„Das war ja ein Gang durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung“

Rezension Drei neuere Publikationen setzen die verdienstvollen Grabungsarbeiten fort, mit denen Jüdinnen und Juden in der Arbeiter:innenbewegung des 20. Jahrhunderts und in der DDR von der Peripherie ins Zentrum gerückt werden.

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Judentum in der DDR, wie hier in der Erfurter Synagoge in den 1980ern, gab es. Aber genau so gab es Antisemitismus
Judentum in der DDR, wie hier in der Erfurter Synagoge in den 1980ern, gab es. Aber genau so gab es Antisemitismus

Foto: Imago / epd

Als verdienstvolle Grabungsarbeiten beschrieb ich auf diesem Blog zwei Publikationen, die im Jahr 2021 erschienen, und sich Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken widmeten bzw. ostdeutsch-jüdische Geschichten nach 1945 in der DDR erzählten. Weitere Publikationen, die seitdem erschienen sind, unterstreichen, wie lohnenswert es ist, solche Grabungsarbeiten fortzusetzen.

Betrachtet werden im Folgenden drei Sammelbände:

Zurückweisung jüdischer Lebenshaltung in der DDR

„1700 Jahre jüdisches Leben zeigten sich auch in der DDR“ formulieren Annetta Kahane und Martin Jander in der Einleitung ihres Buches und fahren fort: „[…] Die Geschichten der Kinder und Enkel jener Juden aus der DDR, die im vereinten Deutschland blieben oder auswanderten, tragen Erfahrungen in sich, die von verschiedenen Systemwechseln geprägt sind, in deren Mitte die Shoah und Deutschland stehen.“ (S. 22)

Ausgegangen waren die Herausgeber:in ursprünglich von der Annahme, „dass die Idee einer Rückkehr nach Deutschland für die politisch links argumentierenden Juden auch ihrer jüdischen Prägung entsprach“ (S. 9). Doch „die in unserem Buch geschilderten jüdischen Biographien erzählen, anders als wir dies bei der Planung des Bandes vermuteten, keine einheitliche Geschichte von deutschen Jüdinnen und Juden, die sich trotz aller Zurückweisungen an der sozialistischen Idee und deshalb auch an der Partei, die die DDR führte, orientierten.“ (S. 18)

Wer beim Blick in das Inhaltsverzeichnis des mit 221 Seiten handlichen und ansprechend gesetzten Bandes meint, Kahane und Jander hätten mit Blick auf eine möglichst breite Leser:innenschaft vor allem auf bekannte Namen gesetzt, irrt. Auch wenn mit Victor Klemperer, Arnold Zweig, Stefan Heym, Wolf Biermann, Jurek Becker und Barbara Honigmann sechs der 16 Porträts Persönlichkeiten gewidmet sind, die auch eine Generation nach dem Ende der DDR einer breiten Öffentlichkeit bekannt sind.

Vorgestellt werden vielmehr sehr unterschiedliche Biographien, darunter mit Paul Merker und Reimar Gilsenbach zwei nicht-jüdische Persönlichkeiten. Das Übergreifende, sie Verbindende besteht in ihrem Leben und ihren ähnlichen und doch so spezifischen Erlebnissen in der DDR.

Entgegen der Hoffnung der Porträtierten war die DDR aber keine „freiheitliche, sozialistische Gesellschaft, in der Juden als Bürger unter Bürgern hätten leben können, die ihre Verantwortung für die Shoah nicht externalisierte, sondern annahm und aller Gegner wie Opfer des Nationalsozialismus in Ehren gedachte, sie entschädigte und die noch lebenden Täter verurteilte“. (S. 13)

Eine Aufgabe ihres Buches sehen Kahane und Jander deshalb darin, jene „Kluft zu illustrieren, die zu überwinden nur sehr wenigen“ der Porträtierten gelang.

Antisemitismus in der DDR

Der Rückblick auf die DDR seitens der Herausgeber:in fällt entsprechend schonungslos aus. Sie war „eine Diktatur, schloss bis zu ihrem Ende keine Verträge mit dem Staat Israel und regelte die eben nicht umfangreichen Vergünstigungen für Überlebende und politische Gegner des Nationalsozialismus lediglich in sozialpolitischen Verordnungen.“ (S. 14)

Damit schließen sie an die Ergebnisse der verdienstvollen – eher sozialwissenschaftlichen – Studie von Thomaus Haury „Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR“ aus dem Jahre 2002 an.

Im Verhältnis dazu fällt die Rückschau von Gregor Gysi auf die DDR und jüdisch-linke Beziehungen milder aus. Er wird von Florian Weis für den zweiten Band der unter dem Dach der Rosa-Luxemburg-Stiftung herausgegebenen Reihe über Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken interviewt. Die Überschrift des Interviews „Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst du zu anderen Ausgegrenzten“ gibt zugleich der Publikation ihren Namen.

Gefragt von Weis, ob Gysi in den unterschiedlichen Phasen der DDR so etwas ähnliches wie die Slánský-Prozesse in der damaligen Tschechoslowakei oder die von Stalin inszenierte sogenannte Ärzteverschwörung sehe, verneint er expliziten Antisemitismus in der SED-Führung, verweist aber auf Ulbrichts antipolnische Einstellungen. Die DDR habe sich, so Gysi, Antisemitismus „schon wegen der Bundesrepublik Deutschland nicht leisten“ können, „die Grenze war ja noch offen“.

Leider greift Gregor Gysi hier zu kurz. Ausgeblendet bleiben sowohl die Strafmaßnahmen gegen das SED-Politbüro-Mitglied Paul Merker, der sich als einziger führender Kommunist und Nicht-Jude für eine umfassende Entschädigung der Jüd:innen einsetzte als auch die Auflösung der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes (VVN) in der DDR und die öffentliche antisemitische Kampagne, die im Winter 1952/1953 zum Exodus eines großen Teils der jüdischen Gemeinden aus der DDR nach West-Berlin oder in die Bundesrepublik führte. Allein am 12./13. Januar 1953 flüchteten in einer konzertierten Aktion Vorstandsmitglieder aller jüdischen Gemeinden aus der DDR.

Antisemitismus, Holocaust oder die spezifische Lage der Jüd:innen in Deutschland nahmen für die deutschen Kommunist:innen vor und nach 1945 keine wesentliche Rolle ein, wie Jeffrey Herf bereits im ersten Satz seines Beitrags „Ein antisemitisches Gerichtsurteil. Paul Merker (1894-1966) und das Ende antifaschistischer Solidarität mit Juden und Israel in der DDR“ (S. 47) darlegt, der im Band „Juden in der DDR“ enthalten ist.

Paul Merker hingegen repräsentierte, wie Herf im sehr lesenswerten Aufsatz schildert, „eine andere Variante des antifaschistischen, besser des antinationalsozialistischen Kampfes“, bei dem „die jüdische Frage von der Peripherie ins Zentrum rückte“. (ebd.) Dafür wurde er im Kontext der Noel-Field-Affäre und des Slánský-Prozesses verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Unter anderem weil er im Exil vermeintlich „Anschluss an ‚emigrierte kapitalistische jüdische Kreise‘ gesucht habe (S. 52). Nach seiner Freilassung im Rahmen des Tauwetters nach dem XX. Parteitag der KPdSU formulierte Merker in einer „Stellungnahme zur Judenfrage“ unter anderem: „Ich bin weder Jude noch Zionist – ein Verbrechen wäre wohl keines von beiden“. Mit dieser Haltung stand er in der kommunistischen Orthodoxie, die er früher als Anhänger der Sozialfaschismus-These selbst befördert hatte, jedoch weitgehend allein. Stattdessen wurde der Zionismus „als Agentur des amerikanischen Imperialismus“ definiert und das Verhältnis zu Israel entsprechend determiniert.

Kahane und Jander formulieren die rückblickende Erwartung an die SED, diese hätte „sich der von der Sowjetunion ausgehenden Kampagne gegen Westemigranten und Juden unter Verweis auf den gerade erst unter großen Opfern militärisch besiegten deutschen Nationalsozialismus zu widersetzen“ (S. 15). So richtig dies klingen mag, so illusorisch ist der Anspruch. Seit Mitte der 1920er Jahre war die KPD stalinistisch erstarrt. Die aus ihr entstandene SED war – stärker noch als andere kommunistische Parteien - von Moskau abhängig.

Zuzustimmen ist Kahane/Jander wiederum darin, dass die antisemitische Kampagne der frühen 1950er Jahre die antifaschistische Solidarität aller vom Nationalsozialismus Verfolgten beendete: „Die jüdischen Opfer und Gegner des Nationalsozialismus […] wurden in der DDR nicht geehrt, sie wurden ganz im Gegenteil öffentlich entwürdigt. Dieser Prozess begann damit, dass in der veröffentlichten zensierten Presse der DDR und später auch in den Verordnungen zur sozialpolitischen Betreuung von Opfern nationalsozialistischer Verfolgung zwischen kommunistischen ‚Kämpfern‘ und jüdischen ‚Opfern‘ unterschieden wurde.“ (S. 17)

Zu denjenigen Jüd:innen der DDR, die am 12./13. Januar 1953 flüchteten, gehörte Leon Löwenkopf. Er war bis zur Flucht erster Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde in Dresden. 1942 kämpfte er im jüdisch-polnischen Widerstand gegen die Nationalsozialisten, überlebte die KZ Majdanek, Auschwitz und Sachsenhausen und wurde 1945 auf einem Todesmarsch befreit. Aktiv in der VVN, wehrte er sich gegen die Viktimisierung von Jüd:innen, denen pauschal abgesprochen wurde, Kämpfer:innen gegen den Nationalsozialismus gewesen zu sein. Nach seiner Flucht schloss ihn die VVN am 21. Januar 1953 als „zionistischen Agenten“ aus dem Verband aus.

Eugen Gollomb, der im Buch „Juden in der DDR“ von Steffen Held porträtiert wird, erlebte Ähnliches. Er kämpfte 1939 zunächst als Unteroffizier in der polnischen Armee gegen die Wehrmacht, geriet in Kriegsgefangenschaft, war kurzzeitig freigelassen und durchlitt Zwangsarbeit, die Ermordung von Frau und Kind sowie Auschwitz-Birkenau, bevor er im Januar 1945 flüchten konnte und sich einer polnischen Partisaneneinheit anschloss. Er erlebte das Ende des Krieges kämpfend als Offizier der polnischen Befreiungsarmee. Auch Gollomb wurde der Status als „Kämpfer gegen den Faschismus“ verweigert. „Die zuständige Dienststelle lehnte den Antrag ab und begründete die Entscheidung mit fehlenden Dokumenten. Diese Nichtanerkennung hat ihn bis zuletzt tief verletzt“, wie Steffen Held beschreibt, „und er sah darin eine weiterwirkende Zurücksetzung der Juden“. (S. 143)

Restitution und Wiedergutmachung in Thüringen und der DDR

Dabei bestanden für eine kurze Phase auch in der Sowjetischen Besatzungszone Möglichkeitsräume für rechtliche Regelungen der Restitution und Wiedergutmachung.

Bereits am 14. September 1945 trat in Thüringen, das bis zum 8. Juli unter amerikanischer Besatzung und seither unter sowjetischer Militäraufsicht stand, das „Thüringer Wiedergutmachungsgesetz“ (WGG) in Kraft. Es war das erste Wiedergutmachungsgesetz in Deutschland. Erst etwas mehr als zwei Jahre später folgte mit dem Militärregierungsgesetz Nr. 59 vom 10. November 1947 das „Gesetz über die Rückerstattung feststellbarer Vermögensgegenstände“ für die amerikanische Besatzungszone, dem weitere vergleichbare Verordnungen und Verfügungen in der französischen und britischen Besatzungszone folgten.

Gleichwohl blieb das Thüringer Wiedergutmachungsgesetz ein Unikum in der Sowjetischen Besatzungszone. Das Politbüro der SED billigte 1948 zwar zunächst einen auf Vorschlag von Paul Merker und dem Staatsrechtler Leo Zuckermann, den gemeinsam mit den KZ-Überlebenden Leon Löwenkopf und Julius Meyer erarbeiteten Gesetzentwurf über eine kollektive Wiedergutmachung für jüdische Opfer, verwarf ihn jedoch kurze Zeit später.

Stattdessen wurden in einer Verordnung umfangreiche Fürsorgemaßnahmen für Verfolgte des Naziregimes (VdN) beschlossen. Eine Entschädigung vormals „arisierter“ Vermögenswerte schloss die Verordnung aus. Wiedergutmachung blieb besatzungspolitisch auf Reparationen an die UdSSR beschränkt.

Angesichts dessen kam dem singulären Thüringer Wiedergutmachungsgesetz eine sowohl ideelle wie auch materielle Wirkung zu, wie Stefan Hellmuth darlegt: „Das Gesetz gab jüdischen Menschen nach einer Zeit der Entrechtung den Status als Rechtsperson zurück und die Möglichkeit, ihr Eigentum und ihr Recht einzufordern.“ (S. 400)

Hellmuths Beitrag „Restitution, Entschädigung, Aneignung. Das Thüringische Wiedergutmachungsgesetz vom 14. September 1945 und seine Umsetzung“ ist Teil des Sammelbandes „Jüdische Geschichte in Thüringen“. Er fasst die Ergebnisse einer Tagung zusammen, die im Rahmen des Themenjahres „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“ von der Historischen Kommission für Thüringen, dem Verein für Thüringische Geschichte und der Forschungsstelle für Neuere Regionalgeschichte Thüringens der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Herbst 2021 in Schmalkalden durchgeführt wurde.

Stefan Hellmuth forscht in einem Dissertationsprojekt über „Die unterbliebene Restitution. Der Verbleib ‚arisierten‘ Eigentums in der SBZ/DDR am Beispiel Thüringens 1945-1990“ und zeigt im Sammelband auf, inwieweit die Ziele des Thüringer Wiedergutmachungsgesetzes mit dem politischen Selbstverständnis der DDR kollidierten und wie die staatlichen Behörden das Gesetz Schritt für Schritt aushöhlten, bevor es 1952 endgültig aufgehoben wurde.

Nachdem das Gesetz in Kraft trat, war es insbesondere dem Buchenwald-Überlebenden Georg Chaim als „Sonderbeauftragter für die Verwaltung ehemals jüdischen Besitzes“ zu verdanken, dass es Wirkung entfaltete. In enger Zusammenarbeit mit der jüdischen Gemeinde entstand ein Netzwerk vertrauenswürdiger Akteure, die im Auftrag der Landesregierung ‚arisierten‘ Besitz treuhänderisch verwalteten, Antragsberechtigte identifizierten und sogar im Ausland angeschrieben wurden. Dies alles unter den widrigen Bedingungen der Nachkriegszeit.

Gleichzeitig kollidierten die Zielstellungen des Wiedergutmachungsgesetzes und seine Umsetzung mit dem Interesse der sowjetischen Besatzungsmacht, „auch in Thüringen die Kontrolle über den Wirtschaftssektor zu erlangen und führte mit den Befehlen 124 und 126 schon früh Beschlagnahmungen und Enteignungen auch von ehemals jüdischen Wirtschaftsbetrieben durch“, die Hellmuth darlegt (S. 385). Im März 1948 waren bereits 2.609 Wirtschaftsbetriebe und Produktionsstätten in Volkseigentum überführt worden. „Wie viele ehemals jüdische Betriebe sich darunter befanden, konnte bislang nicht nachgewiesen werden“ (ebd.).

Spätestens ab 1948 kann von einer Parallelität der Umsetzung des WGG einerseits und der gezielten Unterminierung des Gesetzes, mit dem Ziel seiner Außerkraftsetzung und der Nichtumsetzung schwebender Wiedergutmachungsverfahren gesprochen werden. Besonders wirksam dabei war die „Verordnung über die Verwaltung und den Schutz ausländischen Eigentums in der DDR“ vom 6. September 1951, mittels derer das Eigentum aller Wiedergutmachungsberechtigter, die weder in die DDR zurückgekehrt waren oder als jüdische Rückkehrer:innen nicht die deutsche Staatsbürgerschaft erneut beantragten, „unter staatliche Verwaltung gestellt […] nicht an diese zurückübereignet werden“ musste (S. 386f.). Hellmuth nennt diese Vorgehensweise zutreffend die erneute Enteignung der Jüdinnen und Juden. Er schließt mit dem bitteren Fazit: „Bei der Umsetzung von Verstaatlichung und Zentralisierung trat mit der antikapitalistischen zugleich auch die antisemitische Haltung der politischen Führung zu Tage, auch auf den unteren Ebenen.“ (S. 402)

Julius Meyer, neben Heinz Galinski der bedeutsamste Vertreter der jüdischen Gemeinde Berlins, sowie Leo Zuckermann, die beide gemeinsam mit Paul Merker und Leon Löwenthal für eine Wiedergutmachungsgesetzgebung nach Thüringer Vorbild in der gesamten Sowjetischen Besatzungszone gestritten hatten und darüber hinaus für Reparationsleistungen an Israel ins Gespräch brachten, sind im Sammelband „Juden in der DDR“ Porträts gewidmet. Andreas Weigelt erinnert an Julius Meyer als „Ein Auschwitz-Überlebender, verfemt in drei Jahrzehnten“.

Judith Kessler skizziert in „Heißes Mexiko und Kalter Krieg“ das Leben und Verhältnis der Brüder Leo und Rudolf Zuckermann als „Tragödie in mehreren Akten“. Leo Zuckermann, der zuletzt im Rang eines Staatssekretärs die Kanzlei des ersten Staatspräsidenten der DDR, Wilhelm Pieck, leitet, wird mit Paul Merker in die Noel Field-Affäre und das Umfeld des Slánský-Prozesses hineingezogen. Er kann 1952 nach West-Berlin flüchten. Sein Bruder und Mitgenosse Rudolf Zuckermann, der noch im Emigrationsort Mexiko verblieben war, kehrt trotz aller Warnungen seines Bruders 1953 in die DDR zurück. Er wird noch am Flughafen in sogenannte Schutzhaft genommen und soll nach den Plänen des MfS als jüdischer West-Emigrant und Arzt in der DDR als Teil der von Stalin bereits als Schauprozess vorbereiteten „jüdischen Ärzteverschwörung“ herhalten. Neun Monate bleibt Rudolf Zuckermann in MfS-Haft, wird gebrochen und zu Schuldanerkenntnissen gezwungen, in denen er auch seinen Bruder beschuldigt.

Wenn Eric Hobwsbawm, der im Sammelband über „Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken“ von Altieri/ Hüttner/Weis von Florian Weis porträtiert wird, vom 20. Jahrhundert als dem „Zeitalter der Extreme“ spricht, dann zeigt Kessler, wie diese Extreme bis tief in individuelle Biographien hineinreichten, Menschen und Familien brachen.

Jüdinnen und Juden in der Arbeiter:innenbewegung

Wem das Schicksal von Leo und Rudolf Zuckermann zu Herzen geht, den wird auch Mario Keßlers Porträt über Ruth Fischer „Kommunismus – Antikommunismus – Kommunismus“ berühren. Es ist eins der 14 Porträts, das neben dem bereits zitierten Gysi-Interview und drei weiteren Überblicksdarstellungen im Sammelband von Altieri/Hüttner/Weis enthalten ist. Keßler skizziert das Leben der zeitweiligen KPD-Vorsitzenden Ruth Fischer, unter deren Führung die Partei einen radikal linken Kurs einschlug und die spalterische Losung des Sozialfaschismus inhaltlich vertrat und organisatorisch umsetzte. Gleichzeitig wiedersetzte sie sich der Stalinisierung der KPD, der sie letztlich den Rücken kehrte. Was den Beitrag von Keßler so eindrücklich macht, ist die Schilderung der Persönlichkeit Ruth Fischers und zugleich das tragische Verhältnis zu ihren Brüdern Hanns Eisler und Georg Eisler. Dies war nicht weniger von den Irrungen und Wirrungen der kommunistischen Bewegung geprägt als bei den Brüdern Zuckermann.

In vergleichbarer Weise im Zusammenhang gelesen werden sollten der Beitrag „[…] die innere Notwendigkeit, mithelfen zu dürfen […]“ über Mathilde Jacob, den Ottokar Luban im Sammelband von Altieri/Hüttner/Weis veröffentlichte, sowie Regina Scheers Beitrag „Zwischen den Stühlen. Hertha (Gordon) Walcher (1894-1990), für die Zedakah und sozialistische Revolution untrennbar blieben“ in Kahane/Janders „Juden in der DDR“.

Skizziert werden zwei Frauen, aufgewachsen in einfachsten proletarischen jüdischen Verhältnissen, die im Kontakt mit der sozialistischen Bewegung zu wichtigen Persönlichkeiten im Linkssozialismus wurden. Ihr Name wird vielleicht erst durch die beiden Sammelbände einer größeren Zahl von Personen bekannt. Und genau dies ist, zumindest bei Altieri/Hüttner/Weis das explizite Ziel der von vornherein auf mehrere Bände angelegten Porträt-Reihe.

„Mathilde Jacob ist aus den Briefen Rosa Luxemburgs als deren treu sorgende Helferin und Vertraute in den Jahren des Ersten Weltkriegs, die Luxemburg überwiegend in Haft verbrachte, bekannt geworden“ führt Luban in sein Porträt über sie ein (S. 25). Entgegen dem bislang vorherrschenden Bild einer eher unpolitischen Persönlichkeit skizziert er Mathilde Jacob als aktive Unterstützerin der Spartakus-Gruppe und wichtige Akteurin im Luxemburg-Liebknecht-Mehring-Kreis in deren illegaler Tätigkeit. Sie war Mitarbeiterin sowohl von Clara Zetkin als auch des zeitweiligen KPD-Vorsitzenden Paul Levi. Als dessen politische Anhängerin wurde sie nach Levis Ausschluss aus der KPD ebenfalls verstoßen und wechselte mit ihm zurück zur SPD. Als Verwahrerin des Luxemburg-Nachlasses trug sie maßgebliche Verantwortung dafür, „dass der überwiegende Teil des Nachlasses, insbesondere Luxemburgs unvollendeter kritischer Text zur Revolutionspolitik der Bolschewiki, der Nachwelt erhalten geblieben ist“ (S. 31).

Im Leben von Hertha Walcher, geborene Gordon, spiegeln sich jüdische Identität und die Geschichte der deutschen Arbeiter:innenbewegung, die „im 20. Jahrhundert eine Geschichte von Spaltungen, Irrtümern, von Mut und Hoffnung und Vergeblichkeit ist“, wie Regina Scheer beschreibt. Auch Hertha Walcher wird als Mitarbeiterin Clara Zetkins tätig sein. In ihrem beruflichen Leben aber auch durch ihre Liebe zu Jacob Walcher, der dem Gründungsparteitag der KPD gemeinsam mit Wilhelm Pieck vorsitzt und späteren Leiter der Gewerkschaftsabteilung der KPD, wird Hertha Walcher nicht nur den namhaften Persönlichkeiten der kommunistischen Bewegung begegnen, sondern Teil davon werden. Sie wechselte mit vielen von ihnen, als aus der KPD wegen „Rechtsabweichung“ Verstoßene zur KPD-Opposition (KPD-O) und später zur linkssozialistischen SAP, deren Exil-Büro in Paris Hertha Walcher leitet. Von dort kann sie sich mit Jacob Walcher in das US-amerikanische Exil retten. Ihr bleibt das Schicksal von Mathilde Jacob erspart, die am 14. April 1943 in Theresienstadt ermordet wird.

Hertha und Jacob Walcher kehren 1947 in die DDR zurück, doch als Mitglieder der KPD-O bzw. SAP stehen sie unter Verdacht. Jacob Walcher wird 1952 aus der SED ausgeschlossen, sie geht den Weg in Solidarität mit ihm mit. Wilhelm Pieck verhinderte, wie Regina Scheer schreibt, Schlimmeres. In Folge des XX. Parteitags der KPdSU werden beide 1956 wieder in die SED aufgenommen.

Es sind diese Porträts und Geschichten, die beide Sammelbände bedeutsam machen. Sie tragen dazu bei, anhand dieser Persönlichkeiten das 20. Jahrhundert, die Geschichte der Arbeiter:innenbewegung nachvollziehbar zu machen – so unverständlich und tragisch die Erlebnisse aus heutiger Sicht anmuten.

Auch erlebbar machten Uwe Rossbach und Judy Slivi die Geschichte von „Juden und Jüdinnen in der Thüringer Arbeiterbewegung“ im Rahmen eines Ausstellungsprojekts im Themenjahr „Neun Jahrhunderte jüdisches Leben in Thüringen“. Die Dokumentation des Ausstellungsprojekts veröffentlichten Rossbach und Slivi – beide beschäftigt bei der gewerkschaftsnahen Bildungseinrichtung „Arbeit und Leben Thüringen“ – als Beitrag im Sammelband „Jüdische Geschichte in Thüringen“ von Hans-Werner Hahn und Marko Kreutzmann. Rossbach und Slivi, die bereits im Thüringer Themenjahr „Industriealisierung und soziale Bewegungen“ 2018 ein Projekt „Nur hundert Jahre – Die Aktualität von Frauenwahlrecht und Frauenpolitik“ auf die Beine stellten, skizzieren die Schwierigkeit der Vermittlung jüdischer Arbeiter:innenbewegung in einem ostdeutschen Bundesland wie Thüringen:

„Das Thema selbst ist trotz der hohen Aufmerksamkeit in der Gedenkkultur eher randständig, kann sich auf keinen lebendigen Gedenkdiskurs beziehen. Ebenso wenig auf eine lebendige Geschichts- und Erinnerungskultur jener Organisationen, die ihre Wurzeln in der Arbeiterbewegung und –kultur haben.“

Zwei Hypothesen formulieren Rossbach/Slivi als mögliche Gründe (S. 295f.):

  1. Ein fortwährendes Stigma aufgrund des Narrativs, dass die DDR Resultat des Wirkens der Arbeiterbewegung in Deutschland gewesen sei,
  2. ein verblassendes gelerntes Wissen selbst um dieses Narrativ resp. dessen politisch-historische Fixpunkte.

Hinzuzufügen wäre eine strukturelle ostdeutsche Schwäche derjenigen Organisationen, die historisch das Erbe der Arbeiter:innenbewegung repräsentieren, eingeschlossen der Gewerkschaften und ihrer Bildungseinrichtungen.

Positiv stimmt angesichts dessen die von Rossbach/Slivi zitierte Beobachtung, dass eine jüngere Generation unbefangener an die Thematik herangeht, gleichwohl aber auch im Wesentlichen auch „ohne erkennbaren Bestand an historisch-politischer Bildung zur deutschen Gesellschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Exemplarisch artikulierte dies ein Teilnehmer folgendermaßen anlässlich eines biographischen Vortrags: ‚Das war ja ein Gang durch die ganze Geschichte der Arbeiterbewegung“. (S. 296)

Allein dies spricht dafür, die wertvollen Grabungsarbeiten fortzusetzen, von denen bereits einleitend in dieser Rezension die Rede war.

Judentum und progressive Bewegungen

Die Frage, was linke und progressive Bewegungen für Jüdinnen und Juden attraktiv machte, beschäftigte Altieri/Hüttner/Weis bereits im ersten Band über Jüd:innen in der internationalen Linken. In dem bereits angesprochenen Interview des zweiten Bandes, das Florian Weis mit Gregor Gysi führt, formuliert dieser, dass ausgehend von der frühen jüdischen Erfahrung, nicht gleichberechtigt zu sein, weniger Chancen als andere zu erhalten, die Linke eine Aussicht bot „auf eine andere, gerechtere Gesellschaft, in der die Gleichheit in jeder Hinsicht herrscht“. (S. 10)

Unter Bezugnahme auf ein 1958 erstmals veröffentlichtes Essay Isaac Deutschers sprachen Altieri/ Hüttner/Weis im ersten Band von „Non Jewish Jews“ – nichtjüdischen Juden. Denn obwohl die jüdische Herkunft für die Betreffenden zumeist eine nachrangige oder gar keine Rolle spielte, wurden sie „durch Fremdzuweisung infolge religiöser Intoleranz und übersteigerten Nationalismen weltweit immer wieder auf ihre jüdische Herkunft reduziert“ (S. 3)

Kahane/Jander sehen im Säkularismus vieler jüdischer Linker einen wenig bewussten Teil jüdischen Selbstverständnisses: „Das Jüdische in Religion und Praxis nämlich enthält in sich bereits die Aufforderung zur Eigenverantwortung, verbunden mit einer lebensnahen Ethik und der Orientierung an Recht und Gesetz anstelle eines blinden Gehorsams gegenüber Institutionen, auch religiösen.“ (S. 10)

Für Kahane/Jander folgen daraus drei Aspekte, die ein säkulares linkes oder liberales Engagement für Gerechtigkeit mit jüdischen und progressiven Ideen vereinbar machen (S. 12f.):

  1. Als monotheistische Buchreligion setzt das Judentum vor allem anderen auf eine ethische Gestaltung des Lebens anstatt auf Glaubenssätze und klerikale Hierarchien.
  2. Aus dem Universalismus folgt die Verantwortung für alle Menschen, auch Nicht-Jüd:innen, und der Auftrag, nach dem Prinzip der Gleichwertigkeit zu leben.
  3. Gute Taten (Mitzwot), Gerechtigkeit (Zedakah) und das Heilen der Welt (Tikkun Olam) sind die Essenz des jüdischen Selbstverständnisses und prägen die Kultur des Jüdischen mit und ohne Religion.

Es könnte für den bereits vorgesehenen dritten Band der Reihe über Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken spannend sein, wenn Altieri/Hüttner/Weis diesen Aspekt aufgreifen und diskutieren würden. Ein möglicher Gesprächspartner – um nur ein Beispiel zu nennen und die von Florian Weis im Interview an Gregor Gysi gerichtete Frage ungefragt zu beantworten – könnte Oleg Shevshenko sein. Einflussreicher vormaliger Juso-Chef in Thüringen, inzwischen Schatzmeister des hiesigen SPD-Landesvorstandes und zugleich aktives Mitglied der Jüdischen Landesgemeinde.

Literatur:

Altieri, Riccardo/Hüttner, Bernd/Weis, Florian (Hrsg.): „Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst du zu anderen Ausgegrenzten“. Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken. (Band 2), luxemburg beiträge Nr. 13, hrsgg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2022, ISSN 2749-0939

Kahane, Annetta, Jander, Martin (Hrsg.): Juden in der DDR. Jüdisch sein zwischen Anpassung, Dissidenz, Illusionen und Repression. Hentrich & Hentrich Verlag, Berlin Leipzig 2021, ISBN 978-95565-465-8

Hahn, Hans-Werner, Kreutzmann, Marko (Hrsg.): Jüdische Geschichte in Thüringen. Strukturen und Entwicklungen vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe Band 64, Böhlau Verlag, Wien Köln 2023, ISBN 978-3-412-52591-0

Verwendete und weiterführende Literatur:

Altieri, Riccardo/Hüttner, Bernd/Weis, Florian (Hrsg.): „Die jüdische Frage mit der allgemeinen proletarischen Bewegung zu vereinen“. Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken, in: luxemburg beiträge Nr. 5, hrsgg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2021, ISSN 2749-0939.

Deutscher, Isaac: The Non-Jewish Jew and other essays. Herausgegeben mit einer Einleitung von Tamara Deutscher, Verso London-New York, 2017, ISBN: 978-1-78663-082-7.

Gerber, Jan: Ein Prozess in Prag. Das Volk gegen Rudolf Slánský und Genossen. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen/Bristol 2016, ISBN: 978-3-525-37047-6.

Haury, Thomas: Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR. Hamburger Edition und Mittelweg 36, Hamburg 2002, ISBN 978-3-930908-79-0.

Der Autor ist Beauftragter für jüdisches Leben in Thüringen und die Bekämpfung des Antisemitismus. Dank an Johannes Häfner und Jörg Schwabe für Hinweise und Unterstützung.
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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