Agrarpolitik im 20. Jahrhundert

NS-Aufarbeitung Eine Studie beleuchtet Kontinuitäten des Bundeslandwirtschaftsministeriums zu dessen Vorgängern in der Weimarer Republik, dem Nationalsozialismus und der DDR

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Reichsbauernführer R. Walther Darré
Reichsbauernführer R. Walther Darré

Bild: Bundesarchiv/Wikemida (CC 3.0)

Fast 60 Jahre seit der Befreiung vom Nationalsozialismus mussten vergehen, bis – ausgehend vom Streit um einen Nachruf des Auswärtigen Amtes im Jahre 2003 und der daraus erwachsenden Debatte über die NS-Vergangenheit vormaliger Mitarbeiter*innen von Bundesministerien – , eine systematische Aufarbeitung in Gang gesetzt wurde.

Inzwischen liegen neben der 2010 erschienenen Studie über das Auswärtige Amt weitere Untersuchungen vor: für das Bundesministerium der Justiz und die NS-Zeit (2016), das Reichsarbeitsministerium im Nationalsozialismus (2017), die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus (2018) sowie eine auch die NS-Vergangenheit aufgreifende vierbändige Darstellung der Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917-1990 (2016) vor.

Beim Verlag Walter de Gruyter erschien nun, herausgegeben von Horst Müller, Joachim Bitterlich, Gustavo Corni, Friedrich Kießling, Daniela Münkel und Ulrich Schlie, die Untersuchung „Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und seine Vorgänger“.

Nachvollziehbar lassen die Historiker*innen unter der Leitung des langjährigen Direktors des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Horst Möller, ihre Betrachtungen mit dem Ersten Weltkrieg beginnen und 1990 enden. Der Fokus auf das „kurze 20. Jahrhundert“, wie es begrifflich durch Eric Hobsbawm populär gemacht wurde, spiegelt das Erkenntnisinteresse von Kontinuität und Wandel in der deutschen Agrarpolitik vom Ende des Kaiserreichs bis zur Wiedervereinigung in Folge der Friedlichen Revolution in der DDR wider.

Die Komplexität und Fülle sowohl an zu betrachtenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ereignissen als auch handelnden Akteuren bzw. Institutionen –, da neben den jeweiligen Landwirtschaftsministerien sowohl ihnen nachgeordnete Behörden, Forschungseinrichtungen und weitere staatliche Einrichtungen bzw. gesellschaftliche Player wie Verbände und Parteien einzubeziehen waren – ist enorm. Dem trug die Kommission durch die Untergliederung in sechs chronologische bzw. das Landwirtschaftsministerium der DDR und das Bundeslandwirtschaftsministerium getrennt betrachtende Teile Rechnung:

- Gustavo Corni und Francesco Frizzera verantworten den ersten Teil „Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende der Weimarer Republik“,

- Ulrich Schlie Teil zwei „Das Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft in der Zeit des Nationalsozialismus“,

- Horst Möller und Eberhard Kuhrt den dritten Teil „Landwirtschaftspolitik unter alliierter Besatzung 1945-1949“,

- Friedrich Kießling Teil vier „Landwirtschaftsministerium und Agrarpolitik in der alten Bundesrepublik“,

- Daniela Münkel und Ronny Heidenreich den fünften Teil „Das DDR-Landwirtschaftsministerium – Politik und Personal“ sowie

- Joachim Bitterlich mit Simon Reiser den sechsten Teil „Sechzig Jahre Europäisierung der Agrarpolitik, Interessen, Konflikte, Weichenstellungen. Eine historisch-politische Betrachtung“.

Trotz des Bemühens der Historiker*innen, über die gesamte Studie hinweg die verbindende Klammer der Institutionengeschichte des Bundesministeriums und der ihm im 20. Jahrhundert vorausgehenden Institutionen deutlich werden zu lassen, hätte sich unter dem Gesichtspunkt der Leser*innenfreundlichkeit eine Unterteilung der letztlich mehr als 815 Seiten umfassenden und über zwei Kilogramm schweren Publikation in zwei Bände mit den jeweils rund 100 bis 150 Seiten umfassenden Teilen 1 bis 3 und 4 bis 6 angeboten.

Die Untersuchung, erläutert Horst Möller in der Einleitung, „[…] reduziert die Frage nach den Kontinuitäten nicht auf den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus, sondern weitet sie auf das 20. Jahrhundert seit dem Ersten Weltkrieg aus. Nur so sind längerfristige Kontinuitäten, aber auch mentale und administrative Traditionsbildungen in den Ministerien erfassbar und innovative Schübe historisch einzuordnen, nur so ist das Verhältnis zwischen politischer Leitung und Ministerialverwaltung prinzipiell zu erfassen. […] Nur in der langfristigen Analyse wird das Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Geschichte klar, handelt es sich doch stets um ein Mischungsverhältnis.“ (S. 2f.)

Die vom damaligen Landwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) eingesetzte Kommission repräsentiert durch ihre Arbeit selbst den Bruch mit zu lange gepflegter ministerieller Kontinuität. Denn sie verneint bereits einleitend die Konstruktion einer „Stunde Null“, die – wie Friedrich Kießling in der Schlussbetrachtung des von ihm verantworteten Teils, unter dem Titel „Belastungstoleranz und Traditionsverhalten“ ausführt, – noch bis in die 1970er Jahre vom Bundesministerium vertreten wurde. Angesichts dessen erscheint es unverständlich warum neben dem sicherlich berechtigten Dank für den uneingeschränkten Aktenzugang dieser Kommission es der bereits genannten Schlussbetrachtung von Kießling nach immerhin mehr als 500 Seiten Untersuchungsbericht vorbehalten bleibt, daran zu erinnern, dass die Arbeit von Historiker*innen zu Kontinuitäten und Brüchen im Traditionsverständnis des Landwirtschaftsministeriums auch in jüngerer Zeit keineswegs komplikationslos verlief.

Der Historiker Andreas Dornheim (ebenfalls Mitglied der Unabhängigen Kommission aber aufgrund einer längeren und inzwischen überwundenen Erkrankung an der Mitarbeit am Kommissionsbericht gehindert) war bereits 15 Jahre vor Erscheinen der nun vorliegenden Studie durch die damalige Bundesministerin Renate Künast (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) mit zwei Gutachten beauftragt worden. Und zwar eine Untersuchung über Personalkontinuitäten nach 1945, um auf dieser Basis Kriterien zur Bewertung der Ehrwürdigkeit von ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des BML/BMVEL im Hinblick auf die Zeit des Nationalsozialismus zu entwickeln und zudem ein Sachverständigengutachten zu „Rolle und Inhalt der Agrarpolitik und Agrarforschung von Vorgängerinstitutionen des Bundesministeriums“.

Dornheim wurden jedoch für die Erstellung des Personalgutachtens „nur Auszüge aus den Personalakten zur Verfügung gestellt. Der volle Zugang blieb verwehrt, zudem beschränkte sich die Auswahl der analysierten Personen auf einen vom Ministerium definierten Kreis. Darüber hinaus wurde das Gutachten trotz verschiedentlicher, im Bundestag wie in der Öffentlichkeit geäußerter Kritik an diesem Vorgehen vom Ministerium wegen Datenschutzbedenken bzw. aufgrund von Bedenken, die sich aus dem Personalaktengeheimnis ergaben, zunächst nicht veröffentlicht.“ (S. 507) Erst nach einem Bundesverwaltungsgerichtsurteil aus dem Jahre 2017, also ein Jahr nach Beginn der Tätigkeit der Historiker*innenkommission, musste das Ministerium Einblick in die personenbezogenen Informationen des damaligen Gutachtens gewähren, soweit die betreffenden Bediensteten bereits verstorben waren.

Diese Widersprüche in der Erinnerungskultur – einerseits die nun bald zwei Dekaden andauernde Aufarbeitung der Geschichte der Bundesministerien und andererseits die Hürden und auch Grenzen der Transparenz von Forschungsergebnissen – an prominenterer Stelle zu erörtern, statt sie in den Tiefen der Untersuchung zu verstecken, hätte der Einführung in die Studie nicht nur zum Vorteil gereicht, sondern unnötige Fragen nach den Beweggründen vermieden.

Demgegenüber ist die Studie insbesondere für diejenigen Leser*innen, die sich bislang nicht ausführlicher mit der Frage befasst haben, wie die Frage der „NS-Belastung“ in den Zeitläuften und vergleichend in der Bundesrepublik bzw. der DDR ermittelt und bewertet wurden ebenso von Interesse wie die Ausführungen zum methodischen Herangehen der Historiker*innenkommission selbst. Sie kommt im Ergebnis ihrer Arbeit zu der Feststellung, dass „trotz brauner Belastungen bei einigen Spitzenbeamten […] nicht die Rede davon sein [kann], dass im BMEL eine auch nur annähernd nationalsozialistische Agrarpolitik gemacht worden wäre. Mit anderen Worten: Die Inhalte und Ziele der Politik des BMEL passen sich zwar zum Teil in langfristige Problemlagen und Kontinuitäten deutscher Agrarpolitik ein. Doch insgesamt haben diese ehemaligen Parteimitglieder keine NS-Politik betrieben, sondern die Politik eines demokratischen Staates und einer Gesellschaft, deren überwältigende Mehrheit sich nach den Diktatur- und Kriegserfahrungen vom Nationalsozialismus abgewandt und demokratischen Parteien zugewandt hat“ (722), wie Horst Möller in den Schlussbemerkungen festhält.

Dass – wie Möller suggeriert – im Diskurs über die personellen Kontinuitäten NS-belasteter Personen in den politischen Schaltstellen der beiden deutschen Nachkriegsstaaten vorrangig die Annahme vertreten wird, Personen wie Kanzleramtschef Hans Globke oder der knapp 48 Stunden zwischen Ernennung und aufgrund seiner in Westdeutschland publizierten Belastung als Mitglied der Waffen-SS entlassene DDR-Landwirtschaftsminister Karl-Heinz Bartsch, hätten NS-Politik betrieben, überrascht und darf begründet bezweifelt werden.

Stand doch Mittelpunkt der Auseinandersetzung über Kontinuitäten vielmehr die Ernsthaftigkeit der individuellen und institutionellen Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Nationalsozialismus und dem Anteil an persönlicher und kollektiver Schuld an diesen durch die Beamtinnen und Beamten der deutschen Ministerien. Kritisiert wurde, dass diese dadurch in Frage gestellt wird, indem in unterschiedlichem Maße NS-belastete Personen entweder ungehindert oder nach relativ kurzer Unterbrechung ihre berufliche Tätigkeit im Staatsdienst der Bundesrepublik fortsetzen konnten, während wiederum zahlreiche Opfer des Nationalsozialismus an der beruflichen und gesellschaftlichen Integration gehindert waren. Oder die NS-Aufarbeitung durch belastete Personen im Staatsdienst sogar behindert wurde, wofür die Arbeit des hessischen Staatsanwalts Fritz Bauer das wohl eindrücklichste Beispiel darstellt. Es hätte unter diesem Gesichtspunkt möglicherweise der kommentierenden Einordnung der Erkenntnisse und Schlussfolgerungen von Friedrich Kießling durch Kommissionschef Möller nicht bedurft. Sie stehen vielmehr für sich und bilden einen der bemerkenswertesten Bestandteile der vorliegenden Studie.

Die komprimierte Darstellung der Agrarpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den ersten beiden Teilen der Untersuchung ermöglicht nicht nur einen exzellenten Einblick in die Vorgeschichte, Hintergründe und Auswirkungen nationalsozialistischer Agrarpolitik, sondern auch die jeweils zugrundeliegenden ökonomischen, soziostrukturellen und gesellschaftlichen Interdependenzen.

Gustavo Corni und Francesco Frizzera stellen im ersten Teil der Untersuchung die Tätigkeit des Ernährungs- und Agrarministeriums bzw. dessen Vorgängerinstitution im Ersten Weltkrieg und der Weimarer Republik dar. Ihnen gelingt es sowohl die Bedeutung der Ernährungsfrage, die aufgrund der Kriegsfolgen, der Abhängigkeit Deutschlands vom Weltmarkt und in Folge der Wirtschafts- und Finanzkrisen hochvirulent war als auch die Bedeutung der Krise in der Landwirtschaft der späten 1920er und frühen 1930er Jahre für den Aufstieg der Nationalsozialisten deutlich zu machen. Insbesondere die Fähigkeit der Nationalsozialisten, trotz eines lange Zeit fehlenden Agrarprogramms innerhalb kurzer Zeit unter Führung von R. Walther Darré zur vorherrschenden Kraft auf dem Lande zu werden und selbst in die resistenteren katholischen Landwirtschaftsstrukturen einzudringen, leuchtet die Phase der Präsidialregierungen Brüning und von Papen in bisher nicht im Vordergrund stehender Weise aus. Die Ausführungen sind bemerkenswert im Hinblick auf die auch heute spürbare Radikalisierung bürgerlich-konservativer und religiös geprägter ländlicher Milieus in einer Phase anhaltender ökonomischer Verunsicherung bis hin zur begründeten Existenzangst und entsprechend drastischer Erwartungen an staatlichen Protektionismus zum Schutz heimischer Strukturen, unabhängig von ihrer betrieblichen Effektivität.

Anknüpfend an diese Darlegungen stellt Ulrich Schlie im zweiten Teil die Agrarpolitik im Nationalsozialismus dar. Die detailreichen und extrem dichten Ausführungen geben der Leserin und dem Leser einen intensiven Einblick sowohl in die Führungsstruktur des Reichsernährungsministeriums als auch dessen Eingebundenheit in die Kriegs- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus. Zu den Stärken dieser Darstellung gehört, dass es Schlie gelingt, ausgehend von der Tätigkeit des Reichsministers und Reichsbauernführers Darré und dessen Staatssekretär Backe, der ihn später als Minister ablösen und das Ministerium bis zur vollständigen Kapitulation führen sollte, die Beziehungen zweier überzeugter Nationalsozialisten untereinander und in der Interaktion mit den Mächtigen im NS-Staat, insbesondere Himmler und Goebbels, darzulegen. So entsteht ein doppelt gewirkter Faden, der die Leserin und den Leser sowohl durch die unterschiedlichen Phasen des NS-Staates von der Machtergreifung über die Kriegsvorbereitungen, territorialen Erweiterungen vor und während des Zweiten Weltkrieges bis zur Kapitulation leitet, als auch wesentliche Ereignisse der Einbindung bzw. Untersetzung der NS-Verbrechen durch das Reichsernährungsministerium erläutert. Hierzu gehören insbesondere der sogenannte Generalplan Ost als Teil der NS-Siedlungspolitik, die wissenschaftliche und administrative Untersetzung von Zwangsarbeit und Arisierungen.

Wenngleich die sehr detaillierte und vielfach auf Tagebücher und autobiographische Lebensberichte der handelnden NS-Politiker gestützte Darstellung durch Schlie von großem Interesse ist, führt sie letztlich dazu, dass das Ministerium als Apparat hinter den beiden Protagonisten Darré und Backe sowie einer Handvoll weiterer ausgewählter temporär oder langfristig im Reichsernährungsministerium Tätiger fast verschwindet. Stellt man freilich in Rechnung, dass aufgrund der hochideologischen Verankerung insbesondere Darrés im NS-Staat großer Wert auf nationalsozialistische Betätigung der Beschäftigten in der NSDAP oder der SS gelegt wurde und selbst eine exzellent mit dem Apparat vernetzte Führungskraft wie Staatssekretär und später Minister Backe nur einen Bruchteil der Ministeriumsarbeit gestalten konnte, während der verbleibende Teil durch die Organisationseinheiten und das darin tätige Führungspersonal umgesetzt wurde und keineswegs nur unpolitisch-fachlich war, hätte man sich eine ausgewogenere Darstellung gewünscht.

Als gewichtiger Nachteil stellt sich insbesondere in diesem Teil der publizierten Untersuchungsergebnisse der weitgehende Verzicht auf graphische Unterstützungen wie Schautafeln, Tabellen oder Organigramme heraus, mittels derer die Leserin und der Leser beim Verständnis der Darstellung unterstützt würden. Gerade weil für die Tätigkeit Darrés als Reichsernährungsminister die Personalunion mit der Funktion des Reichsbauernführers prägend war, die vormalige Selbstverwaltung der Landwirte als Körperschaft in den Staatsapparat integriert wurde und weil die Durchdringung des Staatsapparates mit dem Parteiapparat in Verbindung mit einer Vielzahl von wechselnden Behörden zu den spezifischen Merkmalen der Agrarpolitik im NS-Staat gehörte, ist es vielfach nur unter erheblichen Mühen möglich, die Ausführungen vollständig zu erfassen und zu verarbeiten.

Die wenigen im Anhang abgedruckten Organigramme und Schaubilder, von denen einige als Abdruck von Archiv-Originalen schwer oder gar nicht lesbar sind, können diesen gewichtigen Mangel nicht beheben. Sie verstärken eher den Eindruck, dass die Publizierung der Kommissionsergebnisse eine Pflichtaufgabe war aber nicht unter dem Gesichtspunkt der didaktischen Vermittlung auch für einen breiteren Kreis von Leserinnen und Lesern erfolgte.

Auch wenn Daniela Münkel und Ronny Heidenreich in ihrer Betrachtung des DDR-Landwirtschaftsministeriums ebenfalls auf graphische Unterstützungen verzichten, so zeichnet sich die gewählte Darstellungsform im Vergleich zum vorstehenden Abschnitt von Ulrich Schlie dadurch aus, dass anhand von Fallbeispielen, wie dem bereits benannten Kurzzeitminister Bartsch, das Ministerium selbst in seiner Tätigkeit und seiner über die Dekaden wechselnden Zusammensetzung aber auch politische Strategien im SED-Staat sichtbar werden. Die Leserinnen und Leser erhalten auf diese Weise Einblick in die von Pragmatismus geprägte Personalpolitik des DDR-Landwirtschaftsministeriums aufgrund bis in die 1960er vielfach nicht ausreichend vorhandenen Agrar- und insbesondere Veterinärmedizinfachkräfte sowie den dadurch geprägten Umstand, dass „im Gegensatz zum Ministerium, dessen Mitarbeiter eine meist nur formelle Belastung aufwiesen, der Anteil auch materiell belasteter Agrarexperten im Forschungsbereich deutlich höher lag. Entscheidend beim Umgang mit den Agrarwissenschaftlern war aber auch hier weniger ihre politische Vergangenheit als vielmehr die Bereitschaft, ihre Forschung in den Dienst der Partei zu stellen“ (S. 620).

Ebenso von Interesse ist die Darstellung der Ambivalenz der SED im Umgang mit der von ihr selbst initiierten Demokratischen Bauernpartei Deutschlands, welche nach der Friedlichen Revolution in der CDU aufgehen sollte. Münkel und Heidenreich erläutern als ein „Spezifikum des Landwirtschaftsministeriums […] das Ziel, den instrumentellen Einfluss der Blockpartei DBD, der im ersten Nachkriegsjahrzehnt im Hinblick auf die Akzeptanz des SED-Staates und seiner Agrarpolitik unter den Bauern gebraucht wurde, zugunsten der SED endgültig zu beseitigen“ (S. 639).

Dass sich die Frage nach inhaltlicher Kontinuität in der Agrarpolitik zwischen NS-Staat und der Bundesrepublik Deutschland nicht wirklich stellt, erklärt sich bereits aus dem Umstand, dass infolge technologischer Veränderungen bereits in den 1950er Jahren die Ernährungskrise und Mangelwirtschaft, deren Bewältigung für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wesentliche Aufgabe des Reichsernährungsministeriums darstellte, überwunden und stattdessen Überproduktionsfolgen zu bewältigen waren. Joachim Bitterlich und Simon Reiser gelingt insoweit eine lesenswerte Darstellung einer Agrarpolitik, die durch einen hohen Grad an europäischer Vernetzung geprägt ist und der es nicht nur möglich war, den dauerhaften Strukturwandel im Agrarsektor zu begleiten, sondern auch die deutsche Wiedervereinigung einschließlich der Integration der mittel- und osteuropäischen EU-Staaten mit ihren jeweiligen Agrarstrukturen in den europäischen Binnenmarkt zu bewältigen.

Wer sich – rückblickend auf das erste Kapitel der Untersuchung – die Relevanz der Agrarpolitik für den Aufstieg der Nationalsozialisten und die Bemühungen um Protektionismus und nationale Autarkie der Landwirtschaft vor Augen hält, kann ungefähr ermessen, welche Bedeutung die Europäische Union als konfliktzivilisierende Institution hatte und bis heute hat. Bei allen Strukturproblemen, die eine Umsetzung der seit Jahren auf dem Tisch liegenden Reformkonzepte für die EU-Institutionen unabweisbar erscheinen lässt. Diese Ebene freilich gehörte nicht zum Auftrag der Historiker*innenkommission, sondern umfasst die Agrarpolitik des 21. Jahrhunderts. Für das vergangene Millenium hat die Möller-Kommission einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der deutschen Agrarpolitik im 20. Jahrhundert vorgelegt. Zu wünschen bleibt, dass bei einer möglichen zweiten Auflage durch eine grundlegende Überarbeitung der Präsentation die Benutzerfreundlichkeit für Leserinnen und Leser auch jenseits eines Fachakademiker*innen-Publikums erhöht wird

Horst Möller u.a. (Hrsg.): „Agrarpolitik im 20. Jahrhundert. Das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft und seine Vorgänger“ (de Gruyter Verlag Berlin 2020. 815 S., 39.95 Euro)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden