Im Jahr 1976 veröffentlichte die 1929 in Algier geborene Marie Cardinal mit Les Mots pour le dire den autobiografisch grundierten Roman einer Psychoanalyse. Auf Deutsch erschien er unter dem kitschigen Titel Schattenmund, zuerst 1977 bei Rogner Bernard, später bei Rowohlt in der Reihe „neue frau“. Er wurde dort in zahlreichen Auflagen rund vierhunderttausendmal gedruckt – eine beachtliche Zahl, selbst wenn man bedenkt, dass hohe Auflagenzahlen bei Taschenbüchern damals keine Seltenheit waren.
In Schattenmund leidet die 30-jährige verheiratete Ich-Erzählerin unter Angstattacken und Halluzinationen, die einhergehen mit einer der Menstruation vergleichbaren, heftigen Dauerblutung, die sie handlungsunfähig macht – einer Behandlung stehen die Mediziner ratlos gegenüber. Sie landet in einer Privatklinik, wo sie isoliert und mit Medikamenten ruhiggestellt werden soll, bricht aber aus und beginnt eine Analyse. Sieben Jahre lang wird sie dreimal die Woche den Analytiker aufsuchen und dort die Ursachen ihres Leidens entschlüsseln, schließlich die „SACHE“ (wie sie ihre Blutungen und Angstzustände nennt), das Symptom, überwinden. Im Verlauf der Analyse, zu der sich die anfangs selbstmordgefährdete Frau auch aus Verantwortungsgefühl gegenüber ihren drei Kindern entschlossen hatte, stellt sich heraus, dass die Wut ihrer Mutter auf die Tochter als ungewolltes Kind, auf die hilflosen Versuche, sich des ungeborenen Kindes zu entledigen, und die Wut über das Scheitern der Abtreibung auf die Tochter übergegangen war.
Diese Selbsterkenntnisse führen in Schattenmund gleichsam zu einer zweiten Geburt, mit der ein beruflicher und persönlicher Wandel verbunden ist: Aus der Lehrerin, die unfähig war, ihren Beruf noch auszuüben, wird eine Schriftstellerin; die dräuende Trennung von ihrem Mann wird durch die Veränderungen überflüssig. Am Ende hat die Patientin aus ihrer psychischen Not herausgefunden.
Zwei Euro
Die bisweilen schon plakative Deutlichkeit, mit der in Schattenmund einerseits Tabus in Sprache gefasst werden, andererseits die körperlichen Regungen beschrieben werden, entfaltet bei der Lektüre auch heute noch, unter veränderten gesellschaftlichen Vorzeichen, eine starke Wirkung. Aus der Bekenntnis- und Befindlichkeitsliteratur der siebziger und achtziger Jahre, die in ihrem oft schwarz-weiß-malenden Gestus oder einer heute naiv wirkenden Unmittelbarkeit häufig altmodisch wirkt, ragt Cardinals drastisches und zugleich süffig zu lesendes Buch heraus. Im Handel ist Schattenmund derzeit nicht erhältlich, bei den einschlägigen Portalen im Internet ist es aber zu einem fast schon symbolisch zu nennenden Preis von etwa zwei Euro bestellbar.
Der Wirbel um Schoßgebete von Charlotte Roche bietet den Anlass zur (Wieder-)Lektüre von Cardinals Roman. Neben den Fragen nach den literarischen Qualitäten und den ideologischen Implikationen wirft Roches Text auch die nach der Tradition auf, in der er steht. Wenn sie etwas schreibe, so die Autorin in einem der Interviews, dann solle es absolut neu sein. Die Abrechnung mit der eigenen und den ideologisch übermächtigen Müttern und die Erkundung und Enttabuisierung des Körpers auf dem Papier ist es allerdings nicht.
Beate Tröger ist freie Literaturkritikerin mit Schwerpunkt Lyrik
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