Wer sich für den vielfältigen Austausch zwischen Orient und Okzident interessierte, war bisher auf Texte westlicher Händler, Forscher und Diplomaten beschränkt. Der umgekehrte Blick war – mit wenigen Ausnahmen – kaum vorhanden. Von Aleppo nach Paris trägt den Blick schon im Titel. Der Reisebericht hat einen ungewöhnlichen Erzähler: Hanna Diyāb, einen aus einer Händlerfamilie in Aleppo stammenden Christen, der den Leser sogleich in die Mittelmeerwelt zu Beginn des 18. Jahrhunderts entführt. 1707 lernt der damals 20-Jährige Paul Lucas kennen. Der Franzose reist im Auftrag Ludwigs XIV., um alte Chroniken und Münzen aufzuspüren. Für die arabischen Gebiete sucht er einen Dolmetscher, den er in Diyāb findet, der neben Arabisch und Türkisch auch Französisch spricht. Sein Lohn: mit nach Paris reisen, vom Sonnenkönig entlohnt werden und in der Bibliothek der arabischen Bücher Arbeit finden.
Die Reise durch den Mittelmeerraum ist reich an Abenteuern. Das Außerordentliche an Diyābs Reisebericht ist indes, dass er den mediterranen Handel um 1700 als einen melting pot vor Augen führt: An die libysche Küste reisen beide mit einem französischen Schiff, das ägyptische Stoffe an Bord hat und Pilger, die aus Mekka zurückkehren. Andere Episoden lassen an aktuelle Debatten denken:
In Livorno soll Diyāb die Frau eines christlichen Landsmannes überzeugen, den Schleier abzunehmen, wie es im „Christenland“ Sitte sei. Als sie ablehnt, schreibt Diyāb, habe er begriffen, „dass sich die Frauen bei uns nicht so verhalten können, sie wurden dazu erzogen, im Verborgenen zu bleiben“.
Der Höhepunkt ist die Reise nach Versailles. Diyāb wird Ludwig XIV. samt zwei Wüstenspringmäusen vorgeführt. Er bleibt einige Zeit in Paris und lernt Antoine Galland, den Übersetzer von 1001 Nacht, kennen, erzählt diesem unbekannte Geschichten wie die von Aladin und der Wunderlampe und trägt so zur Vervollständigung der Übersetzung bei. Diyāb durchstreift Paris wie ein Reporter, begeistert sich für die Oper, Hospitäler, Straßenlampen. Mit Entsetzen sieht er, wie Henker Verurteilten öffentlich die Gliedmaßen brechen.
Der 1764 in Arabisch niedergeschriebene, nun erstmals auf Deutsch zu lesende Bericht ist wie ein Füllhorn an selbst erlebten und durch Hörensagen erfahrenen Abenteuern, die derart lustvoll erzählt werden, dass man den Eindruck hat, Diyāb persönlich zuzuhören. Eine Grand Tour in umgekehrter Richtung, das reinste Lesevergnügen.
Info
Von Aleppo nach Paris Hanna Diyāb Gennaro Ghirardelli (Übers.), Die Andere Bibliothek 2016, 492 S., 42 €
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