Hikikomori

Literatur Der Schweizer 5/7-Misanthrop Andreas Niedermann notiert in "Von Viktor zu Hartmann" Gedanken und Einfälle nach dem täglichen Training im Fitnessstudio.

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Wer die Bücher von Andreas Niedermann kennt, wird beim Lesen seines neuesten nicht überrascht sein. Das ist schön, denn der Autor bleibt seinem unverwechselbarem Kampfstil treu: Kein Schattenboxen, dafür jede Menge Haken und Seitenhiebe, insbesondere auf seine unmittelbaren Nachbarn im 4. Wiener Bezirk. Oft geht es ums Boxen und ums Schreiben an sich, und wer genau hinhört, begreift schnell die Konnexion zwischen beiden Disziplinen in Niedermanns Kosmos.

Doch anders als in den meisten anderen seiner Bücher, lässt der Autor hier den Leser gefährlich nahe an sich heran. Das könnte manchem wehtun, denn Niedermann polemisiert, poltert und geifert noch kompromissloser als sonst; man spürt seine Frustration und auch den Hass auf die Wiener Ignoranz und den kleingeistigen, braunen Sumpf, der sie umspült: „Warum mampfen sie nicht noch einen ’Mohr im Hemd’, saufen noch a Achterl zum Frühstück oder schießen sich eine Kugel in den Kopf?“

Von Viktor zu Hartmann ist kein Roman. Es gibt nicht die eine Geschichte. Es sind viele. Die Gedanken und Einfälle eines Schriftstellers nach seinem täglichen Training im Fitnessstudio oder auf dem Weg dorthin; tagebuchartig, lässig, pointiert.

Und klar, es sind vor allem Schmähtexte, und so etwas kann einem nach ein paar Seiten auch auf den Sack gehen. Hier allerdings nicht, denn Niedermann ist kein Hassprediger. Da ist immer wieder der Selbstzweifel und eine subtile, aber spürbare Selbstironie. Und das Beste: Es ist stellenweise verdammt witzig: „Zwei Minuten später lese ich, dass der Schauspieler Bruno Ganz ganz fürchterliche Angst vor dem Tod hat. Das wiederum finde ich gut.“

An anderen Stellen beschreibt der Autor Begegnungen mit den Menschen im Viertel und auch Selbstbeobachtungen sehr feinsinnig, trotz oder gerade wegen jener unverblümten Schnoddrigkeit: „Der Grant verwandelt mich in einen Hikikomori, in einen Menschen, der sich in sein Zimmer einschließt, um der Menschheit zu entgehen. So einer bin ich. Ich mag die Japaner (…) Sie haben die schönsten Worte für schlimme Zustände. Hikikomori ist so eins.“

Letzten Endes zeigt Niedermanns Von Viktor zu Hartmann, denke ich, dass Misanthropen die wahren Menschenfreunde sind. Wer Empathie empfindet, muss verzweifeln… oder es mit Humor nehmen, sich selbst eigeschlossen. Das ist gut zu lesen.

Andreas Niedermann: „Von Viktor zu Hartmann, Wege - Hanteln - Worte“, erschienen im Songdog Verlag, Wien, 104 Seiten, 14 Euro


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Geschrieben von

Benedikt Maria Kramer

(*1979) arbeitet als Autor in Augsburg. 2016 erschien im Songdog-Verlag sein Gedichtband "Glücklichsein ist was für Anfänger".

Benedikt Maria Kramer

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