Rückschlag für den Neuanfang

Frankreich Ein Auftragsmord an drei kurdischen Aktivistinnen in Paris soll offenbar eine Annäherung zwischen der PKK und der türkischen Regierung torpedieren

Die Nachricht hat die kurdische Community überall in Europa, schockiert: In der Nacht auf den 10. Januar wurden in der französischen Hauptstadt die drei kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Șöylemez ermordet. Man fand die mit Kopfschüssen getöteten Frauen im kurdischen Kulturzentrum an der Rue Lafayette. Alles deutet auf einen Auftragsmord hin, der bis ins Detail geplant war. Das Gebäude kann nicht ohne Weiteres betreten werden. Am Tatort erklärte denn auch Innenminister Manuel Valls: „Ohne Zweifel wurden die drei Frauen exekutiert. Die französischen Behörden werden versuchen, so schnell wie möglich Licht in dieses Dunkel zu bringen“. Hunderte Kurden skandierten: „Wir sind alle PKK! Türkei Mörderin – Komplize Hollande!“

Das Verhältnis zwischen dem französischen Staat und der kurdischen Bevölkerungsgruppe in Paris hat schon bessere Zeiten erlebt. Seit Präsident François Hollande regiert, sind Razzien und Festnahmen, die als Anti-Terrorkampf legitimiert werden, an der Tagesordnung. Offenbar aber haben sie auch etwas mit den Wünschen der Regierung von Premier Tayyip Erdoğan in Ankara zu tun. Für dessen Sprecher Hüseyin Çelik sind die Schüsse in der Rue Lafayette ein Indiz für „PKK-interne Konflikte“, was die türkischen Medien gern übernehmen. Çelik aber verschweigt dabei, dass der türkische Geheimdienst MIT in den vergangenen Jahren oft hinter derartigen Verbrechen stand. Und dafür Kurden als Täter rekrutierte.

Dafür empfahl sich unter anderem die Gruppe Hizbullahî Kurdî, eine vom türkischen Staat tolerierte islamistische Zelle, die dezidiert linke Aktivisten der Kurden-Bewegung angreift. Hizbullahî-Anhänger warten im westlichen Exil auf gegen sie zu Hause anberaumte Gerichtsverfahren, sind aber dabei nicht untätig. Überdies hat Erdoğans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) in letzter Zeit für Gnadengesuche von Hizbullahî-Tätern ein offenes Ohr. Als der türkisch-kurdische Konflikt Mitte der neunziger Jahre eskalierte, verübte die Gruppe Hunderte von Morden, die von der türkischen Justiz als „aktive Terrorbekämpfung“ eingestuft und nicht verfolgt wurden.

Der Anschlag im X. Pariser Arrondissement trifft mit Sakine Cansız eine Mitbegründerin der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) und mit Fidan Doğan die Gesandte des KCK, des zivilen Arms der PKK. 2013 beginnt, wie das Jahr 2012 zu Ende ging, in der Gewissheit nämlich, dass sich der Konflikt zwischen der PKK und dem türkischen Staat nicht eindämmen lässt und immer neue Opfer fordert. Etwa tausend türkische Soldaten, kurdische Kämpfer und Zivilisten sind im Vorjahr bei Attentaten und Feuergefechten gestorben.

Doch da die Armee bei der „Aufstandsbekämpfung“ versagt hat und die kurdische Nationalbewegung im Irak und in Syrien neues Terrain hinzugewinnen konnte, wurde die Regierung Erdoğan zu einem Umdenken gezwungen. Wie sonst lässt es sich deuten, dass der Geheimdienst plötzlich mit Abdullah Öcalan verhandelt, dem inhaftierten PKK-Vorsitzenden, der seit 14 Jahren auf der Insel Imralı in Isolationshaft sitzt, aber Integrationsfigur einer kurdischen Autonomie geblieben ist?

Ende November bewirkte ein Aufruf Öcalans, dass Hunderte von kurdischen Gefangenen in türkischen Haftanstalten ihren Hungerstreik beendeten. Danach gab es am 23. Dezember auf Imralı ein vierstündiges Gespräch mit einem Geheimdienstoffizier. Wie es heißt, soll Öcalan aufständische PKK-Milizen dazu auffordern, eine Waffenruhe auszuhandeln. Und ausgerechnet in einem solchen Augenblick der Annäherung werden drei kurdische Frauen im Exil umgebracht.

Dass es im türkischen Militär, aber ebenso unter AKP-Politikern ein schwankendes Interesse an einer gelösten „kurdischen Frage“ gibt, belegen öffentliche Aussagen – bis hin zum Regierungschef. Erst im Dezember hatte Premier Tayyip Erdoğan den Kurden mitgeteilt: „Entweder entscheidet ihr euch, wie Menschen in dieser Nation zu leben, oder ihr sucht euch ein anderes Land, in dem ihr leben könnt. Oder aber ihr versteckt euch weiterhin in euren Höhlen. Aber seid gewiss, dass wir euch selbst dort finden werden.“

Natürlich gibt es auch in der PKK-Führung, deren Refugium im irakischen Kandil-Gebirge liegt, Skepsis und Unbehagen angesichts der Kontakte Öcalans mit dem türkischen Staat. Die tödlichen Schüsse an der Seine können – und sollen vermutlich auch – eine sich abzeichnende Verständigung zwischen Türken und Kurden torpedieren. Das heißt, unter diesen Umständen ist es nicht sicher, dass die Täter gefasst und Hintergründe aufgedeckt werden, obwohl Sakine Cansız als PKK-Aktivistin von der französischen Polizei überwacht wurde.

Benjamin Hiller schrieb zuletzt über selbstverwaltete Städte in Nordsyrien

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