Die große Sehnsucht

Adoleszenz Vor 100 Jahren erschien der Kultklassiker „Der große Meaulnes“, ein Meisterwerk über Liebe und Freundschaft
Ausgabe 40/2013
Die große Sehnsucht

Foto: Philippe le Tellier / Paris Match via Getty

Es sollte sein einziger vollendeter Roman bleiben. 1886 als Sohn eines Lehrerehepaares geboren, fiel der französische Schriftsteller Henri Alain-Fournier als Leutnant der Reserve nur einen Monat nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs im September 1914 südlich von Verdun. Sein Debüt Der große Meaulnes avancierte schlagartig zum Kultroman einer Generation. Bis heute wird „Der große Kamerad“ (der seltenere deutsche Titel) immer noch als Meisterwerk gehandelt, taucht auf in diesen Listen der 100 Bücher, die man gelesen haben muss.

Vielleicht liegt die ungebrochene Faszination an diesem Sehnsuchtston, der einen erreicht, ohne dass man genau erklären könnte, warum: „Er kam an einem Sonntag im November 189... in unser Haus (...). Ein großer Junge von ungefähr siebzehn Jahren. Zuerst sah ich in der Abenddämmerung von ihm nur seinen in den Nacken geschobenen, bäurischen Filzhut und seinen schwarzen Kittel, zusammengehalten von einem Gürtel, wie ihn Schüler tragen.“ Gemeint ist der 17-jährige Augustin Meaulnes, der Ich-Erzähler François ist sofort von diesem fremden Jungen eingenommen. François wohnt mit seinen Eltern in einer nordfranzösischen Provinzstadt Sainte-Agathe, wo sein Vater als Lehrer arbeitet. Der geheimnisvolle Meaulnes bringt Abenteuer in François’ bisher ruhiges Leben. Meaulnes überschreitet Grenzen. Einmal verschwindet er, Tage vergehen, bis er zurück ist.

Abenteuer und Geheimnis

Der Freund hatte sich zu einem seltsamen Schloss verirrt und sich auf einer bizarren Hochzeit in die Schwester Yvonne des Bräutigams verliebt, dessen Braut wiederum in dieser Nacht verschwand. Zurück in Sainte-Agathe versucht Meulnes den Weg zum traumhaften Sehnsuchtsort zu rekonstruieren. Seine Suche gerät zur Obsession.

Mit Der große Meaulnes bereitete Alain-Fournier, der als Schriftsteller wie der Held ohne Vornamen auftrat, den Weg für den modernen, psychologischen Roman. Er erschien 1913 zuerst in Fortsetzungen in der Zeitschrift Nouvelle Revue Française und wenig später als Buch, kam dann in die engere Auswahl für den renommierten Prix Goncourt. Zweimal wurde die große Geschichte einer Freundschaft verfilmt: 1967 von Jean-Gabriel Albicocco und 2006 von Jean-Daniel Verhaeghe. Aus Anlass des 100-jährigen Erscheinens wurde die 1993 publizierte dtv-Ausgabe in der Übersetzung von Cornelia Hasting und Otfried Schulze nunmehr neu aufgelegt.

Indem François Meaulnes’ Schicksal aus der Rückschau, zugleich aber aus der Perspektive eines Kindes erzählt, nimmt Alain-Fournier den Leser mit auf eine packend schöne wie schmerzhafte Abenteuer- und Entdeckungsreise. Peu à peu zeichnet er dessen Umzug nach Paris und die Suche nach der geliebten Yvonne nach, aber auch die Beziehung zur jungen Valentine Blondeau – die, wie sich herausstellt, die Verlobte des Bräutigams gewesen ist. Dabei flicht François Briefe und Tagebucheinträge des Freundes mit ein, die Einblick in dessen unruhiges Seelenleben geben.

Der Große Meaulnes zeigt den Abschied von der Kindheit und den Übergang ins Erwachsensein intensiv, wenn man so will, mit französischer Poesie. Man hat das Gefühl, dabei zu sein. Als würde man riechen, schmecken und fühlen, was beschrieben wird. Ein Sog entsteht durch den Wechsel zwischen Wirklichkeit, Traum und Vision. Alain-Fournier verwischt die Grenzen und rekurriert damit auf die Kindheit, in der Welt und Ich eine Einheit bilden, in der keine Zeit existiert, dafür aber der Glaube an Wunder.

Schicksalhafte Begegnung

Alain-Fournier sollte selbst einmal Lehrer werden wie sein Vater und wie Francois` Vater im Roman. Die Liebesgeschichte basiert auf einer weiteren Parallele, einer Schicksalsbegegnung: 1905 begegnet der 19-jährige Alain-Fournier in Paris der ein Jahr älteren Yvonne de Quiévrecourt. Die Begegnung sollte sein Leben für immer verändern. Alain-Fournier träumte von einem Wiedersehen mit Yvonne, die kurze Zeit darauf aus Paris wegzieht. Später wird er von ihrer Heirat erfahren, den zwei Kindern, und zeitlebens von seinem Wunsch erfüllt bleiben, doch noch mit ihr zusammen zu kommen.

Die Briefe, die Alain-Fournier damals an seinen Schwager und Freund, den Schriftsteller Jacques Rivière, schrieb, geben einen Eindruck davon, wie sehr er von dem „grausamen Verlangen nach Reinheit“ beherrscht wurde, die die Figur der Yvonne für ihn symbolisierte. Ihre Begegnung schien für ihn ein mystisches Erlebnis gewesen zu sein, das ein Tor zu einer höheren Welt öffnete. Die unerhörte Liebe geriet von da an zum Antrieb seines Schreibens: „Ich möchte das Geheimnis der unbekannten Welt zum Ausdruck bringen, die ich ersehne. Und da die Welt aus alten Erinnerungen, aus alten unbewussten Eindrücken besteht, so möchte ich das Geheimnis der besonderen Eindrücke wiedergeben, die mir die Welt hinterlässt.“

Die Gegend, in der Alain-Fournier seine Kindheit verbracht hatte, war eine ähnliche spirituelle Erfahrung gewesen – „das Land meiner Träume, das Land, aus dem ich verbannt bin“. Sein Roman will die Suche nach der „reinen“ Frau mit der nach dem „verlorenen Land“ verknüpfen. Der große Meaulnes ist deshalb mehr als eine Geschichte über Freundschaft und mehr als eine Abenteuergeschichte und nicht nur ein Liebesroman: „Ich suche“, schreibt er Rivière, „unter den Augenblicken jene aus, die von der Gnade gezeichnet sind. Ich suche den Schlüssel zu den Aufbrüchen ins ersehnte Land – und vielleicht ist es letzten Endes der Tod.“

Dem Schriftsteller ist es nach Erscheinen seines Debüts nicht mehr gegeben, lange zu suchen. Seinem Alter Ego Meaulnes gelingt es zwar, Yvonne ausfindig zu machen, doch entpuppt er selbst sich als „grausamer Engel“, wie Alain-Fournier mal über seinen Romanhelden urteilte. Für den Abenteurer gilt, was Alain-Fournier über sich an seine Mutter schreibt: „Ich werde niemals diese Starre kennen, diese Beruhigung, diesen Schlummer im Hause des Glücks.“

Der große Meaulnes, Henri Alain-Fournier, Cornelia Hasting, Otfried Schulze (Übers.), dtv München 2013, 256 S., 9,90 €

Behrang Samsami ist freier Journalist

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Behrang Samsami

Wissenschaftlicher Mitarbeiter #Bundestag | freier Journalist | promovierter Germanist | #Iran

Behrang Samsami

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