich dich das als Musik hören ließe / Aber nicht so, wie du denkst. Der langsame Strahl / Öffnete mich. Wände gingen durch mich / Wie Resonanzwellen.“

Wer nach Gründen sucht, intelligente Lyrik zu lieben: In No Art findet man sie. Die Gedichte sind hochkomplex, wirken aber oft anrührend, wie das Mädchen, das mit Puppen spielt. In No Art spricht ein Dichter als gelehrter Verliebter, als zweifelnder Utopiker, der überzeugt ist, dass vieles ganz anders zu sagen wäre, vielleicht auch ganz anders sein und werden könne.

Info

Warum hassen wir die Lyrik? Essay Ben Lerner Nikolaus Stingl (Übers.), Suhrkamp, 100 S., 14 €

No Art. Gedichte / Poems Ben Lerner Steffen Popp (Übers.), in Zusammenarbeit mit Monika Rinck. Mit einem Nachwort von Alexander Kluge. Suhrkamp, 512 S., 34 €

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Beate Tröger

Freie Autorin, unter anderem für den Freitag

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