Thüringer CDU auf Tea Party-Kurs?

Demokratie Der politische Diskurs in Thüringen wird seit geraumer Zeit auch davon geprägt, dass die Thüringer CDU - eingeklemmt zwischen der Linken und der AfD - auf einen demokratische Institutionen de-legitimierenden Kurs eingeschwenkt ist.

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Vor fünf Jahren publizierte die Deutsche Verlagsanstalt (DVA) die Studie "Wie Demokratien sterben und was wir dagegen tun können" von Steven Levitsky und Daniel Ziblatt. Die beiden Harvard-Professoren legten in der Untersuchung dar, dass - anders als in früheren Jahren - nicht mehr das Modell des prompten Zusammenbruchs einer demokratischen Ordnung, z.B. durch einen Putsch, die größte Gefahr darstelle, sondern vielmehr die Erosion der Demokratie, die so unmerklich geschehe, dass viele sie nicht wahrnähmen.

Dabei gibt es, wie Levitsky/Ziblatt darstellen, einige Merkmale, anhand derer diese demokratische Erosion erkenn- und nachweisbar ist. Dazu gehört die Infragestellung der Legitimität oder auch die Attackierung der „Schiedsrichter“- also der demokratischen Institutionen einerseits und der Wächter über die Funktionsfähigkeit des Rechtsstaates, wie Gesetzeshüter, Nachrichtendienste, Ethikkommissionen oder Gerichte andererseits. Weitere Merkmale sind die Neutralisierung der „Schlüsselspieler“ wie Medien oder andere Parteien und das Umschreiben bisher geltender Regeln. Im Mittelpunkt der Analyse der beiden Autoren standen die Vereinigten Staaten, in denen seinerzeit Donald Trump regierte.

Die Beschreibungen des Niedergangs der US-Demokratie, in die sich das Buch einreihte, füllen inzwischen ganze Bibliotheken. Und eine Vielzahl von Autor:innen ist sich darin einig, dass diese Entwicklung keineswegs erst unter dem Rechtspopulisten Trump begann, sondern eine lange Vorgeschichte hat.

Unter Druck gerieten die US-amerikanischen gewaltenkontrollierenden Institutionen und Verfahren, weil ihre Wirkungsweise nicht nur von den politischen Mehrheitsverhältnissen abhängt, sondern dafür "auch das Selbstverständnis der Mitglieder von Repräsentantenhaus und Senat eine entscheidende Rolle" spielt, wie Kilian Lüders und Wolfgang Merkel 2019 in einem Beitrag für das Magazin des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung Berlin bemerkten. Sie führten weiter aus: "So wurde in der Vergangenheit die legislative Gewaltenkontrolle meistens dann konstruktiv verwirklicht, wenn der Kongress parteiübergreifend zusammenarbeitete, [...]. Seit geraumer Zeit ist jedoch eine verhärtete parteipolitische Konfrontation zu beobachten. [...] Die unversöhnliche Konfrontation, in der sich Republikaner und Demokraten befinden, spiegelt sich mittlerweile auch in den Einstellungen der Bürger wider."

Die demokratische Erosion ist folglich kein unaufhaltbares Naturgesetz. Im Gegenteil - auch diese Entwicklung ist menschgemacht, weshalb die Parteien, davon sind Levitsky/Ziblatt überzeugt, zur Festigkeit der Demokratie beitragen können, indem sie den parteiübergreifenden Konsens suchen. „Wir brauchen nicht Koalitionen von Gleichgesinnten, sondern Koalitionen von politischen Gegnern“ lautet das Fazit, das zugleich Appell ist.

In diesem Sinne sind die ersten fünf Absätze dieses Beitrags keine Ouvertüre eines an Mario Voigt, den Fraktions- und Landesvorsitzenden der Thüringer CDU, gerichteten Vorwurfs, er sei quasi der Donald Trump Thüringens, sondern vielmehr ein besorgter Blick auf eine seit dem Verlust der Regierungsmacht im Jahre 2014 aus dem Tritt geratene christdemokratische Landespartei, die seither um ihr Selbstverständnis ebenso ringt, wie um den wirksamsten Weg zurück in die Staatskanzlei. Hierfür scheint sie sich - eingeklemmt zwischen der in Thüringen starken "catch all"-Ramelow-Linken einerseits und der rechtsextremen Höcke-AfD andererseits - u.a. des kulturkämpferischen Strategiekastens der von der Tea Party-Bewegung geprägten US-Republikaner zu bedienen. Dieses Herangehen nach dem Muster "Der Zweck heiligt die Mittel" mag möglicherweise parteitaktisch mittel- und langfristig erfolgreich sein, doch mit Blick u.a. auf die USA zu einem um ein Vielfaches höheren Preis, nämlich demjenigen der demokratischen Kultur insgesamt, die einem pluralen und liberalen politischen System erst seine Stabilität verleiht.

Ideologischer Kampf gegen die Nutzung der Windenergie

Das Thema Windenergie treibt, wie Ulrike Nimz in einem SZ-Kommentar formulierte, bei naturnah lebenden Eigenheimbesitzenden verlässlich den Puls nach oben. Mit einem kompromisslosen Kampf gegen die Windenergie erhofft sich die Thüringer CDU wenigstens Wahrnehmbarkeit jenseits der AfD, die seit jeher den menschgemachten Klimawandel leugnet und sich verlässlich an die Seite aller stellt, die auch in Thüringen die Energiewende zu verhindern suchen.

Noch während der Laufzeit des sogenannten Stabilitätspaktes, also jener lagerübergreifenden Vereinbarung zwischen der rot-rot-grünen Minderheitskoalition und der CDU-Fraktion, mit der nach dem Kemmerich-Debakel sowohl eine Neuwahl des Thüringer Landtages eingeleitet als auch die Sicherung verlässlicher politischer Verhältnisse gewährleistet werden sollte, drückte die CDU-Fraktion als Gegenleistung für die Zustimmung zum Landeshaushalt das generelle Verbot von Windkraftanlagen auf Waldflächen durch. Diese gesetzliche Regelung stieß auf erbitterten Widerstand der klassischerweise zum originären CDU-Milieu zählenden privaten Waldbesitzenden. Angesichts extrem volatiler Holzpreise einerseits und andererseits aufgrund von Borkenkäferplage, Dürre und früheren Naturereignissen wie z.B. den Sturm Kyrill, zu verzeichnenden nicht unerheblichen Brachflächen sahen sie durch den von der CDU initiierten staatlichen Eingriff in die Verfügung über das private Waldvermögen ihre wirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten geschmälert.

Ein solches generelles Windkraft-Verbot sei verfassungswidrig, urteilte das Bundesverfassungsgericht (Beschl. v. 27.09.2022, Az. 1 BvR 2661/21) zwei Jahre später. Und gab damit den privaten Waldbesitzenden Recht, die Verfassungsbeschwerde eingelegt hatten. Die Regelung greife in das von Art. 14 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) geschützte Eigentumsrecht der Beschwerdeführenden ein. Dieser Eingriff sei nicht gerechtfertigt, weil das Gesetz formell verfassungswidrig sei. Da der Bund von seiner Gesetzgebungskompetenz abschließend Gebrauch gemacht habe, stehe dem Land für eine solche Regelung die Gesetzgebungskompetenz nicht zu.

Darüber hinaus spreche gegen die Regelung zudem, dass der Windkraft-Ausbau "einen faktisch unverzichtbaren Beitrag" zu der verfassungsrechtlich durch Art. 20a GG und durch grundrechtliche Schutzpflichten gebotenen Begrenzung des Klimawandels leiste. "Um das verfassungsrechtlich maßgebliche Klimaschutzziel zu wahren, die Erderwärmung bei deutlich unter 2,0 °C, möglichst 1,5 °C anzuhalten, müssen erhebliche weitere Anstrengungen der Treibhausgasreduktion unternommen werden, wozu insbesondere der Ausbau der Windkraftnutzung beitragen soll", urteilte der 1. Senat in Karlsruhe.

Die CDU-Fraktion focht dies jedoch nicht an. Im Sommer 2022 legte sie einen Gesetzentwurf vor, der einen gesetzlichen Mindestabstand von 1 km zwischen Windkraftanlagen und Wohnbebauung vorsah und für dessen Verabschiedung sie sich bereits die Zustimmungsbereitschaft der AfD und der FDP gesichert hatte. Nach wochenlangen Verhandlungen zwischen rot-rot-grün und der CDU wurde ein Kompromiss vereinbart, demzufolge das Infrastrukturministerium von Susanna Karawanskij (DIE LINKE) künftig einen geringeren Abstand als 1000 Meter vorschreiben darf, sofern der Freistaat die Anforderungen des Bundes zur Ausweisung von Flächen unterschreitet. Thüringen muss bis 2032 2,2 Prozent seiner Fläche für Windkraft zur Verfügung stellen - aktuell liegt der Anteil bei 0,4 Prozent. Auf Druck von rot-rot-grün sollen Kommunen und Bürger:innen außerdem an Windkraft-Erlösen beteiligt werden.

Die Thüringer Union, die sich stets als eine in den Kommunen verankerte Partei verstand, und die Grünen notorisch als "Verbotspartei" tituliert, agiert in Fragen der Windkraft als hyperideologisierte "Party of NO!" - unabhängig von den Interessen ihrer eigenen Milieus, aber auch gegen den sonst vertretenen Grundsatz der kommunalen Selbstverantwortung. Denn während rot-rot-grün bereits bei der Diskussion um das Verbot von Windkraft im Wald den Vorschlag unterbreitet hatte, dass mögliche Verbotsregelungen stets dort überwunden werden sollten, wo sich beispielsweise Kommunen durch Mehrheitsentscheid für Windkraft entscheiden, blieb die CDU bei ihrem - letztlich verfassungswidrigen - Verbotsdogma.

Mit AfD und FDP gegen vermeintlichen Gender-"Irrsinn"

Im November 2022 inszenierte die CDU-Fraktion öffentlichkeitswirksam die Einbringung des Antrags "Gendern? Nein Danke! Regeln der
deutschen Sprache einhalten – keine politisch motivierte Verfremdung der Sprache!", dem Aufmerksamkeit schon deshalb gewiss war, weil AfD und FDP unverzüglich ihre Bereitschaft zur Zustimmung und damit Mehrheitsfindung erklärten, da auch die vier zunächst fraktionslosen Abgeordneten (drei vormals AfD, eine vormals FDP), die sich seinerzeit in der parlamentarischen Gruppe "Bürger für Thüringen" zusammengefunden hatten und nach mehrwöchiger Episode inzwischen wieder als fraktionslose Einzelabgeordnete wirken, Zustimmung signalisierten.

Die für die AfD-Fraktion in der Plenardebatte sprechende Abgeordnete Herold nutzte die Gelegenheit, dem CDU-Vertreter Zippel genüßlich unter die Nase zu reiben, dass etwas mehr als ein Jahr zuvor derselbe Redner in der Debatte um einen AfD-Antrag zum Gender-Thema "zu Protokoll gegeben habe, dass Gendern inzwischen zur deutschen Sprache gehöre" und insoweit kein Handlungsbedarf bestünde. Der CDU die Hand reichend formulierte die AfD-Abgeordnete: "Aber wir sind nicht nachtragend. Und wenn es bezüglich des Genderirrsinns nun bei der Union einen echten Sinneswandel gibt, dann werden wir uns dem nicht verschließen."

Auch die Landesregierung wies darauf hin, dass es in der CDU-Fraktion inzwischen einen kulturkämpferischen Bewusstseinswandel gegeben habe, der nun dazu führe, von der Landesregierung zu fordern, dass diese auf jede gendergerechte Sprachverwendung in amtlichen Dokumenten ebenso wie in offiziellen Veröffentlichungen bis hin zu Unterlagen im Bildungswesen zu verzichten und darüber hinaus beim öffentlichen Rundfunk und auch an den Hochschulen dafür zu sorgen habe, dass gendergerechte Sprache dort keine Verwendung mehr findet - oder um es mit den Worten des CDU-Vertreters zu sagen: sie zu verbieten habe.

Dass eine solche Verbotsforderung schon deshalb nicht umgesetzt werden kann, weil für das Handeln der Landesregierung Artikel 3 GG, die Freiheit von Wissenschaft und Kunst in Art. 5 Abs. 3 GG, Artikel 2 der Thüringer Verfassung, § 28 des Thüringer Gleichstellungsgesetzes sowie die einschlägigen Beschlussfassungen über die Rechtsverordnung der Landesregierung, Normtexte und Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen gelten, wollte die CDU freilich ebensowenig gelten lassen wie die Abgeordneten der Mitte-Rechts-Opposition, die den Antrag mit knapper Mehrheit letztendlich beschlossen. Vereint im populistischen Narrativ, dass eine vermeintlich "woke" elitäre Minderheit gegen den Widerstand einer gesellschaftlichen Mehrheit letzterer einen Sprachzwang oktroyieren wolle: "Gendersprache [...] als Eliteprojekt einer kleinen Minderheit ohne Bezug zu Lebens- und Sprachwirklichkeit", wie es der CDU-Vertreter ausdrückte.

Der Annahme, hier scheine eine Tendenz der CDU-Vertreter:innen hin zur illiberalen Demokratie durch, wie sie gerade u.a. in Ungarn zu besichtigen ist, und in der ein nur noch beschworener Liberalismus der Konservativen – nämlich die Freiheit, alles sagen zu dürfen, in sein Gegenteil kippt – nämlich die Freiheit, zu diktieren, welcher als „unideologische Wahrheit getarnte“ normative Standpunkt als verbindlich für die öffentliche Kommunikation Aller zu gelten habe, ist zu widersprechen. Es ist nicht auszuschließen, dass sich ein solches Verständnis einmal verselbständigt. So wie bei der CDU-Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk und der Erhöhung des Rundfunkbeitrags. Ursprünglich einmal in Sachsen-Anhalt als Vehikel für eine wirksame Rückeroberung zur AfD abgewanderter christdemokratischer Wähler:innen auf einem weniger relevanten Themenfeld identifiziert und instrumentalisiert, verselbständigte und radikalisierte sich die Position der dortigen CDU inzwischen derart, dass es schwer fällt, Unterschiede zwischen Christdemokraten und Rechtspopulisten in dieser Frage zu erkennen. Mit anderen Worten geht es der Thüringer CDU beim Gender-Thema aktuell um nicht mehr und nicht weniger als die Instrumentalisierung des Themas als Hebel für die als wirksam erachtete Ressentiment-Erzählung, urbane Eliten in rot-rot-grünem Gewand würden sich über die „Volksmeinung“ - vor allem im ländlichen Raum - erheben.

Vorwurf des rot-rot-grünen "Kampfs gegen den ländlichen Raum"

Womit wir ohne Umschweife auf eine seit Jahren bespielte Saite der Thüringer CDU-Melodie zu sprechen kommen. Das Verhältnis von Stadt und Land gehört zu wesentlichen Fragen unserer Zeit. In einer Vielzahl von Publikationen und Untersuchungen wird, wie Lukas Haffert es in seiner Studie "Stadt.Land.Frust" ausdrückt, die „Geografie der Unzufriedenheit“ vermessen. Der vermeintliche Gegensatz zwischen den sogenannten urbanen Eliten und den pauschal als abgehängt beschriebenen Dörfern gehört zum Standardmotiv des rechten Populismus. Dessen entsprechende Stadt-gegen-Land-Klaviatur bedient die CDU in Thüringen notorisch mit dem Vorwurf gegenüber den rot-rot-grünen Parteien, sie würden Politik nur für die Städte machen, während der ländliche Raum abgehängt sei.

Dafür, dass die vermeintliche Bevorzugung namentlich der großen Städte gegenüber den kleineren Städten, Gemeinden und Dörfern und damit dem ländlichen Raum insgesamt in Thüringen nicht stattfindet, gibt es drei auf der Hand liegende Argumente:

Anders als z.B. in Bayern, Hessen, NRW oder Berlin/Brandenburg gibt es im Freistaat kein klassisches Stadt-Land-Gefälle zwischen kleineren Städten und Dörfern und einem großstädtisch geprägtem Metropolenraum. Denn Thüringen wird gebildet aus einem Netz ländlich geprägter kleinster, kleinerer, mittlerer und sehr wenigen größeren Städten. Knapp ein Viertel der Thüringer:innen leben in den fünf kreisfreien Städten. Die sind viel kleiner als im Bundesgebiet üblich. Keine der 14 Städte in Deutschland mit mehr als 500.000 Einwohner:innen liegt in Thüringen. Während nur zwei der 67 deutschen Städte mit mehr 100.000 Einwohner:innen in Thüringen liegt, sind es 33 der 621 Städte und Gemeinden zwischen 20.000 und 100.000 Einwohner:innen. Die Internationale Bauausstellung (IBA) Thüringen hatte dafür ursprünglich den Begriff der „Landstadt“ geprägt. Ich finde den Begriff auch heute noch angemessen, wenngleich die IBA inzwischen StadtLand verwendet.

Sarah Hinz und Stefan Schmalz sprechen in ihrer Studie "Abgehängt im Aufschwung" von „innerer Peripherie“, wenn sie Ostthüringen in den Blick nehmen. Sie verweisen damit darauf, dass es keine Gleichzeitigkeit der räumlichen Entwicklung gibt. Weder schrumpft der ländliche Raum insgesamt, noch wachsen alle Städte - auch nicht in Thüringen. Prosperierenden Räumen stehen schrumpfende Gebietskörperschaften und Regionen gegenüber. Darüber hinaus gibt es die inneren Peripherien auch in den Städten selbst. Die „innere Peripherie“ verweist also darauf, dass neben den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit der Konflikt zwischen Gewinner:innen und Verlierer:innen der ökonomischen Modernisierungsprozesse getreten ist.

Last but not least erscheint auch in Thüringen, mit Haffert gesprochen, "die Bedeutung des ökonomischen Konflikts zunehmend von einem kulturellen Konflikt zwischen liberalen und autoritären Wertvorstellungen überlagert“. Man kann diesen Konflikt diskursiv rationalisieren oder ihn politisch verschärfen. Von der CDU wird der Konflikt verschärft und das Narrativ des vermeintlichen Angriffs auf den ländlichen Raum kulturkämpferisch unterfüttert.

De-Legitimierung der Gewaltenteilung und Verfassungsinstitutionen

Im November des vergangenen Jahres veröffentlichte das Magazin der SPIEGEL einen Bericht über den Entwurf einer Prüfmitteilung des Thüringer Rechnungshofes über die Einstellungspraxis in den obersten Landesbehörden. Nachdem der Rechnungshof bereits 2014 begonnen hatte, die Einstellungspraxis der vormaligen CDU-geführten Landesregierung zu prüfen, dabei aber nur die seinerzeit drei SPD-geführten Ministerien in den Blick nahm, die daraus gewonnenen Ergebnisse aber nicht zu einem Abschluss brachte und veröffentlichte, entschied sich der Hof im Jahr 2020, alle rot-rot-grünen Ministerien und die Staatskanzlei einer entsprechenden Prüfung zu unterziehen. Neben berechtigten Kritikpunkten im Hinblick insbesondere auf eine - bereits zu Zeiten der CDU-geführten Landesregierung ungenügende Dokumentation der Bestenauslese in den Ressorts - vertritt der Rechnungshof in dem Bericht die Auffassung, der begründet widersprochen werden kann und von der Landesregierung widersprochen wird, bei der Auswahl von Staatssekretär:innen und Leitungspersonal sei gegen die Bestenauslese nach Art. 33 Abs. 2 GG verstoßen worden.

Es liegt nahe, dass die Opposition neben dem berechtigten Transparenzinteresse die inzwischen als Sonderbericht veröffentlichten Prüfergebnisse dazu nutzt, gegenüber der Landesregierung den Vorwurf der "Vetternwirtschaft" zu erheben. Dies gehört zum politischen Wettbewerb und wurde umgekehrt beim Umgang mit den tatsächlichen Affären der Vorgängerregierung, so z.B. beim letztlich erfolglosen Versuch der Versorgung des seinerzeitigen Staatssekretärs und Regierungssprechers Peter Zimmermann, nicht anders gehandhabt. Bemerkenswert und beängstigend ist, welche absichtsvollen Beschädigungen der Verfassungsinstitutionen Landesparlament und Landesregierung die CDU-Fraktion im Thüringer Landtag dabei in Kauf nimmt.

Die Landesregierung reagierte auf den Bericht des Rechnungshofes bereits am Tag seiner Veröffentlichung mit der Aussage, Empfehlungen der Prüfer umzusetzen und legte im Folgenden einen Maßnahmenkatalog vor, der neben einer Reihe von Detailregelungen insbesondere die Reduktion des Katalogs politischer Beamter, die verbesserte Dokumentation der Bestenauslese bei Personaleinstellungen vorsieht sowie „Eckpunkte zur Ausgestaltung der Leitungsbereiche der Staatskanzlei und der Ressorts“. Auf dieser Grundlage werden Maßgaben für die Ausstattung der engeren Leitungsbereiche, also Ministerbüros, Staatssekretärsbüros, Referat Presse/Öffentlichkeit, einschließlich der entsprechenden Stellenbewertung festgelegt und, so wie es der Rechnungshof vorschlägt, die Umfänge der Leitungsbereiche aufgabenkritisch geprüft.

Während die Landesregierung also auf Basis des veröffentlichten Berichts die vom Rechnungshof erörterten Sachverhalte zur Grundlage für konkrete Schlussfolgerungen und daraus abgeleitete Maßnahmen machte, wirft die CDU-Fraktion der von ihr grundsätzlich negativ-konnotierend als "Ramelow-Regierung" bezeichneten Landesregierung vor, die "Aufklärung" des "größten Veruntreuungsskandals seit der Gründung Thüringens" verhindern zu wollen. Die bislang einzige legislative Schlussfolgerung, die seitens der CDU-Fraktion im Kontext des Rechnungshof-Berichtes gezogen wurde, ist ein Gesetzentwurf, der darauf abzielt, dass künftig nur noch Personen Minister:innen werden können, die einen Berufsabschluss und eine mindestens zweijährige Berufserfahrung nachweisen können.

Interessanterweise hat dieser Sachverhalt mit dem Gegenstand des Rechnungshof-Berichtes überhaupt nichts zu tun. Denn weder befasste sich der Rechnungshof mit der Ernennungspraxis von Ministerinnen und Ministern, noch ist das öffentlich-rechtliche Amtsverhältnis, dem Kabinettmitglieder unterliegen, von der Verpflichtung zur Bestenauslese nach Art. 33 Abs. 2 GG erfasst.

Der Thüringer CDU als auch der ihr stets sekundierenden Gruppe der FDP im Landtag geht es um nicht weniger als die De-Legitimierung der Exekutive. Der Vorschlag bringe, "das Störgefühl vieler Menschen zum Ausdruck", erklärte der Kurzzeit-Ministerpräsident und designierte liberale Spitzenkandidat für die 2024 vorgesehene Landtagswahl, Thomas L. Kemmerich und bespielt damit ebenfalls die Klaviatur des Misstrauens gegen "die da oben". Behauptet wird, dass "immer wieder Politiker in Spitzenämter gelangen, obwohl sie nicht über eine fachlich ausreichende Qualifikation dafür verfügten".

Unabhängig davon, dass es gar kein tatsächliches Problem gibt, für das der vorgelegte Gesetzentwurf eine Lösung anbietet, ist die vorgesehene einfachgesetzliche Regelung auch zusätzlich noch solange erneut verfassungswidrig, wie nicht zugleich die Thüringer Verfassung geändert würde. Der Wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestages stellte in einer Ausarbeitung bereits 2020 klar: Das Grundgesetz sieht (wie übrigens auch die Thüringer Verfassung - BIH) "weitere Voraussetzungen, insbesondere eine Einschränkung für die Ministerernennung nach fachlicher Eignung, nicht vor. Die Besetzung der Ministerämter ist wie die Wahl des Bundeskanzlers eine rein politische Entscheidung, für die im Grundgesetz ein Bezugspunkt zur Eignung, Befähigung oder fachlichen Leistung fehlt."

Wird bereits, wie der Wissenschaftliche Dienst weiter ausführt, ein Eingriff in die Organisationskompetenz des Bundeskanzlers abgelehnt, muss dies erst recht für die Personalkompetenz hinsichtlich der persönlichen Anforderungen für die Ministerkandidaten gelten. Eine einfachgesetzliche Regelung, die z. B. im BMinG eine erweiterte Anforderung hinsichtlich der fachlichen Kompetenzen der Ministerkandidaten vorsähe, wäre mit der Personalkompetenz des Bundeskanzlers nach den grundgesetzlichen Regelungen nicht vereinbar."

Die CDU-Fraktion hat deshalb auch einen Antrag auf Änderung der Verfassung gestellt, für den es - wie sie wiederum bereits weiß - aus oben dargelegten Gründen keine verfassungsändernde Mehrheit im Thüringer Landtag geben dürfte.

Kurzum: Die CDU-Thüringen meint, eine seit der Verabschiedung des Grundgesetzes 1949 in allen Bundesländern und dem Bund geltende Praxis anpassen zu müssen, aufgrund eines nur von ihr und Thomas L. Kemmerich identifizierten „Störgefühls“, das aber – gemäß der populistischen Erzählung, die „silent Majority“ endlich zu Gehör zu bringen. Das Ziel, möglichst große Aufmerksamkeit zu erzielen, verspricht durch den Appell an das Ressentiment die größte Sicherheit. Mario Voigt hat dafür seine Pressestelle spürbar erweitert und durch Kompetenz der BILD-Zeitung verstärkt.

Ein inszenierter Eklat am 19. April 2023 konturiert die entsprechende BILD-Strategie der CDU-Fraktion deutlich. Nur wenige Tage nach der Veröffentlichung des oben erläuterten Rechnungshof-Berichtes, am 21. März 2023, beantragte der Autor dieses Beitrages in seiner Funktion als Chef der Staatskanzlei gemäß § 74 Abs. 3 der Geschäftsordnung des Thüringer Landtages, zu den Schlussfolgerungen und Maßnahmen der Landesregierung gegenüber dem Landtag Bericht zu erstatten. Naheliegenderweise in dem für die Staatskanzlei zuständigen Ausschuss für Europa, Kultur und Medien.

Eine weitere Woche später, dem 28. März 2023 fand auf Antrag der CDU-Fraktion eine Sondersitzung des Landtages statt, indem die Landesregierung ausführlich Bericht erstattete und Transparenz insbesondere im Hinblick auf die sowohl von CDU und FDP sowie den regierungstragenden Fraktionen eingebrachten Berichtswünschen ankündigte, die in den Haushalts- und Finanzausschuss sowie den Justizausschuss überwiesen wurden.

Angesichts des von der Opposition vorgetragenen Vorwurfs, die Landesregierung würde es an genau dieser Transparenz vermissen lassen, wurde der Regierungsantrag auf Bericht im Fachausschuss vom 21. März 2023 aufrechterhalten, weshalb durch die Vorsitzende für den 19. April 2023 zu einer Sondersitzung eingeladen wurde. Unabhängig davon, dass für den 21. April die Sitzung des Haushalts- und Finanzausschusses eingeladen wurde, um ebenfalls den Rechnungshof-Bericht zu erörtern. Während die Landesregierung durch Vertreter:innen aller Ressorts und der Staatskanzlei darauf vorbereitet war, in einer mehrstündigen Sitzung jeden einzelnen Kritikpunkt des Rechnungshofes gegenüber den Abgeordneten zu erläutern, veröffentlichte die CDU-Fraktion kurz vor der Sitzung eine Pressemitteilung mit folgender Aussage: "Dass der Staatskanzlei-Chef jetzt eigenmächtig die Beratung in den ihm genehmen Europa-Ausschuss verlagert, ist eine unerträgliche Missachtung des Parlaments. In der parlamentarischen Demokratie entscheidet die Mehrheit – und nicht die Regierung nach Gutsherrenart. Dieses Manöver ist durchsichtig. Offenkundig will Herr Hoff nur in dem Ausschuss berichten, in dem seine Partei, die LINKE, den Vorsitz hat. Die CDU-Fraktion fordert die Regierung auf, den demokratischen Willen des Parlaments zu respektieren. Die Aufklärung gehört nicht in den Europaausschuss, sondern in den Haushaltsausschuss und sollte dort wie geplant am Freitag beginnen.“

Man muss sich die darin enthaltenen Aussagen auf der Zunge zergehen lassen. Denn abgesehen davon, dass bekanntlich die Opposition im Thüringer Landtag in allen Ausschüssen und in der Plenarsitzung seit 2019 aufgrund der Minderheitssituation der r2g-Koalition die rechnerische Mehrheit stellt, spricht aus den Worten des - man beachte - justizpolitischen Sprechers (sic!) nicht nur ein zweifelhaftes Selbstverständnis von der unparteiischen Arbeitsweise der Vorsitzenden der Landtagsausschüsse, sondern auch der Funktionsfähigkeit der Gewaltenteilung im Freistaat Thüringen insgesamt. Doch im Lichte der vorstehenden Darstellungen überrascht auch diese De-Legitimierung des Verfassungsorgans Parlament, die man gemeinhin von der AfD erwartet, seitens der vormaligen Staatspartei CDU nicht mehr.

Doch nicht überrascht zu sein, ist nicht dasselbe wie unbesorgt zu sein. Die Thüringer CDU trägt mit dieser Politik, die kein Einzelfall mehr ist, die nicht auf extremen Aussagen randständiger Hinterbänkler beruht, zur Erosion der Demokratie in Thüringen bei. Insoweit trifft auf die Thüringer CDU als Organisation in etwa zu, was Jürgen Leinemann im Frühjahr 1989 einmal in einem SPIEGEL-Porträt formulierte: "Viele Kritiker halten Franz Schönhuber für einen schamlosen Opportunisten, der an nichts glaubt. Er ist aber eher ein heimtückisch-naiver Spontanbegeisterer, der alles glaubt - solange es ihm Beifall und Bestätigung einträgt".

Dieses Muster als Herangehensweise zu identifizieren ist schon deshalb bedeutsam, weil zu oft fälschlicherweise die Behauptung einer fehlenden Brandmauer zwischen Thüringer CDU und AfD aufgestellt wird. Thomas Biebricher nimmt in der Einleitung zu seinem gerade erst erschienen Buch "Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus" eine umfassende Differenzierung konservativer Strategien vor. Hier von Interesse ist die Trennlinie zwischen dem "genuinen, gemäßigten Konservatismus" und dem "(rechten) Autoritarismus", die Biebricher darin erkennt, dass der gemäßigte Konservatismus "in einem Akt der Selbstentmächtigung den Widerstand gegen das unliebsame Neue aufgibt", während "letzterer gerade nicht zu dieser Selbstdisziplinierung bereit [ist]. [...] Denn aus der Sicht des (neurechten) Autoritarismus ist es der gegenwärtige Status quo schlichtweg nicht mehr wert, verteidigt zu werden. Zu weit sind die Entstellungen vorangeschritten, als dass es länger möglich erschiene, ihn nach wie vor im Namen einer immer noch zumindest rudimentär vorhandenen guten Ordnung aufrecht erhalten zu wollen."

Diese Haltung eines antidemokratisch-autoritären Denkens, nach dem "das Bestehende aus autoritärer Perspektive ausgelöscht werden [muss], um 'Dinge zu erschaffen, die zu erhalten sich lohnt'", wie Biebricher unter Bezug auf Autoren der Konservativen Revolution zitiert, ist der CDU in Thüringen in Gänze nicht zu unterstellen. Vermutlich nicht einmal denen, die in der CDU-Südthüringen seit 2020 dafür plädieren, zum Zweck der Ablösung der als größtmöglicher anzunehmender Unfall erachteten r2g-Regierung auch mit der AfD zu paktieren.

Die CDU unter Führung von Mario Voigt setzt vielmehr seit geraumer Zeit auf eine Doppelstrategie zwischen der Gewährung staatspolitisch notwendiger Entscheidungsfindung, u.a. durch die Enthaltung beim Haushalt für das Jahr 2023 und einer „Konfliktstrategie mit AfD-Reserve“. Sie ist langfristig ausgerichtet und kalkuliert damit, dass eine sich in der Abfolge vieler kleiner und partiell bedeutsamerer Anlässe parlamentarischer Zusammenarbeit mit der AfD eine Normalisierung einstellt. Diese Normalisierung bereitet dann - bei unsicheren Mehrheitsverhältnissen - den Boden für eine mögliche CDU-geführte Minderheitsregierung, die entweder mit der Unterstützung durch die AfD droht, um die partielle Unterstützung von Mitte-Links-Parteien zu erreichen oder sogar bereit ist, die Unterstützung der AfD aktiv in Kauf zu nehmen.

Parallel dazu bemüht sich die CDU, analog zu den eigenen Erfahrungen der Jahre 2013/2014 das Handeln der Landesregierung zu skandalisieren und den Ministerpräsidenten als schwach und seine Koalition auf dem absteigenden Ast darzustellen. Da eine Wechselstimmung nicht absehbar ist, will die CDU im Sinne der asymmetrischen Mobilisierung zumindest erreichen, dass die r2g-Wähler:innen zu Hause bleiben und gleichzeitig das nicht ideologisch gebundene Potenzial frustrierter AfD-Wähler:innen an sich zu binden.

Der dafür eingeschlagene Weg der Tea-Partyisierung der politischen Kommunikation und Praxis der Thüringer CDU hat schwerwiegende Kollateralschäden für die politische Kultur und das demokratische Gemeinwesen. Spätestens im Herbst 2024 wird der 8. Thüringer Landtag gewählt. Die in den darauffolgenden Jahren zu treffenden Entscheidungen markieren den Entwicklungsweg Thüringens. Der Schwäche der CDU im Freistaat liegt zugrunde, dass sie kein überzeugendes politisches Projekt formulieren kann, seitdem das sie ursprünglich tragende konservativ-neoliberale „Modell Ostdeutschland“ in die Krise geriet. Die Thüringer AfD bietet ein völkisches Gegenprojekt des autoritären Populismus, dessen kennzeichnendes Merkmal ein identitäres Verständnis der Volkssouveränität ist. Für die Thüringer CDU und auch für die von Thomas L. Kemmerich geführte FDP stellt sich die Frage, wie weit sie sich von der AfD erkennbar und unterscheidbar machen wollen. Das Konzept Tea Party ist dafür ungeeignet.

Aus Transparenzgründen weist der Autor des Beitrags darauf hin, dass er seit 2014 Chef der Thüringer Staatskanzlei im Kabinett Ramelow ist und der Partei DIE LINKE angehört.

Im April 2023 erscheint beim Hamburger VSA-Verlag der von ihm herausgegebene Sammelband "Neue Wege gehen. Wie in Thüringen gemeinsam progressiv regiert wird" (ISBN 978-3-96488-184-7).

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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