Youtube-Nächte können sehr beglückend sein. Man sitzt vor dem Rechner, sucht Aufnahmen einer Band oder alte Filmschnipsel und vergisst darüber die Zeit. Ja, man gerät in eine Art Rausch, klickt sich durch immer mehr Videos und stößt, geleitet von einer später nicht mehr nachvollziehbaren Link-Logik, auf Sachen, von denen man noch nie gehört hat.
Auf diese Weise bin ich von Recherchen über die iranische Revolution auf den Trailer von Zum Essen braucht man Besteck gestoßen. Die Kompilation machte einen surrealen Eindruck, Bild und Ton passten offensichtlich nicht zusammen. Szenen aus dem konfliktreichen Liebes- und Eheleben eines interkulturellen Paares im Deutschland der Siebziger waren unterlegt mit einem pädagogischen Ratgeber-Text, der unfreiwillig an Loriot erinnerte: „Eine scheinbar alltägliche Situation, nicht wahr. Aber die Liebe fragt nicht nach Bestimmungen und Gesetzen. Helga hat Ali bestimmt nicht aus Mitleid geheiratet. Helga ist 23, von Beruf Datenverarbeiterin. Ali ist 25, hat Architektur studiert und kommt aus Persien. An persönliche Schwierigkeiten haben beide nicht gedacht – damals, als alles so romantisch begann. Ali und Helga durchleben alle Höhen und Tiefen einer ganz normalen Ehe. Wie so viele der über 300.000 Mischehen in Deutschland ... Ist diese Ehe von vornherein zum Scheitern verurteilt? ... Aber sind es nur die unterschiedlichen Mentalitäten? Ist ihre Liebe stark genug für alle Prüfungen?“
Angst essen Seele auf von Rainer Werner Fassbinder oder Shirins Hochzeit von Helma Sanders-Brahms kannte ich als frühe deutschsprachige Migrationsfilme. Von Zum Essen braucht man Besteck hatte ich nie gehört. Weder sagte mir sein späterer Titel Ali und Helga – Szenen einer Mischehe etwas noch der Name des Regisseurs Masud Ahmad Rajai. Auch wenn der Trailer schräg wirkte und die „Mischehe“ im Untertitel einen Beigeschmack hatte, weil der Begriff an die NS-Zeit denken ließ – sowohl die Intention, den Alltag einer deutsch-iranischen Beziehung zu schildern, als auch sein Regisseur machten neugierig.
Zumal der Film seinerzeit durchaus wahrgenommen wurde. Im Frühjahr 1974 gedreht, erlebte Zum Essen braucht man Besteck im April 1976 in der Filmbühne am Steinplatz in Berlin seine Uraufführung. Im Februar des folgenden Jahres lief der Film unzensiert – ein Novum unter dem Schah – auf einem Teheraner Filmfestival und im Forum der Berlinale. Im Juni 1978 strahlte das österreichische Fernsehen ihn aus. Die Kritik war positiv.
Rajai zu finden war nicht leicht. Es gelang mir schließlich über die Herausgeberin des Sammelbands Kabul/Teheran 1979ff., in dem ein anderer Film des Regisseurs vorkommt: Iran oder das Ende von 1001 Nacht. Beim Treffen im Billy-Wilder-Café am Potsdamer Platz erkenne ich den langen, schmalen Iraner aus Zum Essen braucht man Besteck gleich wieder. Älter freilich, und die längeren Haare sind einer kurzen Friseur gewichen. Rajais Stimme ist herzlich. Dass kaum etwas über ihn zu finden sei, erklärt sich mit seinem Rückzug aus der ersten Reihe. In den Achtzigern war Rajai als Drehbuchautor tätig, später wurde er Geschäftsführer der Produktionsfirma Cinex. Er war ausführender Produzent des Films Helden wie wir, Verleiher der Kaurismäki-Filme Honey Baby und Brasileirinho und Inhaber des Studios Schnittstelle Potsdamer Platz.
Boxkampf an der Mauer
Zum Essen braucht man Besteck hat Rajai schon lange nicht mehr angeschaut. Das Ganze sei sehr zeitbehaftet, sagt er und lacht. Mir will er aber ein paar Einzelheiten erzählen, weil ich im doppelten Sinn als Iran-Aserbaidschaner Landsmann bin: „Ich bin 1942 in Teheran geboren. Meine Eltern kamen aber ursprünglich aus Täbriz. Meine Mutter war Hausfrau. Sie konnte gut singen, aber nach der Heirat mit meinem Vater, der einer der Direktoren der iranischen Handelskammer war, trat sie aus gesellschaftlichen Gründen nicht mehr auf. Doch bei Hochzeiten von Bekannten sang sie, während ich Akkordeon spielte. Mit 15 Jahren war ich dann beim ersten Privatsender unter dem Schah im Jugendorchester.“
Anfang der Sechziger kam Rajai nach Berlin, studierte an der Fachhochschule für Foto und Optik und arbeitete beim Sender Freies Berlin. Er drehte einige Kurzfilme, einer hieß Boxkampf und sorgte 1970 für Aufregung, weil, wie der Spiegel mit gelassener Ironie vermerkte, Rajai mit polizeilicher Genehmigung an der Berliner Mauer „polemisierte“: „Ein soeben kirchlich getrautes Paar sinkt nach einem busenfreien Faustkampf in sexueller Hingabe zu Boden und animiert damit Kardinal, Nonnen und Messdiener, sich bei einer Tanzorgie ebenfalls ihrer Gewänder zu entledigen.“
Rajai hat sich sein Wissen über das Filmen autodidaktisch angeeignet. Er hat auf Reisen durch Europa musiziert und damit seinen Lebensunterhalt verdient, eine Zeit lang auch gemalt. Er schrieb Drehbücher für Fernseh- und Dokumentarspielfilme, nicht alle wurden realisiert. Anfang der Neunziger ging er für neun Monate in die USA. In Hollywood verfasste er ein Buch mit dem Titel Reisende, aus dem Traum von der Verfilmung wurde nichts.
Zum Essen braucht man Besteck war Rajais erster Spielfilm. „Anfang der Siebziger lebte ich in Berlin in der Nähe des Olivaer Platzes. Das Khan war eine meiner Stammkneipen, dort trafen sich Filmemacher und Journalisten. Darüber befand sich eine Pension, in der Fassbinder und sein damaliger Freund El Hedi ben Salem wohnten, wenn sie nach Berlin kamen. Im Khan haben wir uns kennengelernt, Bier getrunken, über Filme und Privates gesprochen. Fassbinder wusste nicht, dass ich auch Regisseur war. Als er von dem Plan erzählte, Angst essen Seele auf zu drehen, dachte ich, ich will etwas Ähnliches machen.“
In Wolf G. Rajszár-Kruse, der Kameramann, Produzent und Mitautor des Drehbuchs war, fand Rajai einen Gleichgesinnten. Der Österreicher war Initiator des Ausländerreferats im Asta der FU Berlin. „Masud und ich haben uns in der 68er-Zeit kennengelernt. Die Vorbereitungen für den Film dauerten, das Budget war klein, wir mussten das selbst aufbringen.“ Das fehlende Geld für die Fertigstellung und das Umkopieren von der 16mm-Fassung auf die 35mm-Kinoversion habe seine Mutter beigesteuert, da sie von dem Projekt überzeugt war.
In das Projekt sind naturgemäß Erfahrungen eingeflossen, die Rajai gemacht hat, ein Abbild seiner Lebenswirklichkeit ist der Filmaber nicht: „Das ist nicht der Film, den ich gelebt habe. Meine Freunde und ich lebten alternativ.“ Die Altbauwohnung mit der für die Siebziger typischen Einrichtung, in der sie gedreht haben, habe einem deutschen Produzenten gehört. „Ich habe im Gegensatz zu anderen Iranern, die als Ärzte arbeiteten, nie so bürgerlich gelebt. Ich habe nie Perserteppiche besessen und keine solche Sehnsucht nach dem Iran gehabt wie viele andere meiner Landsleute.“ Die Teppiche, die im Film zu sehen sind, mussten extra besorgt werden.
So unterscheidet sich Zum Essen braucht man Besteck von den Filmen Fassbinders und dem von Sanders-Brahms in zwei wichtigen Punkten. Nicht nur ist Rajai als Migrant und Autor einer aus der Gruppe, über die erzählt wird. Bei ihm geht es auch nicht um einen Gastarbeiter, sondern um den Akademiker Ali, den Rajai selbst mimt und der über seine Vorstellungen reflektieren kann: „Mein Traum von Europa“, sagt Ali zu Beginn des Films, „kam von den amerikanischen und europäischen Filmen: Großes Leben, keine Armut, sexuelle Freiheit, Wolkenkratzer, prachtvolle Straßen, Menschen, Maschinen, Automaten.“
Kamera in der Revolte
Rajai lächelt, als es um die Frage geht, warum Zum Essen braucht man Besteck im Iran lief. Er wurde von einer Kommission des Goethe-Instituts ausgewählt, um gemeinsam mit Arbeiten anderer Regisseure des „Jungen deutschen Films“ wie Fassbinder, Wenders oder Schlöndorff in allen Dependancen des Goethe-Instituts gezeigt zu werden. „Als ich davon erfuhr, war ich vollkommen überrascht, weil ich doch so unbekannt war. In Teheran wollten dann alle den Film sehen, als sie erfuhren, dass der Regisseur aus ihrem Land kommt. Auch weil er nur ein Mal gezeigt wurde. Ich gab ein Interview im Fernsehen. Die iranischen Zeitungen berichteten über den Film.“
In Deutschland und Österreich ging er unter. Rajai führt die damals verdrängte gesellschaftliche Relevanz des Themas an. Es habe in der Politik keine Bereitschaft gegeben, sich mit Einwanderung zu befassen. Ein anderer Grund für den Misserfolg ist die Gestaltung des Films. Die Handlung springt zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her, der Zuschauer wird herausgefordert. So „schwer“ die Thematik ist, so anstrengend und zugleich anziehend ist die Erzählweise. Man muss den Film mehrmals sehen, um zu erkennen, wie strukturiert und poetisch er ist, weil voller literarischer Anspielungen. Die langen Einstellungen, die ein Stilmerkmal des iranischen Kinos sind, stehen dafür.
Zum Essen braucht man Besteck ist kritische Bestandsaufnahme und Kunstfilm zugleich. Sein eigentliches Thema ist global: die Auswirkungen der Automatisierung auf die menschlichen Beziehungen, das fremde Nebeneinander in den Städten.
Kurz bevor wir uns trennen, erzählt Masud Rajai, dass er kurz nach der Aufführung von Zum Essen braucht man Besteck im Iran erneut dort eingereist ist. Im Herbst 1978 brachen Unruhen aus, die wenig später zum Sturz des Schahs führten. Rajai hielt die Ereignisse filmisch fest. Zurück in Deutschland, entstand aus dem Material Iran oder das Ende von 1001 Nacht – der einzige Kino-Dokumentarfilm über die iranische Revolution. Aber das ist eine andere Geschichte für eine andere Nacht.
Behrang Samsami ist freier Journalist
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