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Parteien Sahra Wagenknecht kandidiert nicht erneut als Fraktionsvorsitzende der Linkspartei. Die politische Architektur der Partei wird sich neu ausrichten müssen

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Der (einstweilige) Rückzug von Sahra Wagenknecht als Fraktionsvorsitzende wird für DIE LINKE zu einer Zäsur werden
Der (einstweilige) Rückzug von Sahra Wagenknecht als Fraktionsvorsitzende wird für DIE LINKE zu einer Zäsur werden

Foto: Jens Schlueter/Getty Images

Blick zurück

Am 22. Mai 2005 kam es im bis dato als Stammland der Sozialdemokratie angesehenen Nordrhein-Westfalen zu einem Machtwechsel. Nach 39 Jahren regierte erstmals statt der SPD eine CDU-geführte Landesregierung. Dieser Machtverlust war der Höhepunkt einer Serie von Wahlniederlagen der SPD. Im Ergebnis stand der damaligen rot-grünen Bundesregierung – erstmals in der bundesdeutschen Geschichte – keinerlei Entsprechung auf Länderebene mehr zur Seite. Noch am Wahlabend kündigten der SPD-Parteivorsitzende Franz Müntefering und Kanzler Gerhard Schröder an, den SPD-Gremien eine vorzeitige Auflösung des Bundestages und damit vorgezogene Bundestagswahlen im Jahr 2005 vorzuschlagen. Müntefering erklärte: „Wir suchen die Entscheidung. Es ist Zeit, dass in Deutschland die Verhältnisse geklärt werden.“

Der Überraschungscoup des bis heute letzten SPD-Kanzlers erwischte alle Parteien kalt. Doch wohl in besonderem Maße sowohl die damalige PDS als auch die „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit“ (WASG). Letztere hatte sich erst knapp ein Jahr zuvor aus den von überwiegend SPD- aber auch Grünen-Abtrünnigen gegründeten „Wahlalternative 2006“ sowie „Initiative für Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ gebildet.

Für die PDS, nach der krachenden Wahlniederlage von 2002 nur noch mit den zwei direkt gewählten fraktionslosen Abgeordneten Petra Pau und Gesine Lötzsch im Bundestag vertreten, stellte die WASG eine erhebliche Gefahr beim Wiedereinzug in den Bundestag dar. Zwar konnte sich im Juli 2004 nur eine Minderheit von 16% aller Befragten vorstellen, eine neue Partei links von der SPD zu wählen, aber mit 41% waren darunter am häufigsten die Anhänger/-innen der PDS vertreten. Erst danach folgten die Anhänger/-innen der Grünen (22%) und der SPD (14%). Die Frage nach dem Gebrauchswert der ostdeutschen Interessenvertretungspartei PDS stellte sich also trotz der Neuerfindung als Kümmererpartei für soziale Gerechtigkeit und gegen Hartz IV in weiterhin relevanter Form.

Für die WASG wiederum sollte die NRW-Wahl 2005 der Lackmustest ihres politischen Erfolgs werden. Alle hochfahrenden Hoffnungen erwiesen sich freilich als zu weitgehend. Zwar konnte die WASG Wähler/-innen erreichen, für die eine Stimmabgabe zugunsten der SED-Nachfolgepartei PDS nie in Frage gekommen wäre, doch blieb sie mit 2,2% weit hinter den selbst gesetzten Erwartungen. Ihr Wert lag 1,1% über demjenigen der PDS bei der vorhergehenden Landtagswahl. Diese sank ihrerseits um 0,2 Prozentpunkte auf 0,9% ab.

Nur zwei Tage nach der Ankündigung vorgezogener Bundestagswahlen, am Dienstag dem 24. Mai 2005, erklärte Oskar Lafontaine gegenüber der BILD-Zeitung, seine Bereitschaft für eine gemeinsame Liste von PDS und WASG zu kandidieren. Es sei nicht sinnvoll, wenn zwei kleine Parteien links von der SPD kandidieren.

Alsbald standen beide Parteien in Verhandlungen über einen gemeinsamen Wahlauftritt. Gemäß dem Wahlrecht wurde Sorge dafür getragen, dass WASG-Kandidat/-innen auf den offenen Listen der PDS kandidieren konnte. Auf einem außerordentlichen Bundesparteitag im Juli 2005 benannte sich die Partei zudem in Linkspartei.PDS um.

Auf den Seiten 9 und 11 des damaligen Wahlprogramms finden sich zwei Forderungen, die den Wert von Beharrungsvermögen in der politischen Debatte beweisen:

1.3. Gesetzlichen Mindestlohn einführen

In Deutschland wird die Einführung eines existenzsichernden gesetzlichen Mindestlohns als unerträgliche Bedrohung für die Wirtschaft denunziert. In den meisten anderen entwickelten Ländern gibt es ihn. Wir fordern einen gesetzlichen Mindestlohn von nicht weniger als 1.400 Euro brutto für ein Vollzeitarbeitsverhältnis im Monat. Das bringt nicht „das Paradies auf Erden“, aber es wird damit ein Weg aus sozialer Ausgrenzung eröffnet und eine Sicherung gegen sozialen Abstieg errichtet.

2.2. Existenzsichernde Rente mit Grundbetrag

Jedem Menschen steht auch im Alter ein würdevolles Leben zu. Deshalb lehnen wir das Kürzen von Renten und das Heraufsetzen der Altersgrenze für den Rentenbezug ab. Wir streben als untere Versicherungsgrenze eine Rente mit Grundbetrag von gegenwärtig monatlich 800 Euro an. Noch bestehende Benachteiligungen ostdeutscher Rentner müssen aufgehoben werden. Um Frauenaltersarmut nachhaltig abzubauen, sind die Erziehung der Kinder und die Pflege von Angehörigen stärker anzurechnen.

Es ist weder Zufall noch Ironie der Geschichte sondern Pfadabhängigkeit, dass der Mindestlohn der bleibende Erfolg der SPD in der ersten Koalition mit Merkel ist und die Grundrente möglicherweise diejenige Maßnahme sein wird, die den konstruktiven und selbstbewussten Abschied der SPD von Hartz IV markiert.

Deshalb überrascht es nicht, dass die Linkspartei, gebildet aus PDS und WASG, mit ihrem Wahlprogramm den Nerv der Wählerinnen und Wähler am Ende von rot-grün und zwei Jahre nach der Agenda 2010 traf, wie eine Umfrage aus dem August 2005 zeigte: Der Forderung zum Mindestlohn stimmten damals knapp 60% der Anhänger/-innen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen sowie 75% der Linkspartei-Wähler/-innen zu. Bei den Konzepten zur Grundrente und zur Grundsicherung betrug die Zustimmung der Anhänger/-innen von rot-grün bzw. der Linkspartei jeweils 80%.

Verpasste Gelegenheiten - politische Pathologien

Die Bundestagswahl vom 18. September 2005 war der Schlusspunkt des rot-grünen Regierungsbündnisses, das aufgrund der Deutschen Einheit erst verspätet 1998 ins Amt gekommen war. Gleichzeitig markierte die 2005er Wahl eine tektonische Verschiebung im Parteienspektrum. Seither können sich Wählerinnen und Wähler des Mitte-Links-Spektrums zwischen den drei Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und der LINKEN entscheiden.

Dass es seit der ersten Regierung Merkel 2005, trotz zeitweise rechnerisch anderer Mehrheiten, zu keiner Zusammenarbeit der drei Mitte-Links-Parteien auf Bundesebene kam, liegt vorrangig am pathologischen Verhältnis von SPD und Linken zueinander. Obwohl nach der Bundestagswahl 2013 selbst die SPD auf ihrem Leipziger Parteitag endgültig davon Abstand nahm, eine Regierung unter Einschluss der Linkspartei auszuschließen.

Profitiert hat davon insbesondere das Konrad-Adenauer-Haus. Dort musste man nur die Plakate vom 1994er Rote-Socken-Wahlkampf aus dem Keller holen und abstauben, um sicher zu gehen, dass im Willy-Brandt-Haus niemand, der links blinkt, auch ernsthaft dorthin abbiegen würde.

Während DIE LINKE auf Bundesebene die SPD als Hauptgegner in der politischen Auseinandersetzung sah und entsprechend behandelte, zieh die SPD die Linkspartei als realitäts- und politikfern. Dass zwischen SPD und Grünen eine spürbare Entfremdung besteht, darf dabei nicht außer Acht gelassen werden. Beide Parteien kultivieren zunehmend ihre Differenzen, statt ihre Unterschiede als wertvolle Bandbreite einer pluralen Linken zu verstehen.

So gingen wertvolle Jahre verloren und wird immer noch Zeit verschenkt. Sie wäre sinnvoller für den Aufbau von Vertrauen, eine gemeinsame politische Praxis und die – für eine stabile Zusammenarbeit unverzichtbaren – gemeinsamen Erfahrungen von Erfolg aber auch Misslingen genutzt worden.

So mit sich selbst und taktischen Geländegewinnen zu Lasten der jeweils anderen zwei Parteien im Mitte-Links-Lager beschäftigt, übersahen SPD, LINKE und Grüne, dass die Bundestagswahl 2013 eine "letzte Warnung" seitens der Wähler/-innen an sie war. Denn nur weil FDP und AfD den Einzug in den Bundestag 2013 verpasst hatten, konnten die drei Parteien auf eine rechnerische Mehrheit blicken – die sie ein einziges Mal nutzten um die Ehe für alle durchzusetzen.

Am Ende ging die SPD 2017, nachdem sie den Schulz-Hype selbst in den Sand gesetzt hatte, ebenso aussichtslos auf die Zielgerade wie 2013. Die Grünen gestalteten sich wie eh und je seit 2005 „äqui-distanziert“. Also beliebig offen und damit allseitig angreifbar. Und DIE LINKE spielte mit der Option einer Regierungsbeteiligung auf Bundesebene voluntaristisch nach dem Muster „wir können gut darüber reden, weil es hoffentlich nie soweit kommt“.

Nur weil sich in drei Ländern Mitte-Links eine Perspektive der Zusammenarbeit in jeweils verschiedenen Rollen erarbeitete, waren die Jahre nicht gänzlich verloren. Immerhin könnten am Ende der diesjährigen Landtagswahlen in vier Ländern rot-rot-grüne Bündnisse bestehen. Sofern es dem Thüringer Ministerpräsidenten Bodo Ramelow gelingt, seine Koalition in eine zweite Amtszeit zu führen. Und die bisherige rot-grüne Koalition in Bremen bzw. ihr rot-rotes Pendant in Brandenburg den jeweils dritten Partner der drei Mitte-Links-Parteien zur Fortführung progressiver Regierungspolitik einlädt.

Erneute Zäsur

Am Sonntag dem 10. März 2019 erklärte Sahra Wagenknecht gegenüber der Frankfurter Sonntagszeitung, dass sie sich aus dem Vorstand der wesentlich von ihr initiierten Bewegung „Aufstehen“ zurückziehen werde. Am darauffolgenden Montag folgte per Nachricht an alle Mitglieder der Linksfraktion im Bundestag die Mitteilung, dass sie aus gesundheitlichen Gründen nicht wieder als Fraktionsvorsitzende kandidieren werde. Beide Entscheidungen haben für die jeweilige Organisation relevante Auswirkungen.

Der Rückzug aus dem Vorstand von „Aufstehen“ könnte aufgrund der politischen Begründung durch Wagenknecht kontrovers debattiert werden, ist hier aber nicht interessant. Die Ankündigung des Rückzugs vom Fraktionsvorsitz verdient durch ihren privaten Charakter Respekt. Gleichzeitig bedeutet die Ankündigung keinen Rückzug aus der Politik. Es besteht deshalb auch kein Anlass für Nachrufe jeder Art.

Charismatische Persönlichkeiten sind Ausnahmen in der Politik. Die Linkspartei hatte seit 1990 und 2005 das Glück, mit Gregor Gysi, Sahra Wagenknecht und Oskar Lafontaine gleich drei dieser Persönlichkeiten in ihren Reihen zählen zu können.

Es gehört zur Ehrlichkeit dazu, dass das Glücksempfinden nie uneingeschränkt war. Vielmehr fremdeln gerade die egalitär ausgerichteten Mitte-Links-Parteien mit charismatischen Persönlichkeiten. Zu groß ist die Befürchtung, dass die Persönlichkeit zur wesentlichen Legitimationsinstanz der Organisation wird und der Charakter der Partei zur Akklamationshülle schrumpft.

Diese Befürchtung wird gern als Sehnsucht des Funktionärskörpers nach Mittelmaß denunziert – man kennt das aus der ideologisch aufgeladenen Debatte um die vermeintlich leistungsnivellierende Gesamtschule. Seit sich in Österreich, Frankreich, Italien und Polen und weiteren Ländern Parteien herausschälten, die ihren pluralen Charakter gegen ein autoritäres Konzept eintauschen ist die Kritik freilich leiser geworden.

Der betont widerspenstige Umgang der Mitgliedschaft bereits der PDS aber auch der Linkspartei mit ihrer jeweiligen Parteiführung, Autoritäten und charismatischen Persönlichkeiten, steht im Kontrast zu dem auch heute noch gern gezeichneten Bild der autoritär strukturierten Gilde von Silberrücken aus der SED-Nachfolgepartei. Dieses Bild war nie richtig. Der überwiegende Teil derjenigen, die aus der SED in die PDS übergingen, gehörte zu denen, die sich nicht mehr mit der allein selig machenden Wahrheit des Politbüros abfanden. Sie warteten spätestens seit 1986 auf eine biologische Lösung hin zu einem DDR-Gorbatschow.

Gesellschaftliche Anerkennung einerseits und innerparteilicher Zuspruch in der LINKEN andererseits sind zwei einander entgegengesetzte Punkte auf einer sehr langen Geraden. Dies mussten Gysi und Bisky ebenso wie beispielsweise die Regierungslinken Harald Wolf, Bodo Ramelow und Helmut Holter und genauso auch Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht sowie deren Kontrahenten, die langjährigen Parteivorsitzenden Katja Kipping und Bernd Riexinger erfahren. Aus dem Jahr 1995 stammt die Feststellung Lothar Bisky fest, dass Vorsitzender dieser Partei der abenteuerlichste Job in Europa sei.

Doch mit mangelnder Wertschätzung gegenüber der politischen Lebensleistung der hier genannten Persönlichkeiten hat dies entgegen mancher Wahrnehmung wenig bis gar nichts zu tun. Sie werden zu Recht als wichtige, prägende Akteure der Partei betrachtet. Verbunden mit der Erwartung, auf sie und das, was sie jeweils für die Partei tun, stolz sein zu können. Darin eingeschlossen ist das Bedürfnis nach Partizipation und dem Interesse am Austausch. Inklusive der Erwartung, durch die Führungskräfte nicht vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Die Widersprüche zum politischen Alltag und die Gelegenheiten gegenseitiger Enttäuschung liegen auf der Hand.

Ebenfalls zur Ehrlichkeit gehört, dass Konflikte zwischen den Flügeln und Strömungen innerhalb der Linkspartei traditionell in ungesunder Verbitterung ausgetragen werden. Bereits Bisky sagte seinerzeit, statt der einen Partei, die immer recht habe, gäbe es nunmehr ihrer zehn – und alle von ihnen haben recht.

Zu oft ging und geht es um bei innerparteilichen Kontroversen um „alles oder nichts“. Statt um einen Konsens, der die Organisation insgesamt voranbringt. Themen, die außerhalb der Partei keinen Hund hinter dem Ofen vorlocken, werden zu Entscheidungsfragen hochgeziegelt, an denen sich Wohl und Wehe linker Politik zu entscheiden habe. Sie werden dann anschließend entweder durch einen taktisch motivierten Formelkompromiss erstickt, in weniger prominente Gremien vertagt um sie dann aufgrund allgemeiner Erschöpfung zu beerdigen. Bis die Kontroverse an einem anderen Thema bei nächster Gelegenheit wieder aufflammt. Auch Ultimaten von Führungskräften sind dabei ein gern genutztes Instrument. Es nimmt nicht wunder, dass Sahra Wagenknecht, deren Wahl in den Parteivorstand der PDS 1995 durch die Androhung Gregor Gysis und Lothar Biskys sich von ihren Ämtern zurückzuziehen, verhindert wurde, Jahre später in einer weit herausgehobenen Position, im Umgang mit den von ihr wenig geschätzten Parteivorsitzenden vergleichbare Drohungen einsetzte.

Der (einstweilige) Rückzug von Sahra Wagenknecht als Fraktionsvorsitzende wird für DIE LINKE zu einer Zäsur werden. Vergleichbar mit dem Einschnitt, den die Partei durch den Rückzug der Gründungsvorsitzenden Lothar Bisky und Oskar Lafontaine in den Jahren 2009/2010 erlebt hatte. Damals mündete ein missglückter Übergang in zwei Jahre währende interne Macht- und Flügelkämpfe, die im traumatischen Göttinger Parteitag mündeten. Damals stand DIE LINKE objektiv am Abgrund. Sie war gespalten, fand aber einen Weg des Ausgleichs der inneren Widersprüche.

Kollektive Führung oder Göttingen II

Es gibt auch jetzt offenkundig Akteure in der Partei und insbesondere der Bundestagsfraktion, die den Rückzug von Sahra Wagenknecht aus der ersten Reihe als Ausgangspunkt eines ohne Rücksicht auf Verluste und gänzlich ohne jede strategische Perspektive ausgetragenen parteiinternen Machtkampfs zu sehen wünschen. Die zu diesem Zweck gestrickte Legende lautet, der Rückzug von Sahra Wagenknecht sei das Ergebnis einer von den Parteivorsitzenden getragenen Mobbing-Attacke. Dies ist weder von – für alle nachprüfbaren – Tatsachen gedeckt, noch nimmt es Rücksicht auf die scheidende Fraktionsvorsitzenden und das von ihr bleibende Bild. Wir erinnern uns an Marx‘ Vorrede zu „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“: „Hegel bemerkte irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen, hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“

Die konsequente Fortsetzung des Entwicklungspfads, den DIE LINKE seit dem Göttinger Parteitag mit allen Problemen und Rückschlägen eingeschlagen hat, besteht in einem Modell kollektiver Führung. Durch das die verschieden Milieus und Traditionslinien der Partei eingebunden und neue Schichten erschlossen werden können.

Der Rückzug von Sahra Wagenknecht als Fraktionsvorsitzende wird sich erst vollziehen. Doch die Partei konnte im vergangenen Vierteljahr und insbesondere auf dem jüngsten Bundesparteitag bereits Erfahrungen im Umgang mit dieser Situation sammeln.

Auf dem vorangegangenen zum Zerreißen gespannten Parteitag in Leipzig drehte sich noch alles um Sahra Wagenknecht und die von ihr befeuerte Debatte um eine vermeintlich weltfremde Flüchtlingspolitik. Vor wenigen Wochen in Bonn debattierte DIE LINKE über zwei pro-europäische Positionen. Das weitergehende Bekenntnis zu einer „Republik Europa“ unter Aufgabe nationalstaatlicher Kompetenzen und Schaffung einer zweiten Kammer der Mitgliedsstaaten wurde zwar abgelehnt, erhielt aber mehr als 40% Zustimmung. Die mediale Wiederspiegelung: überraschende Positionen einer politikfähigen Linken, die nicht um sich selbst kreist. Dietmar Bartsch, im Rennen um den Parteivorsitz 2012 knapp gescheitert, hielt den Rechenschaftsbericht der Bundestagsfraktion wie ein dritter Parteivorsitzender – sprach Themen an, die Kipping und Riexinger ausgespart hatten.

Zu sehen waren in Bonn drei Persönlichkeiten, die sich ergänzten statt einander auszustechen. Die seit Jahren rumorende und lähmende personelle und machtpolitische Auseinandersetzung zwischen Bundestagsfraktion und Parteizentrale war nicht einmal im Hintergrund spürbar. Rückblickend betrachtet könnte sich dergestalt bereits die künftige Architektur der LINKEN als kollektive Führung gezeigt haben.

Dass SPD-Mann Ralph Stegner am Tag der Ankündigung Wagenknechts vom Rückzug als Fraktionsvorsitzende, die Chancen für eine rot-rot-grüne Zusammenarbeit im Bund steigen sieht, zeigt nicht allein fehlendes Feingefühl sondern auch seine fehlende Ernsthaftigkeit im Umgang mit diesem wichtigen Projekt. An Sahra Wagenknecht scheiterten ernsthafte Kooperationsbemühungen nicht. Denn zu diesem Praxistest ist es bekanntlich nie gekommen. Gerade deshalb kein Grund, ihn nicht zu starten.

Dennoch wird durch den Rückzug von Sahra Wagenknecht auch die fortgesetzte strategische Ortsbestimmung der Partei DIE LINKE unumgänglich. Diese Debatte wird schon länger geführt, aber die Akteur/innen, die an einer kollektiven Führung der Partei und der Fraktion mitwirken wollen, müssen Gestaltungspolitik im Regierungsverantwortung eben nicht nur als eine theoretische Trockenübung verstehen, sondern auch bereit sein, ins Wasser zu springen.

Unabhängig davon wird die Partei, die vor 14 Jahren erstmals in den Bundestag einzog, sukzessive erwachsen. Sich von Autoritäten zu lösen und ein neues Verhältnis zu ihnen zu bestimmen, ist normaler Bestandteil dieses Prozesses. Die Linkspartei ist oft totgesagt worden. Ihr Ende in der öffentlichen Wahrnehmung wurde nach dem Rückzug von Lafontaine und Gysi prophezeit. Dies ist auch nach dem (einstweiligen) Rückzug Wagenknechts aus der ersten Reihe zu erwarten – und genauso wenig realistisch.

Der Beitrag entstand gemeinsam mit Alexander Fischer. Er bloggt auch unter fliesstexte.de.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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