„Mein Lehrer wollte, dass ich auf die Hauptschule gehe. Erst durch das Einschreiten meines deutschen Nachbarn konnte ich aufs Gymnasium.“ Dieser Satz stammt von Uğur Şahin – und wir alle können nur froh sein, dass sich sein deutscher Nachbar erfolgreich gegen den Lehrer durchgesetzt hat. Şahin ist in diesem Jahr weltweit bekannt geworden. 1965 in der Türkei geboren und seit seinem vierten Lebensjahr in Deutschland, wo sein Vater in den Ford-Werken arbeitete, ist er Mediziner und Mitbegründer des Mainzer Unternehmens Biontech. Er gilt als einer der führenden Impfstoffentwickler gegen Covid-19.
Geschichten wie die von Uğur Şahin, dass es ein Kind oder Jugendlicher mit Migrationsgeschichte oft nur mit Glück schafft, seine Potenziale zu entfalten, gibt es viele in Deutschland. An seinem Beispiel sieht man allerdings besonders deutlich, welchen Einfluss Lehrerinnen und Lehrer hierzulande auf die schulische Entwicklung und damit das gesamte Leben von Kindern nehmen können. Hätte sich Şahins Lehrer durchgesetzt, hätte jener wahrscheinlich nicht das Abitur machen, nicht Medizin studieren und nicht ein erfolgreicher Forscher und Unternehmer werden können.
Die Gründe, weshalb Lehrerinnen und Lehrer hierzulande Schülerinnen und Schülern mit Migrationsgeschichte – und zwar primär solchen aus „bildungsfernen“ Familien – in der Regel nicht empfehlen, auf das Gymnasium zu gehen, sind vielfältig. Die Journalistin Melisa Erkurt hat das in ihrem Buch Generation Haram. Warum Schule lernen muss, allen eine Stimme zu geben (Wien 2020) eindrücklich geschildert. In den 1990er-Jahren ist sie als Kind aus Bosnien nach Österreich gekommen und hat sehr eigene Schulerfahrungen machen müssen. Zwischenzeitlich hat sie aus Überzeugung, mit Begeisterung und mit beeindruckendem Erfolg selbst als Lehrerin an einer Wiener Schule mit über 80 Prozent Migrationsanteil gearbeitet. Die eigene Exklusion konnte sie dabei in eine inklusive Schulpraxis verwandeln, die von Empathie, Nähe, Respekt, Ermutigung und Selbstbewusstsein gekennzeichnet war.
Lehrerinnen und Lehrer, die aus der Mehrheitsbevölkerung stammen, kennen die Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern mit Migrationsgeschichte in der Regel nicht. Sie können sich daher auch nicht wirklich in die Situation von Eltern und Kindern aus Einwandererfamilien einfühlen. Das Lehramtsstudium ist auch nicht ausreichend darauf ausgerichtet, den Horizont angehender Pädagoginnen und Pädagogen in dieser Hinsicht zu erweitern. Vorurteile und Klischees über „die anderen“ kommen hinzu und beeinflussen – bewusst oder unbewusst – die Lehrerinnen und Lehrer im Unterricht. Das zeigt sich auch in der unterschiedlichen Wahrnehmung von Mehrsprachigkeit: Bei Türkisch und Arabisch ist Mehrsprachigkeit für viele eher negativ besetzt, bei Englisch und Französisch dagegen eher positiv.
Glück und guter Glaube reichen nicht
Auf der anderen Seite gibt es (bildungsferne) Einwandererfamilien, in denen nicht unbedingt viel Deutsch gesprochen wird. Die Eltern müssen teilweise viel arbeiten, kennen das hiesige Bildungssystem mit seinen Möglichkeiten kaum oder gar nicht und können daher ihren Kindern nur wenig bei den Schularbeiten helfen oder sich adäquat für sie einsetzen, wenn es darum geht, die richtige Schulform für ihr Kind auszuwählen.
Was bleibt, ist die Hoffnung auf Glück und guter Glaube daran, dass die hiesigen Lehrerinnen und Lehrer schon die Fähigkeiten der Kinder richtig erkennen und die geeignete Schulform empfehlen werden. Glück und guter Glaube sollten allerdings ganz und gar nicht die Kriterien sein, nach denen sich das Leben von Menschen allein entscheiden sollte – und das im wohlhabenden Mitteleuropa.
Wenn Bildung Menschenrecht ist, sollte das hiesige Schulsystem die Vielfalt in der Gesellschaft endlich als eine Aufforderung betrachten, um jeder und jedem die gleiche Chance zu bieten. So sieht es auch das Grundgesetz, Artikel 3, vor, wenn es dort heißt, dass niemand wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Sprache, Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen oder seiner Behinderung benachteiligt werden dürfe.
Was heißt das? Wir brauchen mehr Lehrerinnen und Lehrer, die Migrationsgeschichte haben. Wir brauchen ein Lehramtsstudium, das den Seminar-Charakter hinter sich lässt und die kommenden Pädagoginnen und Pädagogen auf die soziale Wirklichkeit, die in der Schule herrscht, vorbereitet. Wir brauchen mehr Schulsozialarbeit – derart, dass Schulassistentinnen und Schulassistenten (auch und gerade mit Migrationsgeschichte) neben Kindern mit Behinderung auch Kinder mit Migrationsgeschichte verstärkt unterstützen – im Unterricht, bei den Hausaufgaben, aber auch als interkulturelle Vermittler bei Problemen mit anderen Kindern oder Lehrern oder als Vermittler zwischen Eltern und Schule. Alle Schülerinnen und Schüler sollen wissen, dass sie dazugehören, dass sie gleichwertig und gleichberechtigt sind. Das würde in der Folge übrigens auch viele andere Probleme nicht entstehen lassen – etwa, dass Jugendliche, die sich nicht gesehen und gehört fühlen, abdriften und (Selbst-)Bestätigung in radikalen politischen oder religiösen Ideologien suchen. Schulsozialarbeit als Prävention.
Schule muss allen eine Stimme geben
Mehr Ausbildung, mehr Schulsozialarbeit, mehr Prävention – das alles wird viel Geld kosten. Aber wollen wir der Polarisierung in der hiesigen Gesellschaft entgegenwirken, müssen wir die Schule neu definieren: Nicht mehr als vorrangige Institution nur der Schichten und Milieus, deren Kinder sicher verankert sind in Elternhäusern mit dem nötigen Geld, dem Statusbewusstsein und der Bildungsnähe, die schon die Soziologie der 50er Jahre des vergangenen Jahrhunderts dazu veranlasste, Schule als „Mittelschichten-Institution“ zu identifizieren. Auch wenn es zum Glück den weit verbreiteten Anspruch gibt, dass soziale Distanz und Exklusion 70 Jahre später in einer modernen Schule keinen Platz haben sollten, müssen wir feststellen: Bildungsarmut und sozialer Ausschluss sind immer noch vorhanden. Schule ist immer noch nicht gemeinsame Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen aus allen Schichten und Lebenszusammenhängen.
Wir brauchen angesichts von zunehmender Bildungsspaltung entlang der Bruchlinien von Armut und Migration und deren Verfestigung dringend eine neue pädagogische Diskussion und Bewegung hin zu einer Schule, die nicht desintegriert, sondern Verschiedenheit und Vielfalt im gemeinsamen Leben und Lernen positiv aufnimmt und gezielt als Stärke entwickelt. Schule soll Menschen in unserer Gesellschaft zusammenbringen und zum Zusammenhalt beitragen. Schule kann und muss sich bewusst und gezielt der sozialen Wirklichkeit zuwenden, gezieltes und unzensiertes Interesse für die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen und ihrer Familien haben und diese engagiert zum Auftrag und Gegenstand von Schulleben machen. Wenn es früher hieß, nicht für die Schule, sondern für das Leben zu lernen, so muss es jetzt heißen, das Leben in die Schule zu holen und in der Schule mit dem eigenen Leben und dem Leben von anderen zu lernen. Die Mission von Melisa Erkurt ist hier Programm, wenn sie fordert, dass Schule allen eine Stimme geben muss – auch und nicht zuletzt den bisherigen Verliererinnen und Verlierern unseres Bildungssystems, damit aus dem Bildungsland als Phrase ein Hoffnungsland im Konkreten wird.
Ernst Dieter Rossmann ist SPD-Bundestagsabgeordneter und Vorsitzender des Ausschusses für Bildung und Forschung
Behrang Samsami ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag und freier Journalist
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