Fagerholm-Roman „Wer hat Bambi getötet?“: Psychogramm einer Gruppenvergewaltigung
Literatur Ein Netz aus Anspielungen von den Sex Pistols über Sydney Pollack zu Patti Smith. Monika Fagerholms preisgekrönter Roman „Wer hat Bambi getötet?“ zieht die Leser hinein in einen alltäglichen Wahnsinn
Der Film mit dem Titel „Who Killed Bambi“ von Ende der 1970er Jahre, mit dem die britische Punkband Sex Pistols auch den amerikanischen Markt erobern sollte, blieb unvollendet. Der Song gleichen Titels enthält die zum Slogan gewordenen Zeilen: „Murder murder murder / Someone should be angry / The crime of the century / Who shot little Bambi / Never trust a hippie / ’Cause I love punky Bambi“. In den Songzeilen deutet sich schon an, was in Monika Fagerholms Roman, der in der brillanten deutschen Übersetzung von Antje Rávik Strubel erschienen ist, verhandelt wird. Es geht um Verbrechen, um den Verlust von Unschuld, um eine beißende Ironie der Figuren im Umgang miteinander. Für ihren Roman wurde die skandinavische Autorin 2020 mit dem ren
renommierten Literaturpreis des Nordischen Rates ausgezeichnet.Angesiedelt ist die Handlung in einem finnischen Villenvorort, wo Gusten Grippe und sein Freund Nathan Häggert in begüterten und scheinbar behüteten Verhältnissen aufwachsen. Gusten lebt bei seiner Mutter Angela, einer Opernsängerin, Nathan, wie Gusten Einzelkind, bei seiner schönen, angespannten, stets auf Perfektion bedachten Mutter Annelise, einer erfolgreichen Wirtschaftswissenschaftlerin und Unternehmensjuristin, und deren Ehemann Abbe. Gusten und Nathan wachsen als Busenfreunde auf. Zeitweilig lebt Gusten sogar bei den Häggerts, in der Villa ist Platz, Gustens Verhältnis zu Annelise gratwandernd innig.Als die schöne siebzehnjährige Sascha, die im Heim aufgewachsen ist, im Dunstkreis der gutbürgerlichen Jungs auftaucht, verliebt sich der überspannte Nathan in sie. Die beiden werden ein Paar, bis Sascha es sich – alterstypisch abrupt – anders überlegt. Das kann Nathan nicht verkraften. Er lädt zu einer Party in die elterliche Villa ein. Dort hat er etwas Ungeheuerliches vor: eine Gruppenvergewaltigung Saschas. Neben Nathan sind zwei weitere Freunde beteiligt. Und schließlich lässt sich auch Gusten von dem grausamen Rausch anstecken. Als er das brutale Vergehen anzeigt, beginnt ein Gerichtsverfahren. Nathan erhält sechs Monate Haftstrafe auf Bewährung, Gusten muss für eine Weile in die Psychiatrie. Die beiden anderen kommen frei.Und Sascha? Sie schweigt beharrlich zu alldem. Dass das Leben weiterzugehen scheint, wirkt wie eine zynische Pointe der Handlung, eine, für die es allerdings einen guten Grund gibt.Was ist das für eine merkwürdige Geschichte, die Monika Fagerholm hier erzählt? Es geht nicht in erster Linie um den Plot. Stattdessen ist ihr Roman eine Reflexion auf die Ursachen und Folgen der Gruppenvergewaltigung wohlstandsverwahrloster Jugendlicher und aller, die davon auch mittelbar betroffen sind und emotional daran zerbrechen. Seinen literarischen Rang und den erheblichen gruseligen Reiz bezieht der Roman aus der Art und Weise, wie die latente seelische Disbalance, um nicht zu sagen die Gestörtheit der Protagonisten, dann die Folgen der Vergewaltigung erzählt sind.Wer hat Bambi getötet? flicht ein beinahe undurchdringliches, enges Netz aus Anspielungen an und Zitate aus Filmen, Songs und Literatur von Michael Haneke über Sydney Pollack zu Patti Smith, von den Sex Pistols bis hin zu H.P. Lovecraft, William Faulkner und Thomas Bernhard.Fagerholm macht diese Melange für ihr Erzählen fruchtbar, um ein bestimmtes Lebensgefühl des Ennuis zu spiegeln. Die Handlung wird nicht chronologisch wiedergegeben, sondern in einer Kreisstruktur. Sie beginnt mit dem Ende, weist Zeitsprünge auf, Auslassungen, perspektivisch verschobene Wiederholungen, als hätten hier mehrere Menschen das Geschehen mit Handkameras abgefilmt – womit man wieder bei Michael Hanekes Bennys Video wäre und dessen mehrfach gebrochener Perspektive: Cosmo, ein Mitschüler von Nathan und Gusten, will nach Ende des Gerichtsverfahrens, nach der Freilassung Nathans und der Entlassung Gustens, einen Film unter dem Titel Who killed Bambi? drehen, der die Geschichte dieser Vergewaltigung erzählt.Gerade in Cosmos Plan zeigt sich nicht nur die Perversion des Verbrechens, sondern auch eine sensationalistische Lust an voyeuristischer Grausamkeit, wie man sie in der Realität sehen kann, wenn etwa Jugendliche mit dem Handy filmen, wie sie jemanden foltern. Analoge und digitale Welt entgrenzen sich gegenseitig.Fagerholm transportiert aber eben keine moralinsaure Anklage eines spätkapitalistisch geprägten Milieus, das sich frei von Tabus wähnt, das sämtliche Regeln des Anstands auf der Oberfläche zu wahren versteht.Stattdessen zieht sie die Leser hinein in einen alltäglichen Wahnsinn, der einem an vielen Stellen folgerichtig scheint. Denn erzählt wird mit einer psychologischen Subtilität, wie man sie von Patricia Highsmith kennt, nur eben unter popkulturellen, poststrukturalistischen und neoliberalen Vorzeichen, um einiges komplizierter, aber angemessen als Reaktion auf eine Gegenwart, in der Zeit zu Gleichzeitigkeit, in der das Zufällige vorherrschend, Ironie zur bequemsten Umgangsform und das zirkulierende Kapital quasi unsichtbar geworden sind, Letzteres solang es unsichtbar alles beherrscht.Die Lektüre von Wer hat Bambi getötet? macht seine Leser damit auch zu Zeugen des Versuchs, ein in tausend Splitter zerschlagenes, nicht mehr kittbares Gefäß zu reparieren.