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Landtagswahl MV DIE LINKE hat ein enttäuschendes Ergebnis bei der Landtagswahl in Mecklenburg-Vorpommern erhalten. Einige Schlussfolgerungen nachdem der erste Staub sich gelegt hat

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Wie soll das Land davor gestaltet werden?
Wie soll das Land davor gestaltet werden?

Bild: Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Anders als früheren Generationen von Beobachter/-innen des politischen Prozesses steht heute ein Überangebot an Zahlenmaterial zu Wahlentscheidungen und Wahlabsichten zur Verfügung. Leider aber auch ein Überangebot an öffentlich vorgebrachten Interpretationen, die – in der Logik medialer Verarbeitung großer Ereignisse – in aller Regel in analytische Blickverengungen münden, die wiederum Rückwirkungen auf die politische Kommunikation haben.

In Mecklenburg-Vorpommern hat rund 1,3 Prozent der Wahlberechtigten der Bundesrepublik einen gültigen Wahlzettel abgegeben. Davon hat rund jede_r Fünfte für die AfD gestimmt, noch weniger für die CDU und viel weniger für DIE LINKE.

Es gibt keinen Anlass, das Wahlergebnis vom Sonntag schön- oder kleinzureden. Im Gegenteil. Aber es gibt gute Gründe, die Aufmerksamkeitsverengung und daraus folgenden analytischen Kurzschlüssen in Frage zu stellen.

Tatsache ist, dass DIE LINKE bei der Landtagswahl vom 4. September 2016 auf das Niveau der 1990er Jahre zurückgefallen ist. Worin die Ursachen dafür liegen erschließt sich jedoch - anders als es die auf die AfD fokussierte Betrachtung erscheinen lässt - nur zu einem geringen Teil aus dem Abschneiden der AfD selbst.

Wir argumentieren nachfolgend, dass eine Ursachenbetrachtung des Abschneidens der Partei DIE LINKE auf drei Ebenen ansetzen muss, um Vorschläge für das politische Handeln in der Zukunft zu unterbreiten:

(1) Strukturellen Veränderungen in der Wähler/-innenschaft der Partei, die wesentlich seit den 1990er Jahren bestehen, bis heute fortwirken und durch den Hype der Jahre 2005-2009 für DIE LINKE übertüncht aber nicht verändert wurden.

(2) Dem Umstand, dass das politische Subjekt der Partei DIE LINKE und der Sozialdemokratie, die Arbeiter/-innenschaft und Arbeitslosen, in relevantem Maße zur AfD wechseln und dort gegebenenfalls längerfristig verbleiben.

(3) Der strategisch-inhaltlichen Herausforderung, dass ein relevanter Teil der bundesdeutschen Bevölkerung im Hinblick auf die finanzielle und wirtschaftliche Entwicklung optimistisch eingestellt ist und gleichzeitig das Sicherheitsgefühl in der Gesellschaft erodiert.

Absinkende Wähler/-innenschaft der früheren PDS in Ostdeutschland

Seitdem DIE LINKE bei der Bundestagswahl 2009 ihren bislang vorläufigen Zenit in der Wähler/-innenzustimmung erreicht hatte, ist sie - von einzelnen Ausnahmen abgesehen - mit einem bereits länger anhaltenden Trend absinkender Zustimmungswerte konfrontiert. Zwar besteht derzeit keine Wahrscheinlichkeit, auf eine Situation wie 2002 als die PDS bis auf zwei direkt gewählte Abgeordnete aus dem Bundestag ausscheiden musste, hinzusteuern. Die Ursachen für absinkende Zustimmungswerte gegenüber der Linkspartei liegen also jenseits der AfD, werden aber durch die AfD verstärkt.

Werfen wir also einen Blick zurück auf die jüngere Parteientwicklung der LINKEN und damit auf die tatsächliche Problemanalyse, die sowohl demographisch wie politisch-inhaltlich orientiert sein muss.

Die damalige PDS konnte gesellschaftspolitisch ihren Gebrauchswert nicht mehr verdeutlichen und litt an einem
Sterbeüberhang sowohl hinsichtlich der Mitgliedschaft, als auch der Kernwähler/-innenschaft sowie einer für sie nachteiligen sozio-demographischen Entwicklung. Dementsprechend wurde die PDS nach der Bundestagswahl 2002 und auch im Laufe des Jahres 2003 übereinstimmend für klinisch tot erklärt. Erst im Zuge der Hartz-IV-Proteste vor allem in Ostdeutschland gewann sie wieder an Statur auf ihrem eigentlichen Kompetenzfeld, als "Kümmererpartei“. Nun war sie wieder da, hatte eine Funktion und Gesichter. Auf dieser Welle gelang es in den Wahlkämpfen des Jahres 2004, den Volkszorn gegen „die da oben“ zu kanalisieren und dem wiedergewonnenen glaubhaften Image als soziale Partei und Vertreterin spezifischer ostdeutscher Interessen Rechnung zu tragen. Mit Erfolg bei den Europawahlen und den Landtagswahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen.

Gleichwohl war ein Überleben der PDS in keiner Weise garantiert und ein Einzug in den Deutschen Bundestag 2006 ausgesprochen ungesichert. Mehr noch: Das Jahr 2005 stellte aufgrund fehlender Gelegenheiten zur öffentlichen Darstellung für die PDS ein Angstjahr dar – zu groß war die Gefahr, dass sie in der öffentlichen Wahrnehmung vergessen würde. Bei den Umfragen schwankte sie zwischen 4% und 6%. Zu wenig um darauf eine erfolgversprechende Strategie aufbauen zu können.

Die strukturellen sozio-demographischen Probleme – abschmelzender Rückhalt in den früheren DDR-Dienstleistungszentren und der sie vormals prägenden Dienstleistungsklasse – konnten auch durch die 2004er Erfolge nicht wettgemacht werden. Stattdessen wurden die
PDS-Hochburgen sukzessive eingeebnet. Die Schwerpunkte verlagerten sich vom großstädtischen eher in den bevölkerungsärmeren ländlichen bzw. mittelstädtischen Raum.

Ein Bevölkerungsaustausch in den ostdeutschen urbanen Zentren sowie der demographische Faktor untergruben die Stammwähler/-innenschaft der PDS. Der Übergang zur LINKEN bedeutete unter diesem Gesichtspunkt eine unerwartete Frischzellenkur. Eine PDS auf dem Niveau der heutigen LINKEN Ostdeutschlands würde es ohne die Gründung der Partei DIE LINKE vermutlich nicht mehr geben.

Gleichwohl wurden die Probleme der früheren PDS in Ostdeutschland nur kurzfristig kleiner und vertagt. Nun tauchen sie bei den Landtagswahlen der Jahre 2014-2016 verstärkt wieder auf.

Die Asymmetrie in der Mitgliedschaft zwischen neuen und jüngeren Mitgliedern einerseits, zu alten und sehr alten Mitgliedern andererseits wurde abgeschwächt, ohne in seiner Dramatik tatsächlich verloren zu haben. Die Wählerschaft transformierte sich – der Anteil der gut situierten Akademiker im Rentenalter nahm im Vergleich zur Gruppe der Arbeitslosen ab.

Auch die Zustimmung von Frauen sank, während die Wählergruppe der Männer im Alter zwischen 49 und 59 Jahren zunahm.

Die langfristigen strukturellen Trends in Ostdeutschland, wie der Verlust von Stimmenanteilen in den größeren Städten und insbesondere den Innenstädten, absolut kleiner werdende Gruppe der vormaligen DDR-Stammwähler/-innen sind weiterhin wirksam. Erschwerend kommt jedoch hinzu, dass außerhalb der Städte die Stimmenanteile noch stärker absinken, also nicht kompensiert werden, wie eine Zeitlang angenommen werden konnte. In einem Land wie Mecklenburg-Vorpommern, das als eins der sozio-demographisch schwachen Länder Deutschlands gilt, war es nur eine Frage der Zeit, dass diese Entwicklung - ohne externe politische Unterstützungseffekte - letztlich massiv auf DIE LINKE durchschlägt.

Wer das Wahlergebnis in Mecklenburg-Vorpommern für DIE LINKE antizipieren wollte, musste nur einen Blick auf die Wahlergebnisse in Sachsen und Sachsen-Anhalt werfen, in denen diese Entwicklungen bereits überdeutlich am Horizont aufschienen.

Kurzum: Die verfügbaren Daten deuten darauf hin, dass die aktuellen Wahlergebnisse der LINKEN im Osten der Republik, von Sachsen und Brandenburg 2014 (mit einem durch spezifische Faktoren erklärbaren Ausreißer nach oben: Thüringen) bis zu Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern 2016 auf demographische Entwicklungen zurück zu führen sind. Überproportional stark war die Zustimmung für DIE LINKE in Mecklenburg-Vorpommern in den Altersgruppen ab 60 und unter 25, unterdurchschnittlich in den Altersgruppen dazwischen, die den Kern der Erwerbsgesellschaft ausmachen.

Man könnte es auch so ausdrücken: die PDS wächst langsam aus der Alterspyramide der Wahlberechtigten heraus, und DIE LINKE wächst von unten nur langsam nach.

Insofern sind die ostdeutschen Wahlergebnisse seit der Bundestagswahl 2013 zum einen Ausdruck eines langfristigen Konvergenzprozesses der Zustimmungswerte für DIE LINKE, in dessen Verlauf der Unterschied zwischen Ost und West zurück tritt (mit Ausnahmen in der einen oder anderen Richtung) und der Unterschied zwischen Stadt und Land immer stärker ausgeprägt wird. DIE LINKE schneidet in den vergangenen Wahlen umso besser ab, je städtischer das Umfeld ist, in dem gewählt wird aber dennoch unterhalb der Zustimmungswerte in den Städten der 1990er Jahr. Das gilt im Übrigen als Trend auch für Mecklenburg-Vorpommern.

Politisches Subjekt auf Abwegen?

Nehmen wir kurz an, es hätte bei selber Wahlbeteiligung in Mecklenburg-Vorpommern keinerlei saldierte Wählerwanderung zwischen LINKE und AfD gegeben. Dann hätte die AfD laut Infratest/Dimap 18.000 Zweitstimmen weniger und DIE LINKE 18.000 Stimmen mehr erhalten. Das Wahlergebnis wäre dann aus Sicht der LINKEN mit rund 15,4 Prozent etwas erfreulicher, für die AfD mit rund 18,5 Prozent entsprechend schlechter. Allerdings hätte das nichts daran geändert, dass DIE LINKE hinter der AfD, die ihrerseits aus dem Stand ein zweistelliges Ergebnis erzielt.

Nun sind das Spekulationen, gegen die man mit Recht einwenden kann, dass auch unter den Nichtwähler/innen viele ehemalige LINKE-Wähler/innen sein können. Aber es zeigt doch, dass die Fixierung auf das Abschneiden einer konkurrierenden Partei möglicherweise in einen strategischen Irrgarten führt.

Ein demoskopisch belegter Fakt ist das Abschneiden der AfD unter Arbeiter/innen und Arbeitslosen, wo sie mit 34 und 30 Prozent jeweils DIE LINKE und die SPD deutlich abhängt (Vgl. Wahlnachtbericht von Horst Kahrs), was tatsächlich ein deutlicher Indikator dafür ist, dass die politische Linke dort, wo sie historisch und traditionell am stärksten verankert war, signifikant an Unterstützung verliert.

Es ist diese Entwicklung, von der Didier Eribon, dessen Buch "Rückkehr nach Reims" derzeit in Deutschland unter Linken viel gelesen und diskutiert wird, sagt: "Die linke Politik steckt in einer schweren Krise, die sich seit Jahrzehnten angebahnt hat." Allerdings leitet sich aus dieser Analyse ein anderer politischer Umgang mit dem manifesten Rechtsruck in der Gesellschaft ab, als der, die SPD weiter als Hauptfeindin und die AfD als Hauptkonkurrentin zu behandeln.

Eribon beschreibt die Geschichte der Arbeiter_innenbewegung als generationenübergreifenden Aufstiegsprozess und habituellen Ablösungsprozess, der in einen Trend zur Ablösung der politischen Linken von ihrem politischen Subjekt mündete. Deutschland vollzieht diesen europaweiten Trend unter spezifischen Bedingungen nach. Die Flüchtlingskrise hat eine Neuordnung der politischen Diskurse bewirkt, die von den in der Linken tradierten, marxistisch inspirierten Deutungen historischer Entwicklungen nicht erfasst werden. Das politische Feld wird in der Wahrnehmung vieler, schwerpunktmäßig der prekären Schichten, durch die Frage geordnet, ob man für oder gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und Migrant/innen ist. "Die da oben" sind in der Wahrnehmung von denen "da unten" dafür, und damit steht die politische Linke, deren Teil DIE LINKE ist, in den Augen eines Gutteild ihres politischen Subjekts auf der Seite der Herrschenden. Dieser Prozess ist nicht irreversibel, aber nur mit einer mittelfristigen strategischen Perspektive zu stoppen und vielleicht auch umzukehren, über die später noch zu sprechen sein wird. Hier soll nur so viel gesagt werden, dass DIE LINKE ihre Rolle in einem neu entstehenden progressiven Lager strategisch definieren und politisch untersetzen muss. Es ist nicht einfach so, wie in der linken deutschen Eribon-Rezeption oft nahe gelegt wird, dass die Linke einfach eine andere Sprache braucht, um die Bindung an ihr politisches Subjekt wieder aufzubauen. Das vielleicht auch, aber ohne ein neues strategisches Modernisierungsprojekt, das die Fehler der neoliberalen Wende ab den 90er Jahren ehrlich aufarbeitet und das Versprechen sozialer und politischer Emanzipation und Selbstermächtigung glaubhaft reanimiert, wird die politische Linke nicht zurück in die Offensive kommen. DIE LINKE wird daher ihr Verhältnis zu den Parteien und Bewegungen der linken Mitte neu justieren müssen. Im Moment sind wir noch nicht wirklich entschieden, ob wir als Antreiber und Besserwisser auf der Zuschauertribüne bleiben oder als Mitspieler aufs Spielfeld wollen. Wir werden die Entscheidung nicht mehr lange aufschieben können.

Erodierendes Sicherheitsgefühl und Denkzettelwahl im bedrohten Paradies

Wer die Zufriedenheitswerte mit der Landesregierung in Mecklenburg-Vorpommern im Vorfeld der Landtagswahl im Vergleich zu denen früherer Wahlen betrachetet, hätte annehmen können, dass SPD und CDU ohne größere Probleme durch Ziel gehen. Von 37 Prozent 1998 und 2006 über 55 Prozent 2011 stieg die Zufriedenheit nunmehr auf 61 Prozent in 2016.

Laut Infratest dimap schätzten 80 Prozent der Wähler/-innen in Mecklenburg-Vorpommern ihre wirtschaftliche Lage als gut ein. 64 Prozent sahen sich als Gewinner/-innen der gesellschaftlichen Entwicklung, während sich 21 Prozent als Verlierer/-innen betrachteten. Im Jahre 2006 lag das Verhältnis noch bei 47:37.

Angesichts dessen zeigt sich, dass die Annahme, die Strukturschwäche Mecklenburg-Vorpommerns sei Ursache des AfD-Erfolgs von wenig Kenntnis aber viel Vorurteil zeugt.

Deutlich mehr Plausibilität haben tiefergehende und auf langfristigeren Beobachtungen basierende Erkenntnisse des Allensbach-Institutes. Allensbach hat sich in verschiedenen, von der FAZ publizierten Analysen der jüngeren Zeit mit der enorm gestiegenen Unsicherheit innerhalb der bundesdeutschen Bevölkerung befasst.

Im Januar 2016 führte Thomas Petersen unter der Überschrift "Die Angst vor der Veränderung" aus, dass die relative Ruhe der vergangenen Jahre und die Verunsicherung der Gegenwart in einem engen Zusammenhang stehen: "Der atmosphärische Kontrast zwischen dem Januar 2015 und dem Januar 2016 ist nicht das Zeichen einer grundlegenden Neuorientierung, sondern das Kennzeichen einer Gesellschaft, die sich mit der Gegenwart gut arrangiert hat und die sich deswegen vor Veränderungen fürchtet".

Allensbach-Untersuchungen zeigen, dass in den vergangenen Monaten im Kontext der Flüchtlingszuwanderung und der gestiegenen Terrorgefahr im Verbund mit konkreten Anschlagsereignissen, die Besorgnis in den Feldern Innere Sicherheit/Kriminalität, Zuwanderung aber auch bei dem von Tagespolitik unabhängigen Unsicherheitsgefühl zugenommen hat. Sagten 29 Prozent der Befragten im Sommer 2014, dass sie eine allgemeine Unsicherheit verspürten, wie es weitergeht, lag die Zahl derjenigen im Januar 2016 bei mehr als 50 Prozent.

Renate Köcher konkretisiert im Februar dieses Jahres im FAZ-Beitrag "Diffuse Ängste" die Erkenntnisse über Ängste innerhalb der bundesdeutschen Bevölkerung. Gezeigt wird, dass Befürchtungen hinsichtlich des Zuwachses an Kriminalität bereits seit Jahren zugenommen haben - also unabhängig von der Flüchtlingszuwanderung -, die Zuwanderung jedoch das Unsicherheitsgefühl hat steil ansteigen lassen. "Vor zehn Jahren hatten 47 Prozent der Bürger den Eindruck, dass die Kriminalität in Deutschland zunimmt, 2014 bereits 60 Prozent, jetzt 69 Prozent. Der Zustrom an Flüchtlingen ist damit nicht der entscheidende Auslöser dieser wachsenden Besorgnis, vergrößert sie jedoch. [...] Sorgen über die Entwicklung der Flüchtlingszahlen korrelieren eng mit der Befürchtung, dass diese Entwicklung zu mehr Rechtsverstößen führen könnte."

Auch die Sorge, persönlich durch Kriminalität gefährdet zu sein, nimmt schon seit Jahren auffallend zu. Während sich vor fünf Jahren zwei Drittel der Bevölkerung sicher fühlten, machen sich zwischenzeitlich 51 Prozent Sorgen, Opfer eines Verbrechens zu werden. "Überdurchschnittlich besorgt sind Frauen, Über-60-Jährige und die ostdeutsche Bevölkerung. 41 Prozent der Männer, aber 60 Prozent der Frauen fühlen sich nicht sicher; 5 Prozent der Männer, 12 Prozent der Frauen fühlen sich akut bedroht. [...] Auch hier zeigt sich, dass sich die Verunsicherung nicht erst in den letzten Monaten ausbreitete, sondern bereits zwischen 2011 und 2014."

Angesichts dessen überrascht es nicht, wenn Petersen in seinem Beitrag darlegt, dass nach Allensbach-Erkenntnissen die Bürger/-innen, aktuell vor die Auswahl gestellt, sich zwischen Freiheit und Sicherheit entscheiden zu können, zu 54 Prozent für Sicherheit entschieden; bei den AfD-Anhänger/-innen stieg dieser Wert auf 63 Prozent.

Petersen zieht daraus zwei wichtige Schlussfolgerungen:

(1) Deutschland zeigt die Merkmale einer gesättigten Gesellschaft. [...] Es ist anzunehmen, dass die Neigung, am Bestehenden festzuhalten, in Deutschland, in den kommenden Jahrzehnten noch zunehmen wird.

(2) Dies ist eine wahrscheinlich unausweichliche Folge der Alterung einer Gesellschaft. [...] In einer alternden Wohlstandsgesellschaft wird es für die Menschen immer wichtiger, den bestehenden Zustand zu verteidigen und immer weniger wichtig, mit Risikobereitschaft neue Chancen zu suchen. Das betrifft materielle Dinge, aber, wie sich in den Allensbacher Umfragen immer wieder zeigt, auch andere Lebensbereiche wie etwa Fragen der sozialen und inneren Unsicherheit.

"Die Einwanderung vieler hunderttausend Menschen aus einem fremden Kulturkreis wäre für jede Gesellschaft eine große Herausforderung. Doch diese Herausforderung mit Mut und Optimismus anzunehmen ist besonders schwer, wenn Veränderung an sich bereits als Bedrohung empfunden wird."

Nehmen wir diese Erkenntnisse der Jahre 2014 bis 2016 und setzen sie ins Verhältnis zu den Erkenntnissen des Rheingold-Instituts im Vorfeld der Bundestagswahl 2013, die diese unter der Überschrift "Das bedrohte Paradies" veröffentlichte.

Ausgeführt wurde dort: "Viele Wähler sind zwar stolz oder dankbar, dass Deutschland bislang der Krise trotzen konnte. Dennoch herrscht ein latentes Unbehagen im Land. Deutschland wird als ein bedrohtes Paradies erlebt, in dem Werte wie Gerechtigkeit langsam erodieren. Die Zukunft ist für die Wähler derzeit nicht mit verheißungsvollen Vorstellungen verbunden, sondern sie erscheint hauptsächlich als finstere Drohkulisse und Krisenszenario. Das Schreckgespenst der Krise lauert immer noch vor den Grenzen Deutschlands. Es soll daher weiterhin so lange wie möglich gebannt und in Schach gehalten werden. Der Glaube an eine bessere Zukunft, für die die Parteien streiten können, ist der diffusen Sehnsucht nach einer permanenten Gegenwart gewichen. [...] Kein Politiker verkörpert derzeit das Versprechen von Schutz, Konstanz und Zeitlosigkeit stärker als Angela Merkel. [...] Ihr gelingt es, das seit Jahren bedrohliche Krisen-Schreckgespenst in Schach zu halten. Eben nicht durch hektischen Aktivismus oder mutige Reformen, sondern durch Ruhe und Gelassenheit: „Sie ist der Fels in der Brandung und deshalb wähle ich sie.“"

Die Entscheidung der Kanzlerin im Herbst des vergangenen Jahres, die Grenzen zu öffnen und mit der Aussage "Wir schaffen das" einen krassen Wechsel von der Abschottung Deutschland vor den Problemen der Welt zur Öffnung für hunderttausende Flüchtlingen vorzunehmen und der damit verbundene Vertrauensverlust, wird mit Blick auf diese Daten und Erkenntnisse in ihrer Dimension erst tatsächlich deutlich. In den Augen derjenigen, für die Angela Merkel den "wehrhaften Schutzengel des bedrohten Paradieses" (Rheingold-Institut) repräsentierte, ist die Denkzettelwahl eine logische Konsequenz aus enttäuschter Erwartung.

Renate Köcher stellte in einem FAZ-Beitrag "Umbrüche im Parteiensystem" im April 2016 fest, dass knapp 50 Prozent der Bevölkerung die Ergebnisse der AfD bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt mit einer gewissen Genugtuung und als Denkzettel für die etablierten Parteien betrachteten. Verbunden mit der Hoffnung, dass innerhalb dieser Parteien eine kritische Selbstreflexion einsetzen würde. Der Kreis derjenigen, die selbst mit der AfD sympathisieren würden, sei mit 11 Prozent wesentlich kleiner.

Weder der Kampf gegen die AfD noch um deren Wähler/-innen ist derzeit sinnvoll und erfolgreich

Vorstehende Erkenntnisse geben Hinweise für den Umgang mit dem manifesten gesellschaftlichen Trend zu Mitte-Rechts, den wir seit einigen Jahren, wenigstens seit der vergangenen Bundestagswahl erleben. Solange die Auseinandersetzung vorrangig als Kampf gegen die AfD oder um deren Wähler/-innen geführt wird, führen wir ihn falsch. Beide Ziele sind im aktuellen Klima weder erreichbar noch aufklärerisch sinnvoll zu erreichen. Das zeigen alle Bestrebungen, mit Anlehnung an den Duktus der AfD von links Wähler/-innen zu erreichen.

Vor uns liegt zunächst die Behebung eines strategischen Defizits. Wir haben uns seit dem Herbst 2015 als Partei nicht ernsthaft darüber unterhalten, was die Entscheidung für die kurzfristige Aufnahme einer siebenstelligen Zahl von Flüchtlingen jenseits der Aufgaben von Integration im Hinblick auf den politischen Diskurs und dessen Zuordnung für Folgen hatte und wie sich DIE LINKE dazu stellen muss.

Natürlich sind wir die Partei der Flüchtlingshelfer. Natürlich sind wir die Partei, die für das Grundrecht auf Asyl einsteht. Natürlich sind wir die Partei, die für kulturelle Offenheit und eine Modernisierung der Gesellschaft streitet. Und ebenso natürlich sind wir auch und weiterhin die Partei der sozialen Sicherheit und Gerechtigkeit.

Diese Gewissheiten sind nützlich. Sie geben uns den Kompass, mittels dessen wir klar navigieren können: "Die AfD ist rechts. Wir sind links." (Bernd Riexinger). Keine unwesentliche Kursbestimmung.

Die humanitären Gewissheiten geben jedoch noch keine Antwort darauf, wie damit umzugehen ist, dass ein wachsender Teil der Bevölkerung diesen Kanon von Haltungen nicht auf einer Seite des diskursiven Grabens verortet - und schon gar nicht auf der Seite, auf der sie stehen -, der im Moment die Bundesrepublik Deutschland und Europa vordergründig entlang der Frage Pro oder Contra Flüchtlingsaufnahme spaltet. Und der in Wirklichkeit ein politischer und kultureller Großkonflikt um die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung für die kommenden Jahre, womöglich Jahrzehnte ist.

Der Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow hat darauf in seiner beachtenswerten Jenaer Rede einerseits und in einer Reflexion über das Wahlergebnis von Mecklenburg-Vorpommern Hinweise gegeben, die eine weitere Debatte lohnen: "Der Gegenentwurf zu Stillstand und Rückwärtsgewandtheit ist die Vision von einer sozialen Einwanderungsgesellschaft, in der sich sozialer Fortschritt, wirtschaftliche Transformation sowie politische und kulturelle Modernisierung vereinen."

Linke Gestaltungspolitik: Sicherheit liberal und sozial buchstabieren

DIE LINKE muss sich in auch unangenehmen gesellschaftlichen Diskursen darauf verständigen, Sicherheit in einer von vielfältigen Krisenentwicklungen durchgeschüttelten Welt, die für viele den Bezug auf die Heimat als Arrangement verlässlicher sozialer und kultureller Bezüge immer wichtiger machen, sozial, liberal und weltoffen zu buchstabieren.

Wir müssen eine Erzählung entwickeln, wie Deutschland und Europa nach unserer Vorstellung in zehn Jahren aussehen sollen. Nicht als Gemälde programmatisch-normativer Idealvorstellungen, die auf Parteitagen mehrheitsfähig sind, sondern als authentische und realistische Erzählung über einen nach vorn gerichteten sozialen, ökonomischen und kulturellen Reformprozess, für dessen Realisierung wir als Teil eines progressiven Lagers kämpfen.

Eines progressiven Lagers, das sich als Gegenpol herausbilden muss zu dem bereits sichtbaren Lager Mitte-Rechts, das von der CDU/CSU bis zum "identitären" Rand der AfD reicht.

Die richtige Bearbeitung des politischen Rechtstrends beinhaltet auch, sich als Teil der intellektuellen Kristallisationspunkte, kulturellen Anker und mobilisierenden Akteure im Bemühen um die Bildung eines neuen historischen Blocks zu begreifen.

Die größten politischen und sozialen Bewegungen bestehen entgegen der medialen Aufmerksamkeitsökonomie nach wie vor eher in der linken Mitte mobilisieren, als auf der Rechten. Wenn über hunderttausende Demonstranten gegen CETA und TTIP, für eine sozial gerechte Energiewende, gegen die Agrarindustrie, für die Freiheit und Gleichheit der Liebe, für gerechte Löhne und soziale Sicherheit und nicht zuletzt gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit proportional so intensiv berichtet würde, wie über Pegida und die AfD, wie würde das öffentliches Bild von dieser Gesellschaft dann aussehen.

Der Einwand, hier würde billige Medienschelte betrieben, ist in dieser Feststellung bereits eingepreist und dennoch machen wir es uns nicht ganz so einfach. Petersen kommt in einem Beitrag für die FAZ im Mai dieses Jahres unter der Überschrift "Die Welt der Wutbürger" in der er Verbindungslinien zwischen massenmedialer Kommunikation und dem gesellschaftlichen Bewusstsein herstellt zu der Feststellung: "Es mag für viele publizistische Akteure ärgerlich sein, aber man wird das Aufkommen der populistischen Bewegungen nicht verstehen können, wenn man dabei nicht auch die Rolle der Massenmedien einbezieht."

Für heute soll zunächst die Feststellung genügen, dass es jenseits der Aufmerksamkeitsökonomie progressive Bewegungen gibt, in deren Chor sich DIE LINKE als Stimme und Verstärker einzubringen hat und dessen integraler Teil wir sind.

Anders als außerparlamentarische Bewegungen hat die parteipolitische Formation DIE LINKE jedoch eine politische Klaviatur zu bedienen, die linke Gestaltungspolitik von Protest, parlamentarischer Opposition bis hin zu Regierungsverantwortung reicht und bei der es grundsätzlich keine Tasten gibt, die nicht bespielt werden. Die neue politische Lagerbildung verlangt von uns, dass wir uns klar zu allen Aspekten unserer politischen Praxis bekennen und unsere Erwartungen daran formulieren.

Regieren, wenn die Mehrheit reicht und linke Gestaltungspolitik möglich ist

Wo wir regieren können, haben wir es zu tun, wenn Mehrheit und gemeinsame Verständigung es ermöglichen. Wo wir regieren, müssen wir durch symbolisches Handeln und materiell nachweisbare Verbesserungen in der Lage sein, Erwartungen zu erfüllen und im besten Sinne stolz auf das sein zu können, was wir leisten und zum Besseren verändern. Die Zeit, als DIE LINKE in der Regierungsarbeit unter Rahmenbedingungen extrem neoliberaler Diskurse um Schuldenbremse, Studiengebühren, Privatisierungen öffentlicher Unternehmen etc. der späten 1990er und frühen 2000er Jahre vor allem zu beweisen hatte, dass sie Realpolitik kann, ist vorbei.

Die schwierigere Aufgabe besteht darin, linke Gestaltungspolitik zu machen in Zeiten, in denen Rekommunalisierungen en vouge sind, eine Mehrheit der Bevölkerung in allen politischen Lagern öffentliche Investitionen statt Steuersenkungen oder Schuldenabbau präferiert und gleichzeitig - wie oben gezeigt wurde - individuelle Freiheit bereit ist zu Gunsten eines im Zweifel auch staatlich-autoritären Sicherheitsverständnisses zurückzustellen. Das Mitte-Links-Lager und DIE LINKE selbst stehen vor der Herausforderung, Sicherheit sozial und liberal zu buchstabieren. Vor allem auf denjenigen Feldern, die derzeit die größte Unsicherheit und Befürchtungen hervorrufen - soziale Sicherheit im Alter, individuelle Sicherheit im Alltag.

Auch dieser Prozess geht nicht schnell und ist nicht leicht. Aber in der Gesamtheit ist es der Weg, den eine moderne linke Sammlungspartei gehen muss, wenn sie mit Recht den Namen DIE LINKE führen will.

Der Beitrag wurde gemeinsam verfasst mit Alexander Fischer, zwischen 2014 und 2015 Regierungssprecher der Thüringer Landesregierung und seitdem Referatsleiter in der Landesvertretung des Freistaates beim Bund. Beide Autoren geben ausschließlich ihre persönliche Meinung wieder.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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