Mächtige Bäume beschatten alte, mit Reet gedeckte Fachwerkhäuser. Nicht weit davon stehen elegante Neubauten, teils mit Blick auf den über zehn Kilometer langen Tollensesee. Wer nach idyllischen Spazierwegen sucht, kann sich in den tiefen Wälder ringsherum verlaufen. In touristischer Hinsicht darf das beschauliche Dorf Alt Rehse in Mecklenburg auf die Zukunft vertrauen. Auf die Vergangenheit eher nicht. Am 1. Juni 1935 wurde an diesem Ort in Anwesenheit von Parteigrößen wie Hitler-Stellvertreter Rudolf Heß und NSDAP-Reichsleiter Martin Bormann die „Führerschule der Deutschen Ärzteschaft“ eingeweiht. Bis in den Zweiten Weltkrieg hinein unterrichteten NS-Ideologen und Mediziner in dieser für das Dritte Reich einzigartigen Kaderschmiede Ärzte, Apotheker und Hebammen besonders in „Erbbiologie“ und „Rassenpflege“. Damit wurden „medizinische Maßnahmen“ begründet, die das deutsche Volk angeblich vor dem Niedergang bewahren sollten. Es ging um verbrecherische Handlungen wie Zwangssterilisationen und Zwangsabtreibungen, das gezielte Töten geistig und körperlich behinderter Menschen (Aktion T4), um Menschenversuche und die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in Konzentrationslagern wie Auschwitz oder Bergen-Belsen. Obwohl die Untaten der NS-Mediziner allein dank des Nürnberger Ärzteprozesses(1946–1947) ausführlich dokumentiert wurden, blieb die Erziehungsanstalt in Alt Rehse der Öffentlichkeit lange unbekannt.
Erstaunlicherweise findet sich auch am Gedenkort für die Opfer der faschistischen Euthanasie-Morde in der Berliner Tiergartenstraße – er wurde im September 2014 eingeweiht – kein Hinweis auf die Führerschule. In Alt Rehse selbst existiert seit 2002 eine Ausstellung, die sich der Geschichte des Ortes während der NS-Zeit annimmt.
Schon bald nach der Machtübergabe an Hitler wurden im März 1933 die ärztlichen Spitzenverbände gleichgeschaltet. Wie Wilhelm Boes – Biograf von Hans Deuschl, dem Begründer und ersten Leiter der Führerschule in Alt Rehse – vermutet, gab es parallel dazu Überlegungen, wie man „künftig eine Besetzung der Schaltstellen im Gesundheitssystem mit geeigneten Führungskräften für das ,Dritten Reich̒ sicherstellen könne und wie die hierfür notwendige ärztliche Elite angemessen auf die zu erwartenden Aufgaben ideologisch vorzubereiten“ sei. Deuschl suchte einen Ort, in dem er eine „Charakterschule für den Arzt im Nationalsozialistischen Deutschland“ aufbauen konnte. Er sollte „fernab vom Getriebe der Großstadt, fern von der akademischen Hochschule, von Klinik und Hörsaal“ liegen, wie es 1933 im Deutschen Ärzteblatt hieß. Fündig wurde Deuschl in Alt Rehse. Dort stand ein Gut zum Verkauf. Als die Besitzer in Streit gerieten und sich ein Abschluss hinzog, ließ Bormann das Gut enteignen.
Mitte 1934 begannen die Aufbauarbeiten unter Aufsicht des Architekten Hans Haedenkamp. Für eine Eliteschule, die „Ärzte als Führer und Erzieher des deutschen Volkes“ hervorbringen sollte, musste ein völkischer Baustil her. So ließ Haedenkamp im Ortskern von Alt Rehse fast alle Wohnhäuser abreißen, um ein Schulungslager, ein Mustergut und ein Musterdorf mit Unterkünften zu errichten, die niedersächsischen Bauernhäusern nachempfunden waren. Die architektonische Heimatkunde sollte eine Hommage an den Blut-und-Boden-Mythos des Regimes sein. Zur Eröffnungsfeier am 1. Juni 1935 zog sich denn auch durch alle Reden die Botschaft, seit dem 30. Januar 1933 habe eine „grundlegende Umgestaltung“ der Medizin stattgefunden. Für einen Arzt im nationalsozialistischen Staat gehe es nicht mehr um den einzelnen Patienten, sondern um die Volksgemeinschaft, deren „Reinhaltung“ für seine Gesundung und „Aufartung“ nötig sei.
Ein Plus oder Minus entschied über Leben und Tod
Wer nicht zur auserwählten germanischen Rasse gehörte, das ließ sich in Alt Rehse den Vorträgen von NS-Ideologen wie Alfred Rosenberg entnehmen. Stigmatisiert waren „Fremdrassige“ wie Juden, Roma und Sinti, dazu Menschen mit Behinderung sowie „asoziale Volksschädlinge“, zu denen man Arbeitsscheue, Bettler, Prostituierte und Homosexuelle zählte. Die „Reinhaltung“ – so die Lektion in Alt Rehse – müsse sowohl durch die Isolierung und Entfernung der „Fremdrassigen“ als auch durch den „Ausschluss der Untauglichen“ erfolgen. Letztere seien an der Fortpflanzung zu hindern. Legalisiert wurden derartige und andere Maßnahmen unter anderem durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933, das vorschrieb, jüdische Krankenhausärzte durch „arische“ zu ersetzen. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933 erlaubte die Zwangssterilisation von „Erbkranken“. Dazu zählte, bei wem „angeborener Schwachsinn“, Schizophrenie und „schwere erbliche körperliche Missbildung“ diagnostiziert waren. Von Sterilisation bedroht war gleichfalls, wer „unter schwerem Alkoholismus“ litt.
Sanitätstaktik und Gasschutz standen auf dem Lehrplan des ersten Jungarzt-Kurses von 1936, der vor Augen führte, dass Alt Rehse künftige „Gesundheitsführer“ auf den Krieg einstimmte, der seit 1936 mit dem Vierjahresplan vorbereitet wurde. Neben Vorlesungen und Seminaren stand in Alt Rehse auch Körperertüchtigung auf dem in der Regel vierwöchigen Programm eines Kursanten. Man wohnte in Gemeinschaftszimmern, trug die gleichen Trainingsanzüge, trat jeden Morgen zum Ritual der Flaggenhissung an, leistete Arbeitsdienst, musste ans Reck oder auf den Sportplatz. Von 1935 bis 1939 sowie von 1941 bis 1943 gab es gut 100 Kurse mit circa 12.000 Teilnehmern aus allen Sparten der Medizin. Etwa 10.000 Kursbesucher waren Ärzte, davon wiederum bis zu 2.500 angehende Mediziner. Von diesen hätten sich im Krieg besonders viele bei Verbrechen hervorgetan, wie der US-Psychiater Robert Jay Lifton in seinem Buch Ärzte im Dritten Reich feststellt: „Die Tötungsärzte wurden für diese Aufgabe ganz offensichtlich wegen ihrer Kombination von Unerfahrenheit und politischer Begeisterung ausgewählt.“
Grundlagen für die Euthanasie und andere Medizinverbrechen legten neben der permanenten NS-Indoktrinierung nicht zuletzt Lehrgänge in Alt Rehse. Es waren ärztliche Gutachter, die in einer Villa an der Berliner Tiergartenstraße 4, in der „Zentraldienststelle T4“, über das Schicksal Tausender Insassen von Pflegeheimen im Deutschen Reich befanden. Ein simples Plus oder Minus in der Krankenakte entschied über Leben und Tod. Wer als „lebensunwert“ eingestuft war, wurde mit Bussen abgeholt und in Brandenburg an der Havel, Hadamar bei Limburg, Grafeneck, Sonnenstein/Pirna, Hartheim bei Linz und Bernburg an der Saale durch Giftgas getötet. Nach dem Krieg mussten sich dafür die wenigsten Mediziner vor Gericht verantworten.
Die Führerschule Alt Rehse wechselte ab 1945 mehrfach den Besitzer: Sie diente zunächst der Roten Armee als Quartier. 1946 wurden die Anbauflächen des früheren NS-Musterguts bei der Bodenreform verteilt. Auf dem Parkgelände mit den 20 Häusern der Führerschule kamen nacheinander ein Kinderdorf für Kriegswaisen, ein Institut für Lehrerbildung und schließlich die Nationale Volksarmee (NVA) unter. Nach der Wiedervereinigung verkaufte der Bund die inzwischen denkmalgeschützte Parkanlage 2005 an einen Immobilienmakler aus Bayern. Die ein Jahr später eingezogene alternative Gemeinschaft Tollense Lebenspark blieb acht Jahre, bis sie nach einem Gerichtsurteil das Gelände räumen musste. Die Initiatoren Bernhard und Christoph Wallner standen im April 2015 wegen des Verdachts auf Kreditbetrug, Urkundenfälschung sowie Insolvenzverschleppung vor Gericht und wurden verurteilt. So braucht man erneut Investoren, und das dringend. Verwahrlosung hat dem Gelände und den Gebäuden bereits schwer zugesetzt.
Kommentare 5
Im Laufe meiner Tätigkeit in einem süddeutschen Gesundheitsamt (BW) stieß ich auf einige Aktenordner aus dem III. Reich. Es waren die Protokolle des damaligen Amtsarztes und betrafen die Sterilisationsurkunden vieler Bürger aus dem dortigen Kreis.
Alle diese Anweisungen über Sterilisation, Einweisungen in sogenannte Heilanstalten und Zwangssterilisationen, weil die betroffenen weibl. Personen Geschlechtsverkehr mit einem ausländischen Zwangsarbeiter hatten, wurden von diesem „Mediziner“ angeordnet und urkundlich in diesen Akten festgehalten. Alsich den Fund meinem Vorgesetzten Amtsarzt gemeldet hatte, verschwanden alle Akten in Richtung der Landeshauptstadt. Der damalige Täter, eben dieser Amtsarzt war weiterhin als Arzt tätig, er wurde nie belangt und starb lange nach dem Krieg.
Vielen Dank, für diesen, trotz seiner erschreckenden Inhalte, lesenswerten und informativen Beitrag, Herr Samsami.
Er zeigt, wie schnell und systematisch die Nationalsozialisten das deutsche Gesundheitswesen in den Griff bekamen.
Die Gleichschaltung ging in Eilschritten voran. Vor allem für die Gesundheitsämter (entblößt von jüdischen, sozialdemokratischen und humanistischen Ärzten), das koordinierende Reichsgesundheitsamt, die Ärzterorganisationen (Kammern), für die speziellen Gerichtshöfe zur Erbgesundheit, die die Zwangssterilisationen anordneten, später für die "Euthanasie"- Programme und dann die rassistische Selektion, die nur oberflächlich betrachtet, sich ausschließlich gegen Juden richtete, sondern ebenso die Bevölkerung im Osten und die Sinti und Roma umfasste, brauchte man ideologisch gefestigtes Personal als Beisitzer und Gutachter, als praktische Täter, als Organisatoren.
Allerdings trafen die rassentheoretischen, rassenhygienischen, eugenischen und erbbiologisch- anthropologischen Vorstellungen auf eine schon aufnahmebereite Ärzteschaft.
Nicht zu verkennen ist, dass auch sozialdemokratische und gar jüdische Ärzte in Spitzenpositionen, viele waren im öffentlichen Gesundheitswesen, in den Gesundheitsämtern der Großstädte tätig, sich für Sterilisationen aussprachen, einige sogar für die Zwangssterilisation. - Eugenische Positionen, aus der Sicht der Gesamtpopulation, vertraten z.B. die Gynäkologen Max Hirsch und Ludwig Fraenkel.
Eugenik und bevökerungsorientierte Sozialhygiene galt, seit der Jahhundertwende, als eine der Paradedisziplinen der modernen Medizin, als Integrations- und Anwendungswissenschaft, in der biologisch- medizinische, epidemiologische, anthropologische und sozialhygienische Ansichten verschmolzen wurden. Entscheidend war, nicht mehr einzelne Fälle zu betrachten, sondern nach Kategorien zur Verbesserung des "Volkskörpers" zu handeln.
Unendliches Leid wurde zugefügt und nachher, in der jungen Bundesrepublik, weder aufgedeckt (Helmut Eckert hat es dankenswerter Weise in seinem Kommentar aufgeriffen), noch je angemesssen den Überlebenden entschädigt!
Was die Nazis noch zusätzlich einbrachten und dann ausbauten, war der Rasseaspekt und jene unbedingte Systematik, die wirklich alle Lebensbereiche umfasste.
Der Blick auf die Funktionseliten erlaubt auch, das falsche Bild zu korrigieren, Allgemeinbildung und wissenschaftliche Ausbildung schützen unbedingt vor banaler Brutalität und Gewissenlosigkeit, vor dem unerbittlichen Durchsetzungswillen, gibt es keine Kontrollinstanzen mehr.
Beste Grüße
Christoph Leusch
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Danke fuer den Hinweis
Lieber Herr Leusch,
vielen Dank für Ihren ausführlichen und kenntnisreichen Kommentar!
Was die Sterilisation betrifft, die auch Nicht-NS-Mediziner unterstützt haben, will ich eine kleine Ergänzung zu meinem Beitrag machen: Das "Internationale Ärztliche Bulletin", das "Zentralorgan der Internationalen Vereinigung Sozialistischer Ärzte", das zwischen 1934 und 1939 in Prag und Paris erschienen ist, hat die Entwicklungen auf diesem Feld in Nazi-Deutschland kritisch begleitet und diskutiert.
Beste Grüße, Behrang Samsami
In diesem Bereich hat es sich gelohnt, auf eine sorgfältige und allumfassende Medizin- und Sozialgeschichtsschreibung niemals zu verzichten, Herr Samsami
Es ist erstaunlich was bisher alles bekannt wurde, nachdem Leute wie die Mitscherlichs, Dörner, Klee, amerikanische und britische Historiker, die ersten umfassenden Schritte taten.
Heute hat fast jedes psychiatrische Bezirks- oder Landeskrankenhaus eine vorbildliche Dokumentation der Verstrickung. Städte arbeiteten die Ausschließung und Vertreibung ihrer jüdischen Ärzte auf. In Berlin beteiligten sich fast alle Fakultäten an akribischen Untersuchungen zu der meist eher freiwilligen Kooperation verschiedener Fachbereiche, unter anderem die Universitäts- Frauenklinik, die wie andere, ich denke es waren ca. 400 Stellen im ganzen Reichsgebiet, die Zwangssterilisationen durchführten und Gutachter stellten.
Ich las vor ein paar Wochen eine Disseration aus dem Jahr 2010, von Susanne Doetz, die sich mit der Charité- Frauenheilkunde befasste. Im Anmerkungsapparat erschießen sich zahlreiche Quellen zu Heilanstalten, Gynäkologien und Psychiatrien, zu den Gutachtern und Beisitzern. Frau Doetz hatte sich die Mühe gemacht, auch ein paar Fälle zu rekonstuieren. So erfährt man von dem Leid der Betroffenen und ihrer Angehörigen, die sich wehrten, auch um nicht selbst stigmatisiert zu werden.
Ob das nun ein Vorlauf zur Massenvernichtung aus rassischen Gründen war, ist Gegenstand des Streits der Historiker, Mediziner und Sozialwissenschaftler.
Die Exilärzte werden sich teilweise gewundert haben, wenn sie es bis nach GB oder dann in die USA schafften. Dort kursierten ähnliche eugenische Überzeugungen und der Wunsch nach Sterilisationen per Gesetz, ohne Einwilligung der Betroffenen.
Interessant ist auch, sich einmal das Krankheitenspektrum genauer anzusehen, bei dem Nationalsozialisten und ihre völkischen Vorläufer aus der Universitätsmedizin der Weimarer Republik, eugenische Maßnahmen für notwendig hielten.
Teilweise wider "besseres" Wissen. Vor allem betroffen, waren Frauen und Männer mit Psychosen (Schizophrenien, manisch- depressive Psychosen), Epilepsien, Huntingtonscher Erkrankung, sogenanntem angeborenen Schwachsinn, Alkoholismus, später aber auch "Arbeitsscheue" und "sozial unzuverlässige" Personen ("Kriminelle", Prostituierte) gar auch Menschen mit minimalen oder mittlegradigen Extremitätenfehlbildungen, Blinde, Taube, sowie Kleinwüchsige, bzw. wurden diese Menschen ebenso bedroht, wenn es eine entsprechende Familienanamnese gab!
Bemerkenswert ist die Personalunion bei den verschiedenen, sehr systematischen Verbrechen des Regimes.
Eines meiner Lieblingsbücher zum Thema, in dem dieser internationale erbiologische Diskurs im Zusammenhang mit der Intelligenzforschung und der Masseneinwanderung in die USA abgehandelt wird, ist: "From Genesis to Genocide: The Meaning of Human Nature and the Power of Behavior Control", von Stephan L. Chorover, aus den frühen 80er Jahren (MIT- press). Ich kann es nur empfehlen. Sehr gut geschrieben, anschaulich und zutiefst augenöffnend.
Ihnen nochmals vielen Dank für diesen guten Artikel
Christoph Leusch