Untröstliche Kröten

Literatur Nur kurz mussten wir um Peter Kurzecks Nachlass bangen. Jetzt geht „Das alte Jahrhundert“ weiter
Ausgabe 35/2019

An manche Sommer erinnert man sich genau, etwa an den Sommer 2018, Tage und Nächte voll flirrender Hitze, Luft wie gärender Hefeteig oder süßer Brei, ein Sommer, in dem sich das Zeitempfinden zu ändern, alles langsamer zu werden schien. Was für ein Glück, in diesem Sommer Peter Kurzecks eindrückliches Romanfragment Der vorige Sommer und der Sommer davor gelesen zu haben, dessen ohnehin starke Wirkung sich durch die Hitze draußen wundersam verstärkte.

Der vorige Sommer und der Sommer davor ist nach Bis er kommt das zweite Romanfragment aus dem Nachlass des im November 2013 verstorbenen Peter Kurzeck. Es ist Band 7 der zwölfbändig geplanten Chronik Das alte Jahrhundert, die 1997 mit Übers Eis begonnen hatte.

Fernweh und Hitze

Der fünfte, über tausendseitige Roman Vorabend erschien 2011. Als Kurzeck gestorben war, sah es zunächst so aus, als sei auch Das alte Jahrhundert vorzeitig an ein Ende gekommen. Dass nun Der vorige Sommer und der Sommer davor erscheint, ist zunächst Kurzecks langjährigem Verlag Stroemfeld / Roter Stern zu verdanken.

Als Stroemfeld / Roter Stern im September 2018 Insolvenz anmeldete, war zuerst unklar, ob und wann der schon angekündigte Band Der vorige Sommer und der Sommer davor veröffentlicht werden würde. Nun betreut erfreulicherweise der Frankfurter Schöffling Verlag die Ausgabe weiter und hat auch die bis dato erschienenen Romane Kurzecks in seine Obhut genommen. Herausgeber der Nachlassbände sind weiterhin Rudi Deuble und Alexander Losse, die den Editionsplan des Alten Jahrhunderts weiter aufarbeiten werden.

Die Handlung von Das alte Jahrhundert, eine lange, bis in die Kindheit des Erzählers reichende Rückblende, wird in Gang gesetzt von der Trennung des Erzählers Peter und seiner Lebensgefährtin Sibylle. Sie gehen im Herbst 1983 auseinander. Peter verwandelt seinen Schmerz in eine Erinnerungssuada, mit deren Hilfe die gemeinsame Vergangenheit beschworen und das Schreiben gegen das Alleinsein gesetzt wird. Häufig wird Tochter Carina, die der Vater täglich zum linksalternativen Kinderladen im Frankfurter Westend bringt, zur Zuhörerin dieses Selbstgesprächs, geführt im Rhythmus eines Stadtwanderers, der weniger ein Flaneur als ein Getriebener ist. Unaufhörlich greifen in seinem Redefluss Wahrnehmung und Erinnerung an vergangene Tage ineinander, werden Erinnerungen in variierender Wiederholung prismatisch gebrochen.

Wer die bislang erschienenen Bände von Das alte Jahrhundert kennt, wird auch mit dem Sommerbuch staunen über die minimalistische Virtuosität des Erzählers, der Bekanntes durch seine Variationskunst anders firnisst und die Aufmerksamkeit dadurch steigert – was für die hellen Momente ebenso gilt wie für die dunklen, für die seelischen Nöte und Ängste des zum Zeitpunkt der Erzählung arbeitslosen, noch unbekannten Schriftstellers Peter.

Einmal mehr vom Jahr 1984 ausgehend, sind die Zeiten, derer sich der Erzähler in Der vorige Sommer und der Sommer davor erinnert, zwei Reisen der jungen Familie in den Jahren 1983 und 1982. Die erste Reise „nach Süden!“, mit „Fernweh und Hitze und Licht“ im Gepäck, führt nach Barjac, wo Peter, Sibylle und Carina den Freund Jürgen besuchen, der mit seiner Lebensgefährtin dort ein Lokal eröffnet hat. Es ist eine Tramperreise mit leichtem Gepäck, getragen von der Hoffnung auf Glück und Zufall. In Barjac angelangt, helfen die Reisenden Jürgen und dessen Lebensgefährtin Pascale dabei, deren kleines Restaurant zu renovieren und zu etablieren – ein Versuch, der scheitern wird, wie der Leser aufgrund der Konstruktion von Anfang an weiß. In der Erinnerung mischen sich diese Tage, in denen die Junisonne im Zenit steht und in denen eine leichte, liebevolle, erotische Stimmung herrscht, mit denen einer Reise 1982 von Peter und Sibylle in die Cevennen, nach Arles, Saintes-Marie-de-la-Mer, über Märkte, in Cafés, ans Meer: „Wird noch lang der Sommer, vielleicht wird es diesmal ein Sommer, der bleibt!“

Doppelte Heimkehr

Man mag das für die Zeit der Lektüre beinahe glauben: Dinge, Farben, Geräusche tanzen und flirren im Roman wie Schmetterlinge, wie Seelentierchen im Sommerlicht: „Ein langer Tag, Carina spielt vor uns im Sand. Zum Kai und nochmal und nochmal durch den Ort. Spät am Nachmittag, Juni und die Sonne steht hoch. Blieb dann stundenlang an derselben Stelle. Und weit draußen wie immer ein Tanker, ein Frachtschiff, ein Fischerboot. Einmal von rechts nach links und einmal von links nach rechts. Möwen. Die Zeit knarrt. So hell die Sonne, soviel Licht um uns her und wir können nicht heimgehen.“ Es ist, als dürfe dieser Sommer nie enden. Und dann müssen sie doch heim, die drei, zurück nach Frankfurt, wo dann wundersamerweise ein sonnig-heißer Stadtsommer wartet.

Dass es sich bei dem über sechshundertseitigen Text um ein Fragment handelt, zeigt sich nur an wenigen Stellen, denn die Trennung des langen Erzählflusses der Chronik in einzelne Bände scheint ohnehin willkürlich. Dass Kurzecks Projekt insgesamt zwölf Bände umfassen sollte, war ein nachträglich gefasster Plan.

Das Manuskript des Sommerbuchs, an dem Kurzeck von Mitte April 1998 bis Ende August 2001 arbeitete, hatte er mehrfach geteilt. Aus ihm wurde Ein Kirschkern im März ausgekoppelt, aus diesem Als Gast. Das Sommerbuch sprengte den ursprünglichen Plan, vier autobiografische Bücher zu schreiben – was Umgestaltungen des Bauplans nach sich zog, weshalb nun am Anfang die Anschlüsse der Zeitschichten unlogisch werden.

Wenn also im vorliegenden Fragment Jürgen nun zweimal aus Frankreich zurückkommt, liegt das an diesen Auskoppelungen der beiden genannten, früher publizierten Romane, die ein Umschreiben des Manuskripts erfordert hätten, zu dem Kurzeck nicht mehr gekommen ist. Gewissenhafte Herausgeber wie Deuble und Losse greifen nicht in solche Ungereimtheit ein. Man kann ohnehin gut darüber hinwegsehen, umso mehr, als das Nachwort die Brüche in der Konstruktion und ihre posthum nicht eindeutig zu bestimmende, aber mögliche Auflösung nachvollziehbar darlegt. Auch das Fehlen des Schlusskapitels lässt sich aufgrund der Opulenz und potenziellen Unendlichkeit dieses Erzählens in gewisser Weise verschmerzen.

Viel tiefer trifft den Leser die Traurigkeit über alles Vergängliche, das der Erzähler in allem Kreatürlichen, das er um sich sieht, entdeckt: „Wer ruft? Kröten sind es. Sitzen an Wegrändern, Wassergräben und Reichen und blasen auf Rohrflöten. Aber wo sie die Rohrflöten herhaben, das wissen wir nicht. Sie wissen es vielleicht selbst nicht. Kann sein, vor langer Zeit einmal der Wind. Hat es ihnen vorgemacht und dann die Rohrflöten ihnen geschenkt. Und müssen sich seither in so eine tiefe Traurigkeit hineinblasen. Sitzen untröstlich. Sitzen als kleine Häufchen Unglück unter den weiten unerreichbaren Abendhimmeln, an denen das Licht vergeht. Sie sitzen und blasen und können nicht aufhören. Mit jedem Ton wird es schlimmer. Schwer von Tränen und Traurigkeit.“

Der hier ruft, ist auch der Erzähler Kurzeck. Und schwer von Traurigkeit kann man noch immer werden beim Gedanken an den nun mehr als fünf Jahre zurückliegenden Tod dieses Ausnahmeautors, der, wie sein Frankfurter Kollege Andreas Maier einmal schrieb, „von Rechts wegen Flügel tragen müsste“ – und sie vielleicht inzwischen auch trägt.

Immer habe er ein Sommerbuch schreiben wollen, wie es in der deutschsprachigen Literatur noch nicht existiere, hat Kurzeck mehrfach betont. Es ist ihm gelungen. Der vorige Sommer und der Sommer davor ist ein Buch, dessen Ton des Erzählten im krassen Kontrast zum dunklen Grundton seines Erzählens umso heller klingt.

Info

Der vorige Sommer und der Sommer davor. Das alte Jahrhundert 7 Peter Kurzeck Schöffling 2019, 656 S., 32 €

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Geschrieben von

Beate Tröger

Freie Autorin, unter anderem für den Freitag

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