Jeder Roman, selbst als Fragment, wird anders verstehbar vom Ende her. Das gilt auch für Das Schöne, Schäbige, Schwankende. Wenn sich nach 600 Seiten Lektüre von „Romangeschichten“ die Wogen des Schlusskapitels Grünewald geglättet haben, blickt man auf das komplex gebaute Buch der am 22. Juli mit 78 Jahren verstorbenen Brigitte Kronauer wie auf einen eigenen Kosmos.
Das Schlusskapitel ist eine Reminiszenz an den Renaissancemaler Matthias Grünewald. Erzählt wird, aus der Sicht des greisen Literaturwissenschaftlers Waldenburg, sowohl Grünewalds fragmentarisch überlieferte wie auch Waldenburgs Lebensgeschichte. Verwoben sind sie mit einer detaillierten Interpretation des Isenheimer Altars im Colmarer Musee Unterlinden.
Die Welt ist nicht verrammelt
Waldenburg wird nach dem Tod seiner Frau Ruth von der Haushälterin Frau Schmetz versorgt. Sie ist mit Sohn Arya ihrem gewalttätigen Mann entflohen. Für Waldenburg wird sie zur Vertrauten. „Frau Schmetz“ wird „Olga“. Der Greis erzählt ihr von seinen Lesarten der einzelnen Bildtafeln des Altars, von seiner Liebe zu Ruth, vom dramatischen Ehebruch und vom frühen Tod der viel jüngeren Frau. Mit Olga denkt er nach über die Macht der Kunst, deren Einfluss auf den Glauben, über Grünewald als „hochsinnlichen Metaphysiker“. Man teilt den Alltag, die Sorge um Olgas erkrankten Sohn und Waldenburgs Schachfreund Bruno, der als Betagter seine Lust an sadomasochistischen Sexpraktiken entdeckt – mit tragischem Ausgang.
Grünewald ist ein Reigen von Liebe, Krankheit und Tod, leidenschaftliche Hingabe an Kunst und Leben, existenzielle Einsamkeit. Ein Schlüsseltext, der von Klugheit, Beobachtungsgabe, handwerklicher Präzision und dramaturgischem Gespür seiner Autorin zeugt. Selbst wer manchmal leise Zweifel hegte, ob Kronauers stilistisch brillante Texte diese Brillanz gelegentlich ein wenig zu sehr vor sich hertrugen, begreift hier, was den Stilwillen motivierte.
Über Stil und Sprache dachte Kronauer anlässlich des Büchner-Preises 2005 nach. Sie zitierte, was Büchner seinem Woyzeck in den Mund gelegt hat: „So ein schöner, fester, grauer Himmel; man könnte Lust bekommen, ein’ Kloben hineinzuschlagen und sich daran zu hängen, nur wegen des Gedankenstrichels zwischen Ja und wieder Ja – und Nein. Ja und Nein? Ist das Nein am Ja oder das Ja am Nein schuld?“ Spreche einer wie Woyzeck tatsächlich so? Denkbar, sagt Kronauer, denn für den Sozialrevolutionär Büchner sei die Welt stets eine komplizierte, so sehr, „daß man ihn eher für einen an den Beleuchtungswundern der Sprache entzündeten genialen Ästheten halten könnte, als für einen im Gebrauchssinn politischen Kopf“. Büchners menschlicher Trost – „Kein Mensch ist flach oder simpel“ – verbinde sich hier mit ästhetischem. „Woyzeck wird nicht in die Sprachlosigkeit seiner Klasse zurückgescheucht.“
Kronauer bot damit eine Lesart auch für ihre so fein ziselierten Texte an: Durch das „bis zur Verrücktheit Artistische, Artifizielle“ geschehe keine willkürliche Verrätselung und Verrammelung der Welt, sie werde lediglich als nicht durchschaubare bloßgelegt. Womit nichts gegen die Einfachheit gesagt sei, die auch eine Spielart der Wirklichkeit darstelle. Unter „Schutt und Schmier des Konventionellen“ ließe sich finden, wonach Schriftsteller suchten: die „vollständig irdischen, nicht selten skurrilen Momente einer strahlend und fast geräuschlosen Transzendenz“.
Damit zum Anfang der Romangeschichten, deren dreigliedriger Titel ebenfalls vom Schluss, von Grünewalds Triptychon her, deutlicher wird: 39 Porträts will die Erzählerin zusammenstellen, geordnet zu je 13 Porträts dreier Kategorien, des Schönen, des Schäbigen und des Schwankenden. Sie begibt sich dafür ins Brandenburgische. Im Haus eines Vogelkundlers, der mit seiner Frau verreist ist, scheint ein ruhiges Arbeiten möglich. „An den Wänden hängen Fotografien, Schautafeln, Zeichnungen, auf denen das geflügelte Tierreich prächtig und in Überfülle präsentiert ist, vom Eisvogel bis zum Östlichen Waldpiwi, vom Federhelm-Turako bis zum Schwarzstirnwürger.“ Das Paar kehrt vorzeitig zurück, die Erzählerin zieht weiter. Doch ihr Denken ist besetzt von den Darstellungen der Vögel. Die Porträts, die das zweite Kapitel bilden, sind Charakterstudien, in denen häufig das Vogelhafte der Porträtierten gesucht wird. Sie kehren Clemens von Brentanos und Achim von Arnims „Wenn ich ein Vöglein wär’“ um. Daraus wird bei Kronauer, deren Traditionslinien auch in die Romantik reichen, „Wenn du ein Vöglein wärst“. Und: „Welches Vöglein wärst du dann?“
Das Andere in uns
So verspielt entsteht ein menschliches Bestiarium, das von der schreibkrisengeplagten Erzählerin daraufhin befragt wird, wer denn hier wen beherrsche, der Mensch die Natur oder die Natur den Menschen: „Machten sie (also die Vögel) sich her über mich oder war ich es, die sie dorthin lenkte, wo ich sie hinhaben wollte bis zum letzten Satz?“ Die Antwort bleibt in schöner Schwebe.
In den Porträts spiegelt sich die unerschöpfliche menschliche Natur in den Tieren als „Garant und Komplize eines Anderen in uns, das sich sperrt gegen Extraktion und Bilanz“, wie es Kronauer 2004 in dem Kursbuch-Essay Die Konstanz der Tiere formulierte.
Man mag zwischendrin seufzen ob der Konzentration, die die Lektüre erfordert. Doch nach den Kapiteln Sonst bürste ich dir die Lippen blutig und Die Jahre mit Katja, die den fulminanten Schluss kunstvoll vorbereiten, begreift man: Die Fülle und das Ausschweifende, das zugleich Offene und Bestimmte, der beißende, nie aber gemeine Spott sind tatsächlich zu verstehen als ein mächtiges, zugleich menschliches Bollwerk gegen alles brutal Begriffliche, gegen das schlechte Allgemeine, gegen vorschnelle Vereinfachung. Brigitte Kronauer hat Großes geschaffen, vermacht Großes.
Info
Das Schöne, Schäbige, Schwankende Brigitte Kronauer Klett-Cotta 2019, 596 S., 26 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.