Zu den Facetten einer Freundschaft zählt auch die der geteilten Erfahrung von etwas Kreatürlichem und Körperlichem, das vertrauter werdende Neben- und Miteinander von Körpern im Raum. Matthias Claudius bemerkte dazu in seinem Text Von der Freundschaft: „Nach der werden auch zwei Pferde, die eine Zeitlang beisammenstehen, Freunde und können eins des andern nicht entbehren.“
Anna Sterns vierter Roman das alles hier. jetzt, der aktuell auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises steht, ist ein Freundschaftsbuch, das ganz besonders auch dieser Facette der Freundschaft Ausdruck verleiht. In diesem Fall der zwischen Ananke und der Erzählerin namens Ichor. Die beiden Mädchen sind Nachbarskinder und wachsen, eine Geschwister- und Kinderclique aus zwei Familien, wie Astrid Lindgrens Kinder von Bullerbü oder wie Enid Blytons Fünf Freunde, gemeinsam auf. Die Familien reisen zusammen in die Berge, wieder zu Hause ziehen die Kinder gemeinsam um die Häuser. Aber nur Ananke und Ichor sind das, was man Busenfreundinnen nennen könnte, die sich, als sie zum ersten Mal allein zusammen in die Stadt dürfen, Pyjamas im Partnerlook kaufen, einen in Blau für Ananke, einen in Rot für Ichor, und die Erzählerin erinnert sich daran, diesen Pyjama getragen zu haben, bis ihr die Hosenbeine nur noch bis zur Mitte der Waden reichen: „dir gefällt primär die vorstellung, nachts, wenn du im dunklen liegst: ananke im selben pyjama, in derselben dunkelheit, vielleicht dieselben träume träumend.“
Wer je eine solche Kinderfreundschaft erfahren hat, die sich über Jahre erstreckt, wird sich vergleichbarer Szenen erinnern und versteht, wie nicht zuletzt durch das gemeinsame „Auf-der-Weide-Stehen“, durch das zunächst zufällige Zusammenhalten von zweien und durch die gemeinsam erlebte Erfahrung zweier Körper im Raum, etwa im Schwimmbad, im Schulhof, im Klassenzimmer, ein Zustand erwächst, der zwei Freunde oder Freundinnen füreinander unentbehrlich werden lässt, bisweilen fast symbiotisch: „anfänglich unerklärt, der wechsel vom ich zum du.“ Es ist ein Zustand, der sich in der Konstellation von Ananke und Ichor derart festgeschrieben hat, dass er sich auch fortsetzt, als die beiden Mädchen zu jungen Frauen werden und Misstöne in ihrer Freundschaft aufkommen, als „Abnabelungskämpfe“ stattfinden, die beiden räumlich und affektiv Abstand voneinander suchen. Wie intensiv Ananke und Ichor aber tatsächlich einander verbunden waren, das bemerkt Ichor, als Ananke plötzlich und viel zu früh stirbt.
Proust lässt grüßen
Anna Stern hat mit das alles hier. jetzt auch ein Erinnerungs- und Todesbuch geschrieben, dessen Form zunächst ungewöhnlich, verwirrend wirkt. Stern wählt Mittel, die das zu Erzählende als das zugleich Unfassbare auf Distanz zu halten versuchen. Mit den mythisierenden, sprechenden Namen für ihre Protagonisten werden die Figuren zu Trägern von Ideen. Ananke ist in der griechischen Mythologie die Personifizierung des unpersönlichen Schicksals, Ichor bedeutet „das goldene Blut der Götter“. Swann, so ein weiterer Figurenname, kann nicht nur als Anspielung auf Marcel Prousts Hauptfigur aus À la recherche du temps perdu gelesen werden, sondern auch als eine Anspielung auf einen Gletscher diesen Namens und auf das keltische Tierzeichen der Erzählerin, einen Schwan, wie es im Text einmal heißt. Es entsteht ein kunstvoll oszillierendes Gewebe von Bedeutungen und Verweisen, ein glitzernd-kluger Sprachfluss, der das Ineinander von Gegenwart und Erinnerung abbildet.
Die Frage nach dem Nebeneinander von Gegenwart und Erinnerung, nach der Macht, der trügerischen Verführung der Erinnerung, ist eine zentrale Frage des Textes, der sich über weite Strecken nicht als ein Sprachfluss realisiert. Stern treibt ihren Text in zwei parallelen Strängen voran, wie in zwei nebeneinander laufenden Flussbetten – gut zwei Drittel der linken Seiten des Buches formieren den einen Strang der Erzählung, der in der Gegenwart spielt, die rechten Seiten den der Erinnerung. Der Titel das alles hier. jetzt enthält also in nuce das poetologische Programm dieses Romans, der das Nebeneinander von Erinnerung und Gegenwart zusammenzuführen trachtet: Die Intensität der Erinnerung an die Zeit mit Ananke schließt mit der neuen Realität ohne Ananke, mit der die Erzählerin fertig werden muss, nicht ohne Weiteres zusammen.
Die brennende Intensität, mit der Ichor die zuletzt auf der Oberfläche erkaltete Freundschaft mit Ananke tatsächlich unter die Haut gegangen, in ihren Körper eingesunken ist, wird dadurch sichtbar. Die Worte der Erzählerin für ihren Schmerz, der aus dem unabänderlichen Verlust durch Anankes Tod für Ichor erwächst, einen Schmerz buchstäblich bis hin zum Kotzen, zum psychischen Zusammenbruch, müssen Gegenwart und Vergangenheit erst einmal zusammenbringen.
Sterns Erzählerin sucht dafür Worte, die zugleich detailliert und verdichtet, nüchtern und obsessiv wirken, die zugleich die Erinnerung lebendig halten und zügeln wollen. Es ist der paradoxe Versuch, einen somatischen Zustand mit dem Verstand zu fassen, ihm das Überwältigende zu nehmen, etwas Verlorenes zurückzuerobern: „es bleibt das bestreben, der zwang schon fast, den augenblick en detail festzuhalten, in regeln gehorchende worte zu bannen, im versuch, genau diesem augenblick zu entkommen, das hier zu verlassen und von außen, von oben auf den moment hinabzublicken. du hältst an der hoffnung fest: die fixierung auf die einzelheit ein möglicher fluchtweg aus dem zusammenhang.“ Es ist auch der paradoxe Versuch, das Inakzeptable des Todes zu akzeptieren, der die unumstößliche, unhintergehbare Wirklichkeit einer irreversiblen Lücke für diejenigen setzt, die mit ihr leben müssen – lächerlich getröstet nur vom Wissen um die eigene Sterblichkeit, die der Erinnerung an die Verstorbenen ein Ende bereiten und damit diese Lücke schließen wird. Der so überraschende wie spektakuläre Ausgang von Sterns Roman hebt das Unerträgliche von Anankes frühem Tod raffiniert auf und bringt die kluge Erzählkunst der Autorin einmal mehr zum Leuchten.
Info
das alles hier. jetzt Anna Stern Salis Verlag 2020, 244 S., 24 €
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