Juni 1990, ein sonniger Samstagnachmittag. Mein Opa mütterlicherseits ist zu Besuch aus dem Iran, mein Vater und ich sind eben mit ihm in Berlin angekommen. Die Mauer ist seit mehr als einem halben Jahr offen. Bevor die Regierung de Maizière die DDR abwickelt, wollen wir das Symbol der Teilung noch einmal selbst sehen und ein Stück mitnehmen.
Vorher steht noch die City West auf unserem Programm. Wir steuern auf die Gedächtniskirche zu. Auf dem Breitscheidplatz dann eine Überraschung: Wir stoßen auf eine Gruppe von Männern, die fröhlich feiert, aber sonderbar angezogen ist. Ein Mann mit kurzen Haaren trägt ein Brautkleid, andere haben weiße, schwarze oder violettfarbene Netzhemden an, dazu Frauenschuhe mit hohen Absätzen. Wir sehen Perücken und geschminkte Gesichter. Die Männer lachen und bespritzen einander mit Sekt. Einige küssen sich, andere sitzen erschöpft um den Brunnen herum.
Ham-Jens-Baz
„Was sind das für Leute, Hüseyin Agha?“, fragt mein Opa und schaut erstaunt zu meinem Vater: „Ja also, das sind ham-jens-baz, Homosexuelle, die ein Fest feiern, Hadsch’ Agha.“ Opa schaut sich die Gruppe wieder an, während mein Vater, nachdem er die Erlaubnis erhalten hat, zur Erinnerung Fotos macht. Nach einiger Zeit wendet sich mein Großvater erneut an meinen Vater: „Hüseyin Agha, diese Leute hier“, er macht eine Pause, „sind diejenigen in diesem Land, die die Demokratie bewahren.“
An diese Szene, als wir zufällig auf den Christopher-Street-Day in West-Berlin trafen, vor allem aber an den Ausspruch meines Großvaters, eines Kaufmanns aus einer Stadt im Nordwesten des Iran, der Westdeutschland seit den 1970er Jahren durch Besuche kannte, habe ich in den vergangenen Wochen immer wieder gedacht. Denn er straft jene Lügen, die sagen: Homosexualität und Muslime – das geht gar nicht. Eine Ansicht, die derzeit rechte Gruppierungen wie AfD und Pegida, aber auch einige selbsternannte Islamexperten äußern. Sie reproduzieren Klischees: hier das aufgeklärte und tolerante Abendland, dort der rückständige und brutale Orient.
Wie wenig der religiöse Hintergrund eine Rolle für die Einstellung von Menschen spielen kann, zeigt eine Studie des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) von 2013. Geschlechterrollen bei Deutschen und Zuwanderern christlicher und muslimischer Religionszugehörigkeit lautet ihr Titel. Und die Befragungen unter den mehr als 3.000 Personen, unter anderem aus Italien, Polen, dem Nahen Osten und Nordafrika, fördern Erstaunliches zutage. Die Resultate machen deutlich, dass Haltungen, die man gern „modern“ und „liberal“ nennt, nicht ein Monopol von Europäern beziehungsweise Christen sind.
Drei Beispiele: Über drei Viertel der Iraner gaben an, dass Religion in ihrem Alltag „eher unwichtig“ bis „gar nicht wichtig“ sei. Frauen sollen sich stärker um die Familie und den Haushalt als um ihre Karriere kümmern und nicht ohne ihren Partner abends alleine ausgehen – Fragen zu diesen beiden Aussagen ergaben auf einem „Liberalitätsindex“, dass deutsch- und iranischstämmige Personen mit 88 beziehungsweise 84 Prozent am aufgeschlossensten seien, was Karriereorientierung und Unabhängigkeit von Frauen betrifft. Ein ähnliches Bild entstand nach Aussagen etwa über die faire Aufteilung der Hausarbeit zwischen Mann und Frau, einen höheren Anteil von Frauen in Führungspositionen und eine gleich gute berufliche Ausbildung von Jungen und Mädchen: Auf dem „Egalitätsindex“ erreichten Deutsche ohne Migrationsgeschichte mit 95 und iranischstämmige Personen mit 91 Prozent die höchsten Werte. Bei Menschen, die ursprünglich aus Südasien (Afghanistan, Pakistan, Bangladesch) stammen, waren es knapp 88 Prozent, bei solchen aus Nordafrika (Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten) 86 Prozent.
Genug der Zahlen, werden wir konkret: Ich selbst stamme aus einer liberalen iranischen Familie, die wie andere in den vergangenen Jahrzehnten nach Deutschland migriert ist. Wir führen hier ein Leben wie andere auch – arbeiten, zahlen Steuern und Rundfunkbeiträge, machen Urlaub. AfD und Pegida mag überraschen, dass tatsächlich auch unter Migranten Pluralität herrscht. Es gibt Migranten, die konservativ und gläubig sind, genauso wie solche, die säkular eingestellt sind und ihren Glauben kaum oder gar nicht praktizieren.
Wenn man über Migranten spricht, reicht es daher nicht, nur ihre Religionszugehörigkeit zu nennen, um sich ein Urteil zu bilden, ob sie „demokratiefähig“ sind. Die Fähigkeit, andere als gleichwertig und gleichberechtigt anzuerkennen, auch wenn man ihre Lebensweise nicht teilt, ist ungleich wichtiger.
Die Berufstätigkeit von Mann und Frau, Arbeitsteilung in Haushalt und Erziehung sowie Respekt vor Andersdenkenden – ich habe das zu Hause nicht anders gelernt. Es war selbstverständlich. Ein gutes Beispiel für die alltägliche gelebte Toleranz liefert auch das Fernsehprogramm. Anfang der 1990er Jahre, als per Kabel auch ausländische Sender empfangbar wurden, schauten sich meine Eltern zunehmend den türkischen Staatssender TRT International an. Zum Hintergrund: Meine Familie gehört zu den über 35 Millionen Iranern, deren Muttersprache Aserbaidschanisch ist, was wiederum mit dem Türkischen verwandt ist.
In der Bauchtanzgruppe
Als Kind saß ich dabei, wenn TRT Int lief, und sah einen kleinen Herrn namens Mustafa Yolaşan. Mit sauber gezogenem Seitenscheitel und schwarzem Schnurrbart, in groß geschnittenen Sakkos moderierte er Unterhaltungssendungen, in denen viel gesprochen und – zumindest für mich – stets ähnliche, arabesk klingende Lieder gesungen wurden. Das schick angezogene Publikum saß da und klatschte Sänger und Orchester zu. Moderator und Gäste waren sehr zuvorkommend und höflich.
Da ich nicht alles verstand, wurde es gelegentlich langweilig. Was mich jedoch aufmerken ließ, war ein häufiger Gast, der auffiel. Er trug glitzernde Anzüge und goldene Ringe, hatte blondiertes Haar und ein gepudertes Gesicht. Ein älterer, rundlicher Mann, der durchdringend in die Kamera schaute und seine Finger grazil durch die Luft bewegte, während seine Stimme weich und geschmeidig klang. Dieser Künstler wurde mit großem Respekt behandelt. Sein Name: Zeki Müren – einer der populärsten Komponisten und Sänger der Türkei.
Sein Counterpart hieß Bülent Ersoy, eine Sängerin, die im Fernsehen ebenfalls ständig präsent war und wegen ihrer Divenhaftigkeit auffiel. 1981 hatte sie in London eine geschlechtsangleichende Operation vornehmen lassen, ihren männlichen Vornamen aber behalten. Nach dem Militärputsch unter General Kenan Evren im Jahr zuvor erhielt Ersoy wegen ihrer oppositionellen Haltung Auftrittsverbot und ging nach Deutschland. 1988 kehrte sie zurück in ihre Heimat, nachdem sie dort offiziell als Frau anerkannt worden war, und konnte ihre alten Erfolge sogar übertrumpfen.
Auch in den Kanälen der Auslandsiraner sah ich vor allem Männer, die „anders“ waren. Anfang der 90er erfreute sich der feminin wirkende Sänger Jalal Hemati großer Beliebtheit. Ein Album von ihm, auf dem er traditionelle persische Lieder als Popsongs interpretiert hatte, wurde oft auf Feiern gespielt. Populär unter den iranischen Frauen war auch der in Los Angeles lebende Mohammad Khordadian, wegen seiner persischen und arabischen Tänze, die sehr fließend und weiblich waren. 2006 outete er sich in einer TV-Sendung als homosexuell.
Eventuell von ihm inspiriert, ging auch in Hamburg ein Iraner auf Sendung: Einmal pro Woche für eine Stunde sah man einen kleinen, dürren Mann im damals noch existierenden Offenen Kanal der Hansestadt mit einer Gruppe von Frauen Bauchtänze aufführen.
Ich erinnere mich nicht, dass jemand aus unserem Bekanntenkreis je abfällig über diese Künstler gesprochen hätte. Sie wurden akzeptiert, wie sie waren – ohne dass man darüber sprach. Ein Gespräch ist mir in Erinnerung, das ich als Kind mit meinem Vater über Zeki Müren geführt habe:
„Warum hat der Mann blonde Haare?“
„Er hat sie gefärbt.“
„Warum?“
„Er ist ein Sänger.“
„Ja, aber andere türkische Männer singen auch, ohne sich die Haare zu färben.“
„Dieser ist ein besonderer Künstler.“
„Er wirkt wie eine Frau.“
„Er ist ein Mann, aber ein sehr feiner, sensibler.“
„Muss man sich dann wie eine Frau benehmen?“
„Mein Sohn, Künstler sind besondere Wesen. Die sind halt anders.“
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