Mein Blut gefriert. „Scheißausländer“, flüstert Bjarne* mir gerade ins Ohr. Bjarne, der mindestens schon eine Ehrenrunde gedreht hat, einen Kopf größer und zwei Jahre älter ist, sitzt seit der dritten Klasse neben mir. Ich gehöre zu den drei, vier nichtdeutschen Kindern der Klasse, habe auch deutsche Freunde, das kann Bjarne aber nicht ertragen. Er jagt einen Jungen und mich über den Schulhof, zwingt uns vor Mitschülern, Schnee zu essen, und streut Chili in unsere Augen. Einmal stellt er uns in einem kleinen Raum zwischen Wand und geöffnete Tür und rammt einen Einkaufswagen, der dort steht, so lange gegen die Tür, bis durch die Wucht mein Herz so klopft, dass ich Todesangst bekomme. Die Anrufe bei Bjarnes Eltern verhallen. So versuchen wir Gejagten uns selbst zu helfen. Wir kommen erst nach Schulbeginn in die Klasse und müssen dafür nachsitzen. Der Klassenlehrer sieht nicht, was vorgeht, er hilft uns nicht, im Gegenteil, er bestraft uns zusätzlich. Als ich mich weg von Bjarne setze, alleine an einen Tisch, rechts von der Tafel, fragt der Klassenlehrer nur, ob ich mir das gut überlegt hätte.
* Name geändert
Diese Erlebnisse fielen mir ein, als ich 2016 Revue passieren ließ. Die Anschläge auf Geflüchtete, die Wahlerfolge der AfD und der Vorstoß der Jungen Union, Kinder von Einwanderern wieder vor die Wahl zwischen zwei Pässen zu stellen, macht wütend: Wann wollen wir auch Menschen nichtdeutscher Herkunft die Vorteile der Globalisierung zugestehen? Wann diese „Weltenwanderer“ als normal ansehen? Wann wird der Begriff „germanopolitan“, den der Migrationsforscher Mark Terkessidis für die Literatur (Freitag 11/2016) ins Spiel gebracht hat, für die Gesellschaft gelten?
Sehnsucht nach Heimat
„Fühlst du dich deutsch oder iranisch?“, fragt die weißhaarige Ärztin den Grundschüler auf dem Gesundheitsamt. Verblüfft antworte ich, dass Letzteres der Fall sei. Meine Eltern und ich sind 1986, erst einige wenige Jahre zuvor, aus Iranisch-Aserbaidschan eingereist. War etwas „deutsch“ an mir? Mein Leben fand zu Hause statt. In der Schule sprach und schrieb ich zwar auf Deutsch, aber irgendwie fühlte sich das wie ein fremdes Kostüm an. Und da war dieser Bjarne. Jeder Zweite hätte ein Bjarne sein können, ich lebte in Habachtstellung. Draußen ging ich nie entspannt. Die Haustür wurde zur Demarkationslinie. Später, auf dem Gymnasium, tat ich meinen neuen Mitschülern anfangs Unrecht, teils traute ich mich nicht, teils hatte ich keine Kraft, sie in mein „anderes“ Leben einzuführen.
Würden wir nicht auch bald in den Iran zurückkehren? Ich dachte oft an meine frühe Kindheit zurück, als trotz Iran-Irak-Krieg das Leben für mich sorgenfrei gewesen war. Tatsächlich gingen einige Iraner zurück. Aus Heimweh oder Enttäuschung. Andere zogen in die USA oder nach Kanada. Die Idee von der Rückkehr reifte in mir, auch weil sie zu Hause nicht thematisiert wurde. Meine Eltern hatten genug damit zu tun, ihr eigenes Leben in der neuen Umgebung zu organisieren. Dabei führte meine Familie nicht erst in der Bundesrepublik ein Leben in und zwischen den Kulturen. Denn der Iran ist ein Vielvölkerstaat. Es leben neben Persern noch andere Ethnien im Land, 40 Prozent der Bevölkerung sind Aserbaidschaner. So sprachen wir daheim Aserbaidschanisch, das mit dem Türkischen verwandt ist. Wenn wir persische Bekannte trafen, wechselte man ins Farsi, die Amtssprache im Iran. Anfang der 1990er kam das Türkische noch hinzu, weil wir TRT International über Kabel empfingen. Mich belastete das ständige Switchen zwischen Deutsch, Aserbaidschanisch, Persisch und Türkisch. Stets herrschte das Gefühl vor, mehr zwischen als in diesen Kulturen zu leben.
Dann geschah Unerwartetes, wie eine Wegweisung: Ich war fast 15 Jahre alt, als mein Blick in einem Kiosk auf dem Cover eines Kulturmagazins haften blieb: Gleißendes Licht fiel auf die prachtvolle Kuppel einer großen Moschee. Darunter sah man die steinerne Terrasse eines Palastes. Links darauf einige dünne hölzerne Säulen, die Schatten warfen. Begrenzt wurde die Terrasse durch ein Geländer. Ein Mann in Mantel und mit Mütze ging darauf zu und schaute in Richtung Moschee. Thema der Ausgabe: „Iran. Drei Wege nach Isfahan“.
Diese Kuppel im gleißenden Licht sprach etwas in mir an. Ich blätterte im Magazin: ein schüchtern lächelndes Brautpaar, das eben einem Auto entstiegen ist; ältere, bärtige Männer, die sich geißeln; eine in Trauer und Verzweiflung aufgelöste Gesellschaft am Grab eines Soldaten; ein Müller, dessen Gesicht vom Mahlen weiß bestaubt ist. Vor mir breitete sich das Leben in diesem Vielvölkerstaat aus – und je länger ich das Magazin in Händen hielt, desto kostbarer erschien es, wurde ich hier doch quasi von außen auf mein Herkunftsland gestoßen.
Der Zauber nach dem Clash
Wer waren diese Menschen, die dort abgebildet waren? Warum blickten sie traurig? Was hatten wir gemeinsam? Ich kaufte das Magazin und fing dann an, Bücher zu lesen, Filme zu sehen und meine Eltern zu fragen. Je mehr ich über die Geschichte Irans und die Mentalität seiner Völker erfuhr, desto besser – wenn auch langsam – gelang es mir, eigene, nichtdeutsche Verhaltensweisen einzuordnen und ihnen den Makel des Fremden zu nehmen. Gleichzeitig riss ich mich aus dem Dämmerzustand. Ich wollte den Iran kennenlernen.
Mit 25 war es so weit, kurz nachdem ich begonnen hatte, über Orientreisen und -berichte deutschsprachiger Autoren zu promovieren. Mein Blick war allerdings ein gebrochener. Ich war ein Tourist und ein Heimkehrer. So sog ich alles auf, was mein Vater und ich in Iranisch-Aserbaidschan erlebten. Emotional war es wie eine Achterbahnfahrt: Es fanden tränenreiche Wiedersehen mit Verwandten statt. Andere Angehörige verhielten sich so, als wären nur wenige Wochen seit dem Abschied vor vielen Jahren vergangen. Besuche bei Gräbern von Vorfahren sowie in den Straßen und bei Häusern, in denen wir einst gelebt hatten, lösten Erinnerungen und Trauer aus.
Iranische Moderne
Wie arbeiten Künstler, Musiker, Autoren im Iran? Bis April 2017 geben iranische und deutsche Künstlerinnen und Kulturschaffende im Rahmen des Kulturprogramms Die iranische Moderne in Vorträgen, Lesungen und Konzerten Einblicke in ihren Alltag. Die nächste Veranstaltung findet am 27. Januar in der Berliner Akademie der Künste statt. Das Künstlerpaar Ramin Etemadi-Bozorg und Esha Sadr sowie die Kulturwissenschaftlerin Narges Hashempour sprechen dort dann über die Arbeit von iranischen Künstlern in der Heimat und im Exil.
Persische, arabische und afrikanische Traditionen: Am 28. Januar tritt die Band Kamakan im silent green auf, einem früheren Krematorium mit Kuppelbau in Berlin-Wedding. Mehr Informationen unter goethe.de/de/uun/ver/teh.html
Bei Verwandten väterlicherseits entdeckte ich Familienfotos, die von den 1870ern bis in die 1930er reichten. Fotos von kämpferisch blickenden Männern in langen, kostbaren Gewändern, die sie als mächtige und wohlhabende Landadlige auswiesen. Andere Aufnahmen zeigten jüngere Herren mit gütigen Gesichtern in vor dem Ersten Weltkrieg modischen westlichen Anzügen und mit einheimischen Lammfellmützen, die unter Birken picknickten, Wasserpfeife rauchten und musizierten.
Unvergesslich ist mir der spontane Besuch bei einer Tante. Wir bogen in die schmale Gasse, in der sich ihre Wohnung befand, und klingelten. Eine Nachbarin draußen erkannte meinen Vater, nannte ihn beim Namen. Dann erzählte sie mir Kindheitsgeschichten aus dieser Gasse. Haben wir, fragte ich mich später, zwei Existenzen – eine bewusste in Deutschland, eine unsichtbare im Iran? Die Iran-Reise machte mir klar, dass das mir von früher Bekannte gleichsam inselhaft von Fremdem umgeben war. Meist ältere Menschen wie Großvater und Tanten, aber auch Speisen und Gerüche, die ich als Kind kennengelernt hatte, standen jüngeren Verwandten gegenüber, die mit uns Gästen wenig anfangen konnten. Die Städte hatten sich verändert. Ich kannte mich nicht aus, ich fiel äußerlich, durch Kleidung und Sprache, als Besucher auf. Ich gestand mir ein, wie sehr ich meine Kindheitseindrücke quasi in einer Zeitkapsel eingefroren hatte, wie fragmentiert und idealisiert sie waren. Nach dem „Clash“ mit dem frisch Erlebten konnte nicht viel von ihrem alten Zauber übrigbleiben. In der Grundschulzeit, so verstand ich jetzt ihre einstige Berechtigung, hatten sie mir aber immer Schutz vor Bjarne geboten.
So ernüchternd alles auch war – es half, mich Schritt für Schritt von der fast zwanghaften Illusion zu befreien, eines Tages in den Iran der Kindheitsjahre zurückzukehren. Mir gelang es, den Blick auf die Gegenwart und mein Leben in Deutschland zu richten. Seitdem ist es mir möglich, die tägliche Herausforderung durch das Sprach- und Kulturhopping als produktives, lustvolles Spiel zu betrachten, mich selbst als einen „Kreuzweg der Welten“ anzunehmen und selbstbewusst ein „germanopolitanes“ Leben zu führen.
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