Verdienstvolle Grabungsarbeiten

Rezension Zwei jüngst erschienene Publikationen widmen sich Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken und erzählen ostdeutsch-jüdische Geschichten nach 1945 in der DDR

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Verdienstvolle Grabungsarbeiten

Foto: David Savill/Getty Images

Jenseits der großen Verlage, die in jüngerer Zeit eine stattliche Reihe lesenswerter Neuerscheinungen zu den Themenfeldern Jüdisches Leben einerseits und Antisemitismus andererseits publizierten, sind zwei Broschüren erschienen, denen Aufmerksamkeit gebührt.

Die Rosa-Luxemburg-Stiftung veröffentlichte als Nr. 5 in der Reihe „luxemburg beiträge“ die von Riccardo Altieri, Bernd Hüttner und Florian Weis herausgegebene Schrift „‘Die jüdische Frage mit der allgemeinen proletarischen Bewegung zu vereinen.‘ Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken“.

Die Geschichte der internationalen Linken in ihrer Vielfalt sozialistischer, kommunistischer und anarchistischer Provenienz ist untrennbar mit Persönlichkeiten jüdischer Herkunft verbunden. „Gemessen am Bevölkerungsanteil waren Jüdinnen und Juden im ausgehenden 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überproportional in den revolutionären und reformistischen Bewegungen sowohl Ost- und Westeuropas als auch der Vereinigten Staaten von Amerika, Kanadas und Südafrika aktiv.“ (S. 6) Doch obwohl die jüdische Herkunft für die Betreffenden zumeist eine nachrangige oder gar keine Rolle spielte, wurden sie, wie die drei Herausgeber in der Einleitung beschreiben, „durch Fremdzuweisung infolge religiöser Intoleranz und übersteigerten Nationalismen weltweit immer wieder auf ihre jüdische Herkunft reduziert“ (S. 3). Unter Bezugnahme auf Isaac Deutscher sprechen Altieri, Hüttner und Weis deshalb von „Non Jewish Jews“ – nichtjüdischen Juden.

Eine Publikation über Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken muss sich zumindest der Gefahr bewusst sein, unfreiwillig erneut eine Reduzierung auf die jüdische Herkunft vorzunehmen. Dies ist den Herausgebern durchaus bewusst. Ihnen geht es deshalb um die Freilegung einer im historischen Gedächtnis der Linken verschütteten Erinnerung daran, dass „die Geschichte von Jüdinnen und Juden“ verschiedener Länder sowohl „von Bedrohungen und Antisemitismuserfahrungen, aber auch von Emanzipationskämpfen, breitem politischen Engagement und einer Verbindung mit progressiv-liberalen wie sozialistischen Bewegungen“ geprägt wurde. Diese Grabungsarbeiten, die von zwei weiteren Publikationen flankiert werden, von denen die nächste im Herbst dieses Jahres erscheinen soll, sind verdienstvoll. Genauso wie der Anspruch, dazu beizutragen, dass diese Erinnerung zum Bestandteil linker Tradition wird.

Neun Beiträge auf 118 Seiten versammelt das Heft neben der Einleitung, einer Bibliographie „zum Weiterlesen“ sowie einer Übersicht ausgewählter Publikationen der Stiftung zu historischem und aktuellem Antisemitismus.

Vier Porträts linker Persönlichkeiten

Vier Beiträge zeichnen die Lebenswege bedeutsamer Persönlichkeiten nach: Porträtiert werden Rosa Luxemburg, die Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski und Theodor Bergmann sowie der Gewerkschafter Jakob Moneta. Der Erkenntnisgewinn ist dabei durchaus unterschiedlich im Hinblick auf die Zielstellung des Heftes und beim liebevoll gehaltenen Luxemburg-Porträt (Diana Mills) nur gering. Axel Fair-Schulz wählt beim Porträt von Jürgen Kuczynski, dem wohl bedeutsamsten Wirtschaftswissenschaftler der DDR, einen spannenden Weg. Er beschreibt das säkularisierte Elternhaus, dem Kuczynski entstammte, als Ausdruck der aus der jüdischen Moderne hervorgegangenen jüdisch-intellektuellen Avantgarde (S. 70), zu der Marx und Trotzki ebenso gehörten.

Der Trotzkist Jakob Moneta, Mitglied des IG Metall Bundesvorstandes und Chefredakteur der IG Metall Mitgliederzeitung, dürfte im Vergleich zu Luxemburg und Kuczynski weniger Leser:innen bekannt sein. Sein Lebensweg ist, wiederum im Vergleich zu den Vorgenannten, sehr eng mit dem Leben, Leiden und Kämpfen des jüdischen Volkes im Zeitalter der Extreme verknüpft. Einem orthodoxen Elternhaus entstammend, den antisemitischen Pogromen nach der polnischen Unabhängigkeit Polens entfliehend, schloss er sich dem linken Flügel der zionistischen Hashomer Hatzair an und kam dadurch zur sozialistischen Bewegung der zwischen SPD und KPD stehenden Zwischengruppen. „Anders als viele andere junge linke Jüdinnen und Juden vollzog Moneta“, so John S. Will, „keine ‚rote Assimilation‘, keinen vollständigen Bruch mit dem osteuropäischen Milieu [sondern] blieb seinem zionistischen Engagement weiterhin verpflichtet“ (S. 82) und emigrierte nach 1933 ins britische Mandatsgebiet Palästina, geriet in Konflikt mit dem Zionismus und organisierte sich in der Brit Kommunistim Mahapchanin (Revolutionärer Kommunistischer Bund), der gegen die britische Präsenz und „für die Zusammenführung der durch ethnische Grenzen getrennten jüdischen und arabischen Arbeiterklasse warb“. Allein in dieser kurzen Beschreibung akkumuliert sich linke und jüdische Geschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts - dazu möchte man mehr erfahren.

Theodor Bergmann, der 2017 im biblischen Alter von 102 Jahren starb, wird von Mario Keßler als die personelle Brücke zur Arbeiter:innenbewegung der Weimarer Republik bezeichnet. Mit Bergmanns Ableben stürzte sie ein. Seine im Jahr 2000 im VSA-Verlag erschienene Autobiographie trägt den Titel „Im Jahrhundert der Katastrophen“. Die Lebenswege von Bergmann und Moneta weisen verschiedene Parallelen auf. Während Moneta dem Sozialistischen Jugendverband Deutschlands (SJVD) beitrat, der Jugendorganisation der von der SPD abgespaltenen linken SAPD, trat Bergmann der KPD-Opposition bei. Auch Bergmann floh 1933 aus Nazi-Deutschland ins britische Mandatsgebiet Palästina, kehrte aber bereits 1936 nach Europa zurück, um antifaschistische Arbeit zu leisten. Mit Jakob Moneta teilte Bergmann die Ablehnung des Stalinismus, doch anders als ersterer, war Bergmann kein Trotzkist sondern Teil der internationalen kommunistischen „Rechts“-Opposition, über die insgesamt zu wenig bekannt ist und blieb Zeit seines Lebens jüdischer Internationalist.

Schwindende emanzipatorische Allianz aus Judentum und Arbeiterbewegung

Weitere vier Beiträge des Bandes widmen sich dem Wirken einer linken jüdischen Organisation, dem „Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund", kurz "Bund“ im östlichen Europa (Gertrud Pickhahn) sowie dem Wirken linker Jüdinnen und Juden in Südafrika (Hanno Plass), in der britischen Arbeiter:innenbewegung (Florian Weis), sowie in Frankfurt am Main in den 1970er und 1980er Jahren (Zarin Aschrafi).

Im Hinblick auf die sich in der Betrachtung des aktuellen Ukraine-Kriegs ausdrückenden dominierenden Osteuropa-Bilder spricht Elke Satjukow (2022) von der Notwendigkeit einer „kritischen und postkolonial informierten Perspektive“ auf Osteuropa. Wie eine solche Perspektive aussehen könnte, zeigt Gertrud Pickhahn in ihrer Darstellung des „Bund“, die sowohl eine Einführung in die jüdische Arbeiter:innenbewegung Osteuropas ist als auch eine Darstellung der Umbrüche im russländischen Imperium bis 1918, der polnischen Unabhängigkeit 1918 und der polnischen Republik bis zu ihrer Zerschlagung durch den Hitler-Stalin-Pakt und die Besetzung durch Nazi-Deutschland 1939.

Dass neben britischen und US-amerikanischen Einwander:innen, „Jiddisch sprechende (Ost-)Jüdinnen und Juden zur Gründergeneration einer politischen Linken in Südafrika“ gehörten und die „sozialistischen Organisationen und Gewerkschaften ins Leben [riefen], aus denen 1920 die Kommunistische Partei Südafrikas (CPSA) entstehen sollte“ (S. 49), wissen vermutlich nur Wenige. Insofern schließt auch der Beitrag von Hanno Plass eine eurozentrierte Wahrnehmungslücke einerseits und er erzählt eine Geschichte der Konflikte innerhalb der jüdisch-weißen Community zwischen Anpassung an das Apartheidregime und dem Aufbegehren dagegen. Diese Konflikte waren sowohl innerfamiliär auszutragen als auch mit dem respektablen Selbstbild der jüdischen Community und dem darin dominierenden Zionismus. Jüdische südafrikanische Linke waren insoweit als Teil des Anti-Apartheidkampfes entweder selbst politische Gefangene oder gezwungen, ins Exil zu gehen. Das Ende der Apartheid war für die jüdische Community Anlass „für einen andauernden Diskussionsprozess um die Rolle und die Privilegien, die Jüdinnen und Juden unter der Apartheid genossen hatten“. (S. 57)

Fünf Jahre lang stand der britische Parteilinke Jeremy Corbyn an der Spitze der Labour-Party. Sein Scheitern als Vorsitzender ist insbesondere dem anhaltenden und letztlich erfolgreichen Widerstand des rechtssozialdemokratischen Parteiestablishments gegen Corbyn geschuldet. Dass er aus der Partei ausgeschlossen wurde, beruht wiederum auf einem Antisemitismus-Konflikt, den Brian Klug 2019 im Sammelband „Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte“ aus meiner Sicht nachvollziehbar nachgezeichnet hat. Florian Weis nimmt dies zum Ausgangspunkt und Erzählstrang seiner Geschichte einer sich über eine lange Zeit vollziehenden Entfremdung zwischen der jüdischen Community und der britischen Labour Party.

In Zarin Aschrafis Beitrag wird die bundesdeutsche Nachkriegszeit lebendig. Nach Frankfurt am Main, „ein, wenn nicht das Wirkungszentrum der arbeiterbewegten, politischen Linken“ (S. 102) seiner Zeit, befanden sich „unter den politischen Rückkehrer*innen […] auch viele Jüdinnen und Juden, die sich am sozialdemokratischen respektive sozialistischen, aber auf jeden Fall antifaschistischen Wiederaufbau beteiligen wollten.“ (ebd.) Aschrafi beschreibt sowohl das sich in den 1950er und 1960er Jahren herausbildende Milieu akademischer und intellektueller Zirkel (u.a. Club Voltaire), die Wende in der Neuen Linken in Folge des sogenannten Sechstagekrieges einschließlich des sich herausbildenden linken Antisemitismus, der seinen gewaltförmigen Ausdruck im Anschlag auf das Jüdische Gemeindezentrum West-Berlins fand als auch die Entstehung der von jungen Intellektuellen im Frühjahr 1980 gegründeten „Jüdischen Gruppe“, zu denen neben Micha Brumlik und Cilly Kugelmann auch Dan Diner und viele andere gehörten. Aschrafin, die zur 1986 vom gleichen Kreis gegründeten Zeitschrift „Babylon. Beiträge zur Jüdischen Gegenwart“ promoviert, gelingt auf wenigen Seiten ein spannendes Panorama, das auch den Leser:innen, die mit der Geschichte der Studierendenbewegung und antiautoritären Revolte durchaus vertraut sind, ein anderes bislang wenig bekanntes Bild zeigt. Gleichzeitig wäre es denkbar, anknüpfend an diesen Beitrag einzelne Protagonist:innen der bundesdeutschen Nachkriegslinken mit jüdischer Herkunft in den vorgesehenen weiteren Publikationen exemplarisch zu porträtieren.

Angelika Timms Beitrag „Wider den Strom! Die zionistische Linke: Europäische Wurzeln und israelische Gegenwart“ ist eine hilfreiche und lesenswerte Zusammenfassung der Geschichte der zionistischen Linken, die insbesondere für diejenigen, die Orientierung suchen und Hintergründe erfahren wollen, einen informierten Einstieg ermöglichen. Gleichzeitig zeigt sich gerade bei diesem Beitrag, dass es möglicherweise hilfreicher gewesen wäre, an jeden Beitrag eine Bibliographie mit weiterführenden Texten anzuhängen und diese nicht ausschließlich in deutscher, sondern angesichts der noch breiteren angelsächsischen linken Literatur, auch in englischer Sprache.

Ostdeutsch-Jüdische Geschichten

Deutsche Nachkriegsgeschichte nehmen auch Peter Reif-Spirek, langjähriger stellvertretender Leiter der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung, und die Historikerin Annette Leo in den Blick. Die Herausgeber:in der bei der Landeszentrale erschienenen Publikation „Widerspruchsvoller Neubeginn. Ostdeutsch-jüdische Geschichten nach 1945“ haben bereits in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren zwei verdienstvolle Sammelbände von Studien bzw. Neuen Studien zum DDR-Antifaschismus herausgegeben, die zu einer differenzierten Sichtweise in diesem umkämpften Feld der Zeitgeschichte beigetragen haben.

Im Zentrum der sechs Beiträge und 157 Seiten umfassenden Broschüre stehen die Jahre 1945 bis 1953, also der Neubeginn nach der Befreiung vom Faschismus bis zum Tode Stalins. „Diese ersten Jahre sind insofern interessant“, beschreiben Reif-Spirek und Leo in der Einleitung, „weil sie keineswegs nur als das Vorspiel zur späteren Teilung in Ost und West, zum Kalten Krieg und den stalinistischen Verfolgungen angesehen werden müssen. Sie sind offener und bergen noch zahlreiche andere Möglichkeiten, die später verschwanden. Und gleichzeitig zeigen sie unverhüllt ein Bild der deutschen Mehrheitsgesellschaft nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches“. (S. 8f.)

Beleuchtet werden sowohl die Sowjetische Besatzungszone als auch das anfangs noch bestehende Land Thüringen, das im Zuge der Auflösung der Länder und Bildung einer nach Bezirken gegliederten Territorialstruktur der DDR, die bis 1990 bestand, in den drei Bezirken Suhl, Erfurt und Gera aufging.

„Hat es Sinn, in der DDR an einem Werk über die Geschichte der Juden zu schreiben?“ – mit dieser resignierten Frage endet ein Brief des Historikers Helmut Eschwege an das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), den Alexander Walther zum Ausgangspunkt seines Beitrags über „Antisemitismus und Holocaust in der DDR-Faschismusforschung“ macht. In der frühen Nachkriegszeit mangelte es nach Walther zwar nicht an Zeugnissen über die Shoah, aber an Interpretationen und Erklärungen. Dies lag sicherlich auch daran, dass innerhalb der Vorkriegslinken Antisemitismus als Symptom des Kapitalismus galt, „das mit dessen Überwindung verschwinden würde. Allerdings lag darin auch die fatale Unterschätzung der neuartigen Qualität eines rassistischen Antisemitismus und der Gefahr verborgen, die für Jüdinnen und Juden von ihm ausging und die sich letztlich in der Shoah in schrecklichster Form ausdrückte.“ (Altien/Hüttner/Weis 2021: 6) Die breitere Antisemitismusforschung, die insgesamt eine Konsequenz der Shoah ist und deren Akteur:innen lange brauchten, bis ihre Forschungen breiter rezipiert wurden, stießen in der DDR auf strukturelle Schwierigkeiten. Zum einen die „ideologische Engführung in den Erklärungen“, die anderen Interpretationen, naturgemäß auch undogmatischen oder kritischen marxistischen Erklärungsversuchen, keinen Raum ließ (Walther 2022: 15). Dies bedeutete freilich nicht, worauf Walther mehrfach hinweist, eine Nivellierung der Rolle des Antisemitismus. Zum anderen standen jüdische Wissenschaftler:innen, in der DDR im Übrigen ebenso wie in der Bundesrepublik vor dem Dilemma, dass ihnen von nicht-jüdischen HistorikerInnen unter dem Postulat einer „nüchternen Wissenschaft“ die „Befähigung zur vermeintlich ‚richtigen‘ Auseinandersetzung mit der Shoah“ abgesprochen wurde (S. 23). Dies zeichnet Walther exemplarisch an der verdienstvollen Arbeit von Helmut Eschwege nach, der – von der Fachwelt ignoriert – ein Pionier der DDR-Antisemitismusforschung war, dessen Technik der Saul Friedländers glich.

Mitherausgeberin Annette Leo widmet sich der 1947 gegründeten „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN), deren Tätigkeit am 21. Februar 1953 in einem Handstreich der SED-Führung durch einen „Selbstauflösung“-Beschluss beendet wurde. Leo zeigt, wie auch innerhalb der VVN die Jüdinnen und Juden um Anerkennung ringen mussten. Sie zitiert Ottomar Geschke, den ersten Vorsitzenden des Berliner Hauptausschusses der Opfer des Faschismus (OdF), der mit Blick auf die Jüd:innen sagte: „So weit können wir den Begriff der Opfer des Faschismus nicht ziehen. Sie haben alle geduldet und Schweres erlitten, aber sie haben nicht gekämpft“ (S. 32) und Leon Löwenkopf, den Dresdner Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde“ und jüdisch-polnischen Widerstandskämpfer, der solcher Haltung entgegnete „er müsse sich hier […] wieder als Jude fühlen, obwohl er geglaubt hatte, dies sei heute nicht mehr nötig. Mit bitteren Worten erinnerte er an die NS-Verfolgung und an die Zeit im Konzentrationslager, wo die Juden auf der untersten Stufe der Hierarchie der Häftlinge gestanden und von den politischen Haftkameraden wenig Solidarität erfahren hatten.“ (S. 33)

Leo erzählt im Weiteren nicht nur vier Geschichten über die Zusammenarbeit der VVN mit den jüdischen Gemeinden in der DDR, sondern die sich im Rahmen der in der DDR und anderen osteuropäischen Ländern vollziehenden stalinistischen Säuberungen, die insbesondere mit dem Slansky-Prozess eine eindeutig antisemitische Richtung aufwiesen. Führende Mitglieder der VVN wie Fritz Katten wurden verhaftet, Jüdinnen und Juden unter eindeutig antisemitischen Vorwürfen verhört, denunziert und inhaftiert. Dies führte letztlich zum Exodus von mehr als 300 DDR-Jüd:innen nach Westdeutschland, der Einbindung der VVVN in eine antizionistische Kampagne, die deren Selbstaufgabe der 1947 gesetzten Ziele bedeutete und, obwohl dies aus stalinistisch motivierter Parteidisziplin selbst von SED-Funktionär:innen mit jüdischer Herkunft mitgetragen wurde, letztlich zur Auflösung der VVN von oben und deren Ersetzung durch das „Komitee der Antifaschistischen Widerstandskämpfer“.

In „Der Preis des Überlebens. Charlotte Holzer und die Erinnerung an die Herbert-Baum-Gruppe in der DDR“ schildert Regina Scheer zunächst die Geschichte der Widerstandsgruppe um Herbert Baum und deren Aufnahme in das staatsoffizielle antifaschistische Gedächtnis der DDR. Gänsehaut verursacht jedoch die anhand von Charlotte Holzer, geborene Paech, erzählte doppelte Tragödie einer von der Gestapo instrumentalisierten Person, des für Widerstandskämpfer:innen tödlichen Verrats und Indienstnahme nicht nur durch die Staatssicherheit, sondern auch für die staatsoffizielle Erinnerung an die Baum-Gruppe. Diese Darstellung nimmt Scheer so sensibel als Schilderung ihrer Forschungs- und Recherchetätigkeit vor, dass dieser Beitrag den stärksten Eindruck hinterlässt und die Frage aufwirft, wie stark man selbst in vergleichbarer Lage wäre.

Thüringen war nicht nur das erste Land im Deutschen Reich, in dem die Nationalsozialisten durch Verrat der Deutschnationalen an der Republik Regierungsverantwortung übernehmen konnten, sondern Fritz Sauckel sah es als seine Verantwortung an, Thüringen zum NS-Mustergau zu machen. Die Entrechtung der Jüdinnen und Juden und der Raub ihres Eigentums wurden in Thüringen entsprechend sorgfältig und planmäßig umgesetzt. Monika Juliane Giebas führt auf wenigen Seiten in die Rechtsakte ein, mit denen das Vermögen von Jüdinnen und Juden erfasst und geraubt wurde. Darüber hinaus beschreibt sie spannend und detailreich wie der Jurist, Linkssozialist und Buchenwald-Überlebende Hermann Louis Brill – er gehört zu den sieben Autoren des Buchenwalder Manifests der demokratischen Sozialisten – als am 9. Juli 1945 von der amerikanischen Besatzungsmacht eingesetzter Präsident der Provinzialverwaltung des Landes Thüringen den Grundstein für das zwar kurzlebige aber wirkungsvolle „Wiedergutmachungsgesetz“ legte. Einen Tag bevor er auf Druck der Thüringer KPD von der inzwischen eingesetzten Sowjetischen Besatzungsmacht abgelöst wurde, beauftragte er die Erarbeitung von Regelungen zur Wiedergutmachung des NS-Unrechts. Brills Nachfolger, der linksliberale Jurist Rudolf Paul, setzte sich wiederum ebenso wie Brill mit Überzeugung und Energie für die Inkraftsetzung des Wiedergutmachungsgesetzes am 14. September 1945 und dessen Umsetzung auch gegen Widerstände in den Behörden ein, in denen Kontinuitäten die Umsetzung vielleicht nicht aktiv verhinderten aber doch auch nicht unbedingt beförderten. Es gehört zu den vielen nie aufgelösten Widersprüchen des selbsternannten antifaschistischen Staates DDR, dass selbst die theoretisch möglich gewesene Restitution sogenannter arisierter Kleinbetriebe von der DDR systematisch verweigert wurde, so dass sich die Rückgabesituation für Jüdinnen und Juden erst nach 1989/1990 ergab.

Die beiden abschließenden Beiträge „Julius Meyer und Heinz Galinski. Die Spaltung der Jüdischen Gemeinden am Beispiel Berlin“ von Andreas Weigelt sowie „Getäuschte Hoffnungen. Vom Neubeginn der jüdischen Gemeinden in Thüringen nach 1945“ von Eike Küstner schließen an die von Annette Leo bereits im Beitrag zur VVN beschriebene schwierige Situation jüdischer Gemeinden und jüdischer Remigrant:innen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft an. Beschrieben werden Ambivalenzen zwischen latentem und offenen Antisemitismus, früherer Nationalsozialist:innen, in der Gesellschaft und in den stalinistischen Säuberungen einerseits und der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Verbrechen andererseits. Julius Meyer flüchtete am 16. Januar 1953 mit anderen Repräsentanten der DDR-Jüdischen Gemeinden nach Westberlin. Sie alle wurden als „zionistische Agenten“ denunziert.

Altieri/Hüttner/Weis formulieren in ihrer Einleitung: „Wer […] heute in Internetsuchmaschinen die Begriffskombination ‚Linke‘ und ‚Juden‘ eingibt, stößt in der Mehrzahl auf Ergebnisse zu zwei umstrittenen Themen: auf – realen wie vermeintlichen – linken Antisemitismus und linke Zionismus- und Israelkritik. […] Das diesen zugrundeliegende Problem ist ein Ende der Allianz aus Judentum und Arbeiterbewegung um 1970. […] Die Geschichte d[ies]er emanzipatorischen Allianz gerät in Vergessenheit, im Judentum wie in der Linken.“ Beide Publikationen, die eine explizit, die von Reif-Spirek/Leo implizit, tragen dazu bei, gegen dieses Vergessen anzuarbeiten und es stimmt hoffnungsfroh, dass die Rosa-Luxemburg-Stiftung diese Grabungsarbeiten fortführen will.

Altieri, Riccardo/Hüttner, Bernd/Weis, Florian (Hrsg.): „Die jüdische Frage mit der allgemeinen proletarischen Bewegung zu vereinen“. Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken, in: luxemburg beiträge Nr. 5, hrsgg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2021.

Leo, Annette/Reif-Spirek, Peter (Hrsg.): Widerspruchsvoller Neubeginn. Ostdeutsch-jüdische Geschichten nach 1945, Publikation der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt 2022.

Verwendete Literatur:

Klug, Brian (2019): Die Linke und die Juden: Labours Sommer der Bitterkeit, in: Heilbronn, Christian/Rabinovici, Doron/Sznaider, Natan (Hrsg.): Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte, Berlin, S. 349-365.

Der Autor ist Thüringer Landesbeauftragter zur Förderung Jüdischen Lebens und der Bekämpfung des Antisemitismus
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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