Schmelze

Poesie Eine neue Generation deutschsprachiger Dichter*innen befasst sich in ihrer Lyrik mit den Folgen des globalen Klimawandels
Ausgabe 10/2020
Eine Luftaufnahme zeigt Schmelzwasser nahe Grönland
Eine Luftaufnahme zeigt Schmelzwasser nahe Grönland

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Mit Jan Wagners Regentonnenvariationen gewann im März 2015 zum ersten Mal ein Gedichtband den Preis der Leipziger Buchmesse. Damals musste die Jury erst noch in ihren Statuten nachsehen, ob ein Buch der Gattung Lyrik überhaupt ausgezeichnet werden kann. 2016 und 2017 standen dann mit Marion Poschmanns Geliehene Landschaften und mit Steffen Popps 118 erneut Gedichtbände auf der Liste der Nominierten. Mit dem Band luna luna der 1984 in Überlingen geborenen Maren Kames lässt sich für die Leipziger Messe 2020 schon Selbstverständlichkeit konstatieren, wenn es darum geht, Lyrik für auszeichnungswürdig zu erachten.

Doch ist gerade Maren Kames’ zweiter Band einer, der sich genauen Gattungszuschreibungen entzieht. Die Bezeichnung „Gedichte“ fehlt. In den drei Kapiteln sind Narrative auszumachen: das einer gescheiterten Liebe, die vom lyrischen Subjekt mal leidend, mal ironisch geschildert wird, das einer Familien- und Kriegsgeschichte und schließlich das der Raumfahrt durch kurze Exkurse zu dem ESA-Astronauten Detlev Koschny in der Kölner Mond-Trainingsanlage LUNA.

Ambitioniert gibt sich der Band durch eine Playlist, deren Tracks nicht nur als Begleitmusik fungieren. Ihre Lyrics finden sich in einer Art Rückkoppelung entweder im Original oder in zum Teil wörtlicher Übersetzung im Text oder in den Fußnoten. luna luna ist ein intermediales Buch, Text und Sound werden zusammengeführt, alles scheint sich zu amalgamieren, der Band kommt überdies optisch avanciert daher, gestaltet ist er von der Designikone Erik Spiekermann.

Noch avantgardistischer als in luna luna geht es zu in Orchidee und Technofossil des 1977 geborenen Lyrikers und Philosophen Daniel Falb. Es ist ein Band, den man in gewisser Weise als Antilyrik bezeichnen kann. Falb bewegt sich auf unterschiedlichsten Sprachebenen, er denkt Diskurse, Fiktives und Faktuales zusammen, das Sprechen zielt hier nicht mehr auf Verständlichkeit oder Schönheit ab. Falb reflektiert ständig auf sein Schreiben, auf Fragen der Erkenntnis und ihrer sprachlichen Repräsentation. Er selbst bezeichnet sich nicht als Lyriker, sondern als Informationsdesigner. Den diskursiven Raum, den sein Gedichtband auslotet, skizziert der Essayband Geospekulationen. Auch hier geht es um nichts weniger als die „Metaphysik für die Erde im Anthropozän“.

Welche Gedichte zeitigt das? In vier langen – mit der Bezeichung „Paeme“ ausgestattete und damit als Abweichung zu einem Poem markierte, nämlich mit „Svalbard Paem“, „Kanker Quartett“, „Chicxulub Paem“ und „Geber Quartett“ – werden natur- und geisteswissenschaftliche Codes, Methoden und Erkenntnisinteressen, werden Arten des Speicherns und Bewahrens von Texten, Kulturleistungen- und gütern fetzen- und ausschnitthaft zusammengebracht und überblendet. Das „Svalbard Paem“ hat den Svalbard Global Seed Vault, den weltweiten Saatgut-Tresor auf Spitzbergen zum Ausgangspunkt. Falb verbindet das dort für den globalen Katastrophenfall gelagerte Saatgut mit dem Material in literarischen Archiven. Historische Szenarien werden mit Gegenwarts- und Zukunftsszenarien collagiert. Klingt dystopisch? Ist es auch.

Vieles steht hier in Verbindung, oft rhizomatisch, mal konvergierend, mal konterkarierend. Die Verse wuchern in- und auseinander. Radikaler lässt sich kaum sprechen. Wer auf rasches Verstehen aus ist, der wird hier enttäuscht. Doch sollte man sich nicht voreilig von der Überforderung täuschen lassen. Vielmehr sollte man sich fragen, ob Falbs Sprechen mimetisch nicht näher an dem dran ist, was wir unter dem so tückisch leicht über die Lippen gleitenden Begriff „Wirklichkeit“ zu fassen glauben, was aber im Verständnis jeder Einzelnen ja längst das Fassungsvermögen übersteigt.

Im Assoziationsraum

Ebenfalls kritisch mit der Frage nach den Möglichkeiten des Gedichts im Anthropozän befasst ist Nimbus, der fünfte Gedichtband der 1969 geborenen Marion Poschmann. Die „dunkle Wolke“, die dem Band ihren Titel gibt, ist der zweiten Fassung von Friedrich Gottlieb Klopstocks Frühlingsfeier entlehnt. Wo bei Klopstock die „dunkle Wolke“ das Gewitter bezeichnet, in dem sich etwas Göttliches manifestiert, erweitert sich in Nimbus mit dem Motto „Langsam wandelt / die schwarze Wolke“ der Assoziationsraum auch auf den Klimawandel, die Klimakrise.

Die Gedichte in Nimbus denken in fein ausgesponnenen Versen in neun Zyklen über Mensch und Natur, über Macht und Ohnmacht, auch der Literatur, nach, Fragen, die Marion Poschmann schon in ihrem Essayband Mondbetrachtung in mondloser Nacht (2016) angesprochen hat. Bereits das Auftaktgedicht „Und hegte Schnee in meinen warmen Händen“ spannt den Bogen vom Winter, wie wir ihn alle noch kannten, zur Schneeschmelze, vom alpinen Tourismus zu den schmelzenden Polen, von der Verantwortung des/r Einzelnen hin zu seiner/ihrer Ohnmacht gegenüber einem übermächtigen Größeren, nicht selten Zerstörerischen: „Noch gestern betete ich Berge an. / Ich kaufte Ansichtskarten, schickte sie / an mich, nach Hause, zur Erinnerung / an das Zerstörungswerk, das ich hier tat, / ich taute Grönland auf mit meinem Blick, / ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll der Andacht überflog.“

Wie sich hier Landschaftsbetrachtung auf intensive, hoch konzentrierte Weise mit Fragen der Erkenntnis und Fragen der Verantwortung überlagert, ist in Nimbus einmal mehr bestechend virtuos. Im Rekurs auf tradierte lyrische Formen wie die Ode oder das Sonett, hier im Sonettenkranz „Die Große Nordische Expedition“, erweist sich Poschmann als eine der klügsten Lyrikerinnen der deutschsprachigen Gegenwart.

Der abendländischen Lyriktradition in hohem Maße verpflichtet ist auch Norbert Hummelt, Jahrgang 1962. Sein neunter Gedichtband Sonnengesang spannt seinen Hallraum zwischen Texten von so bedeutenden Lyrikern wie Stefan George, Giacomo Leopardi, William Keats oder Friedrich Hölderlin, der mit Versen aus dem Fragment Heimat dem Band das Motto gibt: „Indessen laß mich wandeln / Und wilde Beeren pflüken / Zu löschen die Liebe zu dir“ – und damit auch ein zentrales Thema umreißt: Auch hier wird, wie bei Kames, eine vergangene Liebe besungen, hier allerdings mit heiligem Ernst und voller Schwermut.

Rhythmisch und melodisch fein balanciert, meditieren diese Gedichte über die Natur, etwa im titelgebenden Gedicht „sonnengesang“, in dem das Ich einem Schwarm von Mauerseglern – zusammen mit der Amsel, einem Leitvogel des Bandes, dessen Titel auch den vogelliebenden Heiligen Franz von Assisi zitiert – nachsieht.

Aber auch der Faszination des Eros geben diese Gedichte sich hin, wie etwa in „wilde beeren“. Wer sich einem Dichter als einsamem Wanderer anvertrauen will, einem späten Erben der Romantik, einem Befrager der christlichen, insbesondere katholischen Tradition, einem Dichter als friedlichem Freund alles Lebendigen, der kann sich mit der Lektüre von Norbert Hummelts Sonnengesang melancholisch freuen.

Info

Orchidee und Technofossil. Gedichte Daniel Falb kookbooks 2019, 80 S., 19,90 €

Geospekulationen. Metaphysik für die Erde im Anthropozän Daniel Falb Merve Verlag 2019, 344 S., 22 €

Sonnengesang Norbert Hummelt Luchterhand Verlag 2020, 96 S., 20 €

luna luna Maren Kames secession 2019, 108 S., 35 €

Nimbus Marion Poschmann Suhrkamp Verlag 2020, 115 S., 22 €

Mondbetrachtung in mondloser Nacht Marion Poschmann Suhrkamp Verlag 2016, 218 S., 18 €

Beate Tröger lebt in Frankfurt am Main. Sie ist Mitglied der Jury der SWR-Bestenliste

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Beate Tröger

Freie Autorin, unter anderem für den Freitag

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