Gaucks klare Kante

Diskussion Nie zuvor fand ein Bundespräsident im Ausland so kritische Worte. Öffentlich prangerte Joachim Gauck bei seinem Türkei-Besuch Missstände im Land an

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Klartext-Bundespräsident Gauck mit seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt in der Türkei
Klartext-Bundespräsident Gauck mit seiner Lebensgefährtin Daniela Schadt in der Türkei

OZAN KOSE/AFP/ Getty Images

Der Tadel richtete sich direkt gegen die türkische Regierung, insbesondere Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan. Letzterer reagierte gereizt und polterte zurück.

Auszüge der gestrigen Rede Gaucks vor Studenten der Middle East Technical University in Ankara

In Bezug auf das Interesse in der Türkei bei dem NSU-Prozess in München

"So wie Ihnen in der Türkei nicht gleichgültig ist, was in Deutschland geschieht, ist uns in Deutschland nicht gleichgültig, was in der Türkei geschieht. Und so gestatten Sie mir an dieser Stelle, ganz offen auch über das zu sprechen, was mich besorgt."

In Bezug auf Rechtsstaatsprinzip und Gewaltenteilung

"Geprägt durch die Erfahrung des Gewinns der Demokratie, beobachte ich mit besonderer Sorge, wenn es irgendwo Tendenzen gibt, den Rechtsstaat und die in vielen Ländern erprobte Gewaltenteilung zu beschränken. So frage ich mich heute und hier, ob die Unabhängigkeit der Justiz noch gesichert ist, wenn die Regierung unliebsame Staatsanwälte und Polizisten in großer Zahl versetzt und sie so daran hindert, Missstände ohne Ansehen der Person aufzudecken. Oder wenn sie danach trachtet, Urteile in ihrem Sinn zu beeinflussen oder umgekehrt ihr unwillkommene Urteile zu umgehen.

Manchem türkischen Staatsbürger und schon gar manchem türkischen Politiker mag es schwerfallen, derartige Kritik anzunehmen. Vielleicht wird der eine oder die andere sie abwehren als unberechtigt und unerwünscht. Aber bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Aus mir spricht nicht der Wunsch nach Einmischung in innere Angelegenheiten, sondern der Wunsch nach gleichberechtigtem Austausch. Aus mir spricht die Sorge eines Bürgers, der nach langjährigen Erfahrungen in einem totalitären Staat zu einem Anwalt der Demokratie wurde."

In Bezug auf Überwachung, Proteste und Meinungsfreiheit

"In jüngster Zeit erreichen uns [...] Stimmen der Enttäuschung, der Verbitterung und Empörung über einen Führungsstil, der vielen als Gefährdung für die Demokratie erscheint – etwa wenn den Bürgern vorgeschrieben wird, wie sie zu leben haben. Wenn eine verstärkte geheimdienstliche Kontrolle über ihr Leben angestrebt wird. Wenn Protest auf der Straße gewaltsam unterdrückt wird und Menschen dabei sogar ihr Leben verlieren.

Ich gestehe: Diese Entwicklung erschreckt mich – auch und besonders, weil Meinungs- und Pressefreiheit eingeschränkt werden. Wir erleben, dass der Zugang zu Internet und sozialen Netzwerken beschnitten, dass kritische Journalisten entlassen, auch verurteilt, Zeitungen mit Veröffentlichungsverboten belegt und Herausgeber juristisch unter Druck gesetzt werden."

In Bezug auf die Türkei als Partner und potenzielles Mitglied der EU

"Die Türkei braucht die westlichen Bündnispartner, um nicht in den Strudel der Ereignisse in den Nachbarländern zu geraten, um weiter Investitionen ins Land zu holen und um ungestört in andere Länder exportieren zu können. Eine Türkei, die sich selbst isolierte, würde sich selbst schaden. Umgekehrt brauchen Deutschland, Europa und die Vereinigten Staaten eine verlässliche und in sich ruhende Türkei als politischen, wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und militärischen Stabilitätsanker in der ganzen Region.

Es ist nicht zu bestreiten, dass in jüngerer Zeit Fortschritte rar waren im Prozess der Annäherung von Europäischer Union und Türkei. Die Beitrittsverhandlungen gerieten immer wieder ins Stocken. Auf beiden Seiten sind Stimmen zu hören, die ihren Sinn in Frage stellen."

Die Rede im Wortlaut

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