Rot-Rot-Grün: Experiment im Politiklabor

Parteien Ein Jahr regiert in Thüringen nun die Koalition aus Linkspartei, SPD und Grünen unter dem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow. Hat R2G Modellcharakter? Eine Bilanz

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Mein linker, linker Platz ist frei: Bodo Ramelow im Thüringer Parlament
Mein linker, linker Platz ist frei: Bodo Ramelow im Thüringer Parlament

Foto: Jens Schlueter/Getty Images

Angesichts tektonischer Verschiebungen im Parteienspektrum, schwächer gewordener Wählerbindungen, eruptiv aufbrechender aber zeitlich begrenzter Zustimmungswerte bei Wahlen und Umfragen für neue Parteien in den Ländern und dem Bund erhöht sich für die etablierten Parteien von Union bis Linkspartei die Notwendigkeit, Bündnisoptionen und bestehende Gewissheiten zu überprüfen.

Die Thüringer rot-rot-grüne Landesregierung ist in diesem Sinne ein Experiment im Labor der bundesdeutschen Parteienentwicklung. Dies darf nicht mit einer Blaupause für Wiesbaden, Magdeburg, Saarbrücken oder die Bundeshauptstadt verwechselt werden, denn jede Regierungsbildung findet unter eigenen Rahmenbedingungen und Pfadabhängigkeiten statt. Im besten Falle können die in Erfurt gesammelten Erfahrungen aber Vorbildwirkung haben, um dort, wo von der Unfähigkeit der drei Mitte-Links-Parteien, miteinander zu regieren, vor allem die Union profitierte, andere Mehrheiten möglich zu machen.

Komplexe Koalitionen – nicht zwangsläufig instabil

Im Fünfparteiensystem wird die Wahrscheinlichkeit von Drei-Parteien-Konstellationen zunehmen, auch wenn Zwei-Parteien-Bündnisse oder sogar Alleinregierungen – entgegen mancher Unkenrufe weiterhin zum Set der Regierungsbildungen auf Landesebene gehören werden.[1] Angesichts dessen überrascht es, wie verbreitet in Deutschland weiterhin die Vorstellung ist, Dreierbündnisse seien instabiler als andere Regierungsmodelle.

Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass Regierungsbündnisse durch einen Doppelcharakter geprägt werden: „Sie sind einerseits Kooperationsbündnisse (auf Regierungsebene), andererseits besteht die Konkurrenzbeziehung der Partner fort (auf der Ebene des Parteiensystems).“[2] Mit jedem weiteren Partner erhöht sich folglich die potentielle Krisenanfälligkeit des Regierungsbündnisses durch das besondere Interesse der Parteien an Koalitionskonflikten, in denen sich „die Diskrepanz zwischen Koalitionsloyalität und Profilbildung der Parteien“[3] konstituiert.

Inwieweit „komplexe Koalitionen“, wie Klecha diese Bündnisse bezeichnet[4], tatsächlich instabiler oder – noch schwerwiegender für die an Stimmenmaximierung interessierten Parteien – für die beteiligten Akteure nachteilig sind, bedarf also einer Evidenzprüfung.

Zunächst lässt sich feststellen: In jeder Bundesregierung unter Einschluss der Union regieren drei Parteien miteinander, da CDU und CSU nicht zwangsläufig in Eins gesetzt werden können. Instabil im Sinne eines Koalitionsbruchs mit vorzeitigen Neuwahlen waren diese Bündnisse in den bisher mehr als 35 Regierungsjahren seit 1957 nicht. Abgesehen vom fliegenden Regierungswechsel 1966 als in der Legislaturperiode die SPD die FDP im Kabinett ersetzte. Neuwahlen gab es damals nicht.

Sicherlich ist der Einwand zutreffend, dass die beiden Unionsparteien durch die Fraktionsgemeinschaft im Deutschen Bundestag einerseits und die Ko-Abhängigkeit beider Parteien hinsichtlich der bundesweiten Wahlergebnisse eine höhere Verschränkung aufweisen, als dies bei anderen Dreier-Konstellationen der Fall wäre. Das Verhältnis der beiden christlichen Schwesterparteien untereinander ist insofern trotz aller inhaltlichen Profilierungsbemühungen seitens der Regionalpartei CSU durch weniger oder andere Konkurrenz geprägt, als zwischen den anderen Akteuren im Parteienwettbewerb.

Trotz der erhöhten Kompetitivität zwischen den Parteien lässt sich die Annahme, Dreierbündnisse auf Landesebene seien grundsätzlich instabil, nicht generalisieren. Gleichzeitig muss konstatiert werden, dass die bisherigen Erfahrungen nicht uneingeschränkt optimistisch stimmen. Einschließlich des r2g-Bündnisses in Thüringen regierten in den Ländern seit 1990 sechs Drei-Parteien-Koalitionen und zwei Minderheitsregierungen mit drei Partnern. Fünf davon zerbrachen vorzeitig: die Ampelkoalitionen in Brandenburg 1994[5] und Bremen 1995[6], der Hamburger Senat von Beust aus CDU, Schill-Partei und FDP 2003[7], die rot-grüne Minderheitsregierung in NRW 2012[8] und die Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen im Saarland 2012[9].

Die Brandenburger Ampelkoalition hielt von immerhin von Oktober 1990 bis Anfang 1994, nur die restlichen 5 Monate bis zur Landtagswahl regierte die SPD allein mit der FDP. Verantwortlich für die vorzeitige Beendigung der Koalition war die Debatte über eine mögliche Stasi-Vergangenheit des Ministerpräsidenten Manfred Stolpe.[10] Bereits 1992 verließ die spätere Stasi-Unterlagenbeauftragte Marianne Birthler die Regierung, doch erst zwei Jahre später zog sich auch Günther Nooke zurück.

Die Amtszeit der Bremer Ampelkoalition[11] umfasste ebenfalls den größten Teil der 13. Wahlperiode von 1991 bis 1995. Sie zerbrach sieben Monate vor dem regulären Ende an der „Piepmatz-Affäre“, die Ausdruck dafür war, dass „die Landesregierung aus SPD, FDP und Grüne, anfangs noch als innovatives Politikmodell gepriesen, sich zunehmend mit selbst [beschäftigte] und zerrieb in internen Konflikten“ [12].

Der erste Senat unter Ole von Beust markierte den Einstieg der drei Legislaturperioden umfassenden CDU-Regierung in der traditionellen SPD-Hochburg Hamburg. Das Scheitern der schwarz-gelben Regierung mit Beteiligung der Schill-Partei basierte vorrangig auf der destruktiven Dynamik dieser rechtspopulistischen Protestpartei und ihres letztlich selbstzerstörerischen Vorsitzenden Ronald Schill.[13] Die aktuelle Verfasstheit der Thüringer AfD, aus deren Landtagsfraktion binnen weniger Monate drei Abgeordnete ausgetreten sind[14] hätte jede Regierungskonstellation, auf die der CDU-Fraktionsvorsitzende zur Verhinderung der Wahl von Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten spekulierte, in gleich kurzer Zeit an den Rand des Scheiterns gebracht.

Selbst die Gründe für die Beendigung des Jamaika-Bündnisses im Saarland sprechen möglicherweise weniger gegen die grundsätzliche Stabilität einer komplexen Koalition als vielmehr dafür, dass ein solches Bündnis unter den beteiligten Parteien eine hinreichend große Schnittmenge an Gemeinsamkeiten haben muss. Auch wenn Personalquerelen in der notorisch zerstrittenen FDP von Ministerpräsidentin Kramp-Karrenbauer als Ursache für die vorzeitige Aufkündigung des Bündnisses genannt wurden, benennen Lohse/Wehner eine grundsätzliche Schwäche sowohl der Ampel- als auch der Jamaika-Koalition: „Grüne und FDP können kaum miteinander, haben lange den anderen als Feindbild kultiviert“.[15]

Nicht nur verglichen dazu regiert das um die Partei der dänischen Minderheit, SSW, erweiterte rot-grüne Bündnis unter Torsten Albig (SPD) bislang geräuschlos. Die beiden rot-grünen Parteien verfügen im Nordwesten über eine gewachsene gemeinsame Regierungserfahrung aus den Jahren 1996-2005 unter Ministerpräsidentin Simonis. Der SSW, der sich lange Zeit eine nur „gouvernementale Ausnahmerolle bei knappen Mehrheitsverhältnissen zugestand und die diesem Fall die Tolerierung SPD-geführter Minderheitsregierungen als Option betrachtete“[16], hat diese Zurückhaltung aufgegeben, jedoch nur im lagerkonformen Rahmen, also zugunsten von Rot-Grün.

Aus dieser kursorischen Betrachtung komplexer Koalitionen auf Landesebene lassen sich zwei Annahmen ableiten:

  1. Komplexe Koalitionen sind nicht ihrem Wesen nach instabiler als klassische Zwei-Parteien-Koalitionen. Hier wie dort gibt es die Notwendigkeit der Absprachen, Kompromisse, Interessengegensätze etc. Sofern sie scheitern, liegen die Ursachen im Handeln je eines der Partner begründet, wobei das betreffende Handeln auch vergleichbare Beispiele in Zwei-Parteien-Koalitionen findet also kein Spezifikum der komplexen Koalition darstellen muss.
  2. Die Stabilität einer komplexen Koalition, die lagerkonform zusammengesetzt ist, scheint höher zu sein, als im lagerübergreifenden Bündnisfall. Gleichzeitig erhöht sich die Notwendigkeit, für den Wahlerfolg mehr als die eigenen Lagermilieus zu mobilisieren.

Werden diese zwei Prämissen der Betrachtung komplexer Minderheitsregierungen zugrunde gelegt, ergeben sich auch hieraus Erklärungsmomente ihrer Stabilität.

Die rot-grüne Minderheitsregierung in Sachsen-Anhalt unter Tolerierung der PDS regierte von 1994 bis 1998.[17] Nachdem die Grünen aus dem Landtag ausschieden, setzten beide Parteien das Tolerierungsmodell bis 2002 fort.[18] In der ersten Wahlperiode dieses legislativ-exekutiven Dreierbündnisses bildete sich „ein Politikstil heraus, der es zuließ, parlamentarische Mehrheiten zu Sachfragen zu mobilisieren“[19] – ohne dass dabei parteipolitische Aspekte völlig ausgeblendet wurden. In der zweiten Wahlperiode differenzierte sich die Zusammenarbeit zwischen den nur noch beiden Parteien zu einem „gouvernementalen Verhandlungssystem“ (Thomas) aus, das „über den ursprünglichen Ansatz weit hinaus ging“.[20] SPD, PDS und die Landesregierung interagierten in einer Weise, so dass auch wechselnde Mehrheiten bei wichtigen Themen, die auf Dauer angelegte Zusammenarbeit nicht in Frage zu stellen vermochte.

Demgegenüber kann mit Blick auf die Minderheitsregierung in NRW unter Hannelore Kraft festgestellt werden: Düsseldorf ist nicht Magdeburg.[21] Zwar sondierten die rot-grünen Parteien auch mit der Linkspartei, doch waren die Schnittpunkte für ein Bündnis wesentlich größer als insbesondere die Bereitschaft der drei Parteien, diese zur Grundlage des gemeinsamen Handelns zu machen. Eine Lagerkonformität wurde schlicht negiert. Die Minderheitsregierung in NRW agierte deshalb – anders als in Magdeburg – mit wechselnden Mehrheiten. Zwar sah sich die Linksfraktion in der praktischen Landtagsarbeit der rot-grünen Regierung näher als FDP und CDU, doch konstituierte sich daraus kein ständiges Abstimmungsverhalten im Sinne dauerhafter Tolerierung. Stattdessen wurde mit wechselnden Mehrheiten gestimmt.[22] Zudem optierten SPD und Grüne, denen nur ein Mandat zur absoluten Mehrheit fehlte, von Beginn an auf einen günstigen Punkt für Neuwahlen. In allen Umfragen bestand die Wahrscheinlichkeit einer Fortsetzung als stabile Zweier-Koalition.


Der Verlierer ist immer der Juniorpartner?

Obwohl sich eine große Anzahl an Beiträgen der normativen Aufforderung widmet, im Fünfparteiensystem neue Koalitionsmodelle zu denken, ist die vergleichende Betrachtung komplexer Koalitionen bislang unterausgeprägt. Weil die Forschungslage sehr überschaubar ist, kommt der Untersuchung von Klecha[23] eine besondere Bedeutung zu. Er identifizierte 34 Fälle zwischen 1949 und 2010, bei denen komplexe Koalitionen angebahnt oder umgesetzt wurden. Dabei bezog er die frühe Bundesrepublik, Minderheitsregierungen und gescheiterte Sondierungen oder Koalitionsverhandlungen mit ein. Im Ergebnis seiner Untersuchung stellt er fest: „Komplexe Koalitionen sind aus Sicht von SPD und Union sehr ertragreiche Konstellationen. […] Indes wird deutlich, warum gerade die kleineren Parteien sich schwertun, komplexe Koalitionen einzugehen. Sie müssen befürchten, in solchen Konstellationen Nachteile zu erleiden. Streben die großen Parteien also komplexe Koalitionen an, werden sie auf lange Sicht genau diese Nöte der kleineren Parteien in den Blick nehmen müssen.“

Standen im vorhergehenden Abschnitt insbesondere Stabilitätserwägungen bei der Betrachtung komplexer Koalitionen im Fokus, richtet Klecha den Blick auf die langfristigen Erfolgsaussichten der Koalitionspartner. Dies ist bedeutsam, da politische Parteien in der Regel die Ziele der Wählerstimmenmaximierung (vote-seeking), die Besetzung öffentlicher Regierungsämter (office-seeking) und die Umsetzung politischer Programme (policy-seeking) anstreben. Im Fünfparteiensystem führt die Wählerstimmenmaximierung nicht mehr zwangsläufig zum Regierungsamt, wenn z.B. die erforderlichen Stimmen vom bevorzugten Koalitionspartner absorbiert werden. Programmatische Neuorientierungen können wiederum neue Koalitionsoptionen eröffnen.[24]

Dennoch kann dem methodischen Vorgehen und den gezogenen Schlussfolgerungen von Klecha nicht uneingeschränkt zugestimmt werden. Für eine erste Überblicksdarstellung, wie Klecha sie anstrebte, ist eine Betrachtung ab 1949 sicherlich sinnvoll. Im Hinblick auf die hier interessierenden Fragen sind allein die Fälle ab 1990 von Bedeutung. Erst mit dem Eintritt der PDS in den bundesdeutschen Parteienwettbewerb entstand das heute bestehende Fünfparteiensystem, das in jüngster Zeit durch temporäre Erscheinungen wie die Piratenpartei oder die AfD zusätzlich in Bewegung geriet.

Die Einbeziehung der gescheiterten Anbahnungen komplexer Koalitionen in die Betrachtung, ist hinsichtlich der Erfolgsbewertung von nur geringer Aussagefähigkeit. Verhandlungen unterliegen einer anderen Logik als die tatsächliche Regierungspraxis. Dies lässt sich zum Beispiel anhand der gescheiterten Ampel-Verhandlungen in Berlin 2001 und den erfolglosen Sondierungen zwischen r2g in Thüringen 2009 zeigen. Obwohl die SPD in Berlin bereit war, nach der Abgeordnetenhauswahl 2001 mit der PDS zu regieren, sprachen politische Opportunitätskosten zunächst dafür, mit FDP und Grünen einige Wochen eher lustlos als ergebnisorientiert zu verhandeln, um dann im Lichte der gescheiterten Gespräche sich zügig mit der PDS zu einigen.[25] In Thüringen wiederum bildeten die Erfahrungen der gescheiterten Sondierungen 2009 den Referenzrahmen für die Sondierungen und Koalitionsverhandlungen, die letztlich 2014 zur Bildung dieses Bündnisses führten.[26]

Klecha ist insoweit der herkömmlichen Koalitionsforschung verhaftet, die sich lange Zeit an rein statischen Modellen orientierte und auf die Bildung von Koalitionen konzentrierte. Notwendig ist, wie Heinrich bereits 2002 feststellte, den Analyserahmen auf die gesamte Legislaturperiode“ zu erweitern, denn „für das Verständnis des Handelns der Koalitionsparteien müssen ihre jeweiligen internen und externen Chancenstrukturen ebenso Berücksichtigung finden wie die Bedingungen, die sich aus dem Charakter einer Koalitionsregierung ergeben.“[27]

Ausgehend von der Annahme, dass die Entscheidung für oder gegen eine Koalition seitens der betreffenden Parteien auch im Hinblick auf die Aussichten, nach Ablauf der Legislaturperiode weiter regieren oder zumindest bei der kommenden Wahl erfolgreich abzuschneiden, betrachtet Klecha die Ergebnisse bisheriger Koalitionen. Seiner Feststellung, dass in diesen Koalitionen die jeweils großen Partner CDU oder SPD erfolgreicher waren als die kleinen Partner, ist zuzustimmen. Gleichwohl stellt sich auch hier, wie im vorhergehenden Abschnitt die Frage, ob die identifizierten Merkmale aufgrund der komplexen Koalition aufgetreten sind oder auch in einem solchen Bündnis auftreten können. Ein Beispiel: Dass Bündnis 90/Die Grünen und die FDP bei der auf die Ampelkoalition folgenden Landtagswahl 1994 die Sperrklausel verfehlten, ist kein Alleinstellungsmerkmal dieser Konstellation. In Sachsen-Anhalt scheiterten die Grünen 1998 an der Sperrklausel, während die FDP bereits 1994 aus dem Landtag fiel. In allen ostdeutschen Landtagen waren beide Parteien erst wieder ab den Wahlen nach 2002 vertreten. Die Ursache für das schlechte Abschneiden lag also möglicherweise eher im ostdeutschen Wahlverhalten insgesamt, als in der Koalition begründet.

In diesem Sinne zu diskutieren ist, ob das schlechte Abschneiden von Juniorpartnern in einer Koalition ein typisches Merkmal von komplexen Koalitionen darstellt. Zu diesem Zweck wurden die Wahlergebnisse von SPD, Grünen und PDS/DIE LINKE bei allen Landtags- und Bundestagswahlen seit 1990 ausgewertet, in denen die Parteien Juniorpartner einer Koalition waren. Gegenüber gestellt wurden jeweils die Wahlergebnisse beim Eintritt in eine Koalition und des darauf folgenden Urnengangs, wobei die Ergebnisse in zwei Kategorien zusammengefasst wurden: negatives Wahlergebnis bzw. gleichbleibendes oder positives Wahlergebnis. Wenn beispielsweise die Grünen in Schleswig-Holstein 6,2% bei der Landtagswahl im Jahr 2000 erreichten und dieses Ergebnis 2005 hielten, wurde dies der Positiv-Spalte zugerechnet.

Die Ergebnisse zeigen, dass Juniorpartner in einer Koalition bei der darauffolgenden Wahl nicht grundsätzlich schlechter abschneiden, dennoch ist die Wahrscheinlichkeit hoch. Während bei den betrachteten Fällen die negativen Ergebnisse für SPD und Linkspartei jeweils doppelt so hoch liegen, verzeichnet Bündnis 90/Die Grünen einen höheren Wert an positiven Ergebnissen.[28] Dieser Abstand zu SPD und Linkspartei verstärkt sich noch, wenn den Ereignissen die jeweiligen Prozentwerte gegenübergestellt werden. Die Grünen haben in Koalitionen nicht nur häufiger zugelegt, sondern in diesen Fällen signifikant höhere Werte erzielt als SPD und Linkspartei, wenn diese Juniorpartner einer Koalition waren.

Auch hier sind Einzelfälle zu berücksichtigen. Insbesondere dann, wenn im Sinne von Klecha nicht nur das jeweils auf die Regierungsbeteiligung folgende Wahlergebnis sondern auch der Verbleib in der Landesregierung als Erfolgskriterium betrachtet wird. Die Linkspartei in Mecklenburg-Vorpommern konnte sich in ihrer zweiten Regierungsperiode leicht von 16,4% auf 16,8% verbessern, musste jedoch aus der Regierung ausscheiden, da es für die Fortsetzung von Rot-Rot nicht mehr reichte. Die SPD, die 10,4% verlor, bildete stattdessen eine Große Koalition, in der sie Seniorpartner blieb. Der Verbleib in einer Regierung ist also, anders als Klecha suggeriert, für sich genommen kein ausreichend aussagekräftiger Indikator für den Erfolg eines Regierungsbündnisses.

Zusammengefasst lässt sich festhalten: Kleinere Parteien sind in komplexen Koalitionen nicht gefährdeter als in einer traditionellen Koalition. Vielmehr ist Wahrscheinlichkeit, dass in einer Koalition der Juniorpartner Federn lässt, höher als das er bei der darauffolgenden Wahl prozentual hinzugewinnt. Die bereits zitierte Aussage von Klecha muss demzufolge modifiziert werden:

  1. Streben große Parteien Koalitionen mit einem oder mehreren kleinen Partnern an, die z.B. aufgrund von Lagerkonformität länger als nur eine Legislaturperiode überdauern sollen, sind sie gehalten, die Stimmenmaximierungsinteressen der Partner in den Blick zu nehmen.
  2. DIE LINKE, Bündnis 90/Die Grünen und die FDP sind Parteien, die bislang traditionell zu den kleineren Parteien gehören, während die SPD auf Bundesebene und der absoluten Mehrheit der Länder zu den großen Parteien gehört, selbst wenn sie in einer Großen Koalition auch mal die Rolle des Juniorpartners übernimmt. Unter diesem Gesichtspunkt werden an die Koalitionen in Baden-Württemberg und Thüringen, ggf. auch Sachsen-Anhalt ab März 2016 sowie an die asymmetrische CDU-SPD-Koalition in Sachsen andere Maßstäbe anzulegen sein. Denn der Wirkung auf die SPD kommt in diesen Fällen eine besondere Bedeutung zu.

Gönnen können – Regierungspraxis von r2g in Thüringen

Als die drei Thüringer Mitte-Links-Parteien gemeinsame Sondierungsgespräche vereinbarten, war für alle drei beteiligten Partner klar – tatsächliche Alternativen lagen nicht auf dem Tisch.

Die Linkspartei ist in Bund und Ländern von einem koalitionsstrategischen Immobilismus geprägt. Sie kann entweder mit der SPD allein oder gemeinsam mit SPD und Grünen regieren. Andere Partner stehen derzeit nicht zur Verfügung.

Die Grünen können mittlerweile zwar auch problemlos mit der CDU regieren, doch reichte es im konkreten Fall für schwarz-grün nicht aus. Ein Bündnis aus CDU, SPD und Grünen stand nie ernsthaft zur Debatte – eine „rote Socken“-Kampagne hatte keine Chance.

Die SPD hingegen hatte von 2009 bis 2014 im Bündnis mit der CDU zwar inhaltlich mehr durchsetzen können als ihre Größe in der Koalition vermuten ließ, wurde aber dauerhaft politisch gedemütigt und hatte bei der Landtagswahl drastisch verloren. Die Option einer Fortführung der schwarz-roten Koalition war für die SPD deshalb nicht mehr als der Notausgang für den Fall gescheiterter Sondierungen von r2g. Zumal auch dieses Bündnis – genauso wie r2g – nur eine Stimme Mehrheit gehabt hätte. Zu wenig, um angesichts der zerrütteten Verhältnisse zwischen CDU und SPD als stabile Alternative zum politischen Experiment r2g zu dienen.[29]

Für die CDU war – angesichts der Erfahrungen einer absoluten Mehrheit und in ihrem Selbstbild als einzige wirkliche Thüringen-Partei – stets ein zu behebender Betriebsunfall. Bei r2g kann selbst der stärkste Partner realistisch nur im Bündnis mit wenigstens einem der beiden Partner regieren.

Diese Ausgangslage produktiv zu nutzen, war der Anspruch bei den Sondierungen und Koalitionsverhandlungen. Deren Gelingen setzte zunächst ein Mindestmaß an Vertrauen auf allen Seiten voraus. Daran hatte es 2009 beim ersten Versuch, die CDU in Thüringen von der Regierung abzulösen, gehapert. Ebenso wie an der Fähigkeit, das erforderliche Maß an Toleranz gegenüber den Interessen der Parteien und Zutrauen zu den Personen, mit denen man im Parteienwettbewerb konkurriert, in einer Regierung aber kooperieren soll, aufzubringen. Hilfreich war für die Verhandlungen, dass die Partner übereinstimmend die Bereitschaft zeigten, die Koalition weder als ‚Projekt‘ zu überhöhen, noch auf den Status einer temporären Zwangsgemeinschaft zu reduzieren, sondern sie als ernsthaftes Gestaltungsbündnis zu entwickeln.

Die Funktionsfähigkeit auch der rot-grün-roten Partnerschaft basiert einerseits auf einem Set an institutionalisierten Verfahren und Strukturen und andererseits eher weichen kommunikativen und sozio-kulturellen Faktoren. In beiden Felder ist nach knapp neun Monaten Erfahrung noch das Bemühen erkennbar, die optimalen Aushandlungs- und Konfliktvermeidungs- resp. –lösungsstrategien zu formulieren. Die nachfolgende Darstellung hat deshalb aber auch aufgrund des Blickwinkels sowohl aus der Staatskanzlei als auch des größeren Koalitionspartners nicht den Anspruch auf Vollständigkeit und Objektivität. Es ist vielmehr nur ein Teil eines komplexen Mosaiks.

  1. Gerade weil r2g für das Mitte-Links-Lager ein Referenzprojekt ist, sind SPD und Grüne daran interessiert, eine mehr oder weniger bewusste Strategie des „moderaten Zentrismus“ zu verfolgen. Dies ist durchaus sinnvoll, da beide kleineren Partner a) koalitionsstrategisch mobil bleiben wollen, b) nur durch die wirksame Ansprache bürgerlicher Milieus elektoral hinzugewinnen können und c) dies der Prägung der jeweiligen Parteimitgliedschaften entspricht. Für die strategische Themenwahl und Programmplanung bedeutet dies, die tagespolitischen Aufgaben und die Umsetzung des Regierungsprogramms mit den langfristigen Strategien des vote- und policy-seekings zu verbinden. So hat z.B. die SPD den Verlust eines Ministeriums kompensiert durch die Besetzung der drei wichtigen Ressorts Wirtschaft & Wissenschaft, Inneres & Kommunales sowie Finanzen. In den Medien wurden vor allem die Größe der Ministerien und ihr Einfluss auf das Tagesgeschäft thematisiert. Also die Fähigkeit, Entscheidungen blockieren oder erzwingen zu können. Zwar sind die drei Ministerien zwar tatsächlich Schlüsselressorts, doch wesentlicher ist, dass es sich dabei um Themenfelder handelt, die unverzichtbar dafür sind, die bürgerliche Mitte zu gewinnen: wirtschaftliche Kompetenz, Innere Sicherheit und finanzielle Stabilität. Sollte sich diese Strategie auszahlen, würde dies für die Koalition insgesamt – das Interesse der Partner an ihrer Fortsetzung vorausgesetzt – Vorteile haben. Wirksam werden kann eine solche Strategie allerdings nur dann wenn einerseits die beiden weiteren Partner den Raum dafür lassen. Dies gilt nicht zuletzt für die Partei des Ministerpräsidenten, der als Landesvater, sofern er erfolgreich ist, einen hohen Zugfaktor darstellt. Und andererseits die Strategie des einen Partners nicht überspannt wird, also zu Legitimationsverlust und damit Problemen beim vote- und policy-seeking der anderen Partner führt.
  2. Sowohl die Grünen als auch die Linkspartei sind Parteien, „die mit einem sehr hohen Reformanspruch in Regierungskoalitionen [eintreten]. Dieser Veränderungsimpetus ist Grundlage zur innerparteilichen Legitimation der Regierungsbeteiligungen. Gleichzeitig ist er Hypothek für die Regierungsarbeit. Sie sind darauf angewiesen, politische Erfolge oder zumindest symbolische Schritte […] vorweisen zu können.“[30] Dieser Reformeifer, der ein klassisches Konfliktfeld von Grünen und Linkspartei in einer Koalition mit der SPD darstellt, ist in Thüringen insoweit weniger strittig, da alle drei Partner bislang die Notwendigkeit sehen, von der CDU vernachlässigte Aufgaben der Landesentwicklung umzusetzen.
  3. Belastbare Entscheidungsstrukturen und gegenseitige persönliche Anerkennung der Spitzenpolitiker einer Koalition spielen für die Funktionsfähigkeit des Bündnisses eine entscheidende Rolle. An dieser Stelle treten die Nachteile komplexer Koalitionen gegenüber traditionellen Koalitionen besonders zu Tage. In dualen Bündnissen ist die Vertrautheit zwischen Ministerpräsident und Vize-Ministerpräsident häufig ein elementar stabilisierendes Bindemittel. Beispiele dafür sind Volker Bouffier (CDU) und Tarek al Wazir (Grüne) in Hessen oder in der Vergangenheit Klaus Wowereit (SPD) und Harald Wolf (LINKE) in Berlin, aber auch Gerhard Schröder (SPD) und Joschka Fischer (Grüne) in der Bundesregierung. In komplexen Koalitionen kann die Vertrautheit des Ministerpräsidenten zu den je beiden Vize-Ministerpräsident/-innen auch dann wenig Wirkung erzeugen, wenn es zwischen beiden Juniorpartnern knirscht, wie dies in der Bremer Ampel der Fall war. Dieses Missverhältnis besteht in Thüringen nicht – im Gegenteil.
  4. Die alltägliche Kooperation liegt in Thüringen, wie in vielen vergleichbaren Bündnissen, in den Händen der Fraktionsvorsitzenden und Geschäftsführer/-innen der Partner. Sie kommunizieren schnell aufgrund der kurzen Wege. Die interfraktionelle Kooperation ist sowohl als Alltagskooperation als auch Frühwarnsystem. Jeweils Dienstag vor der Kabinettssitzung treffen sich der Chef der Staatskanzlei und die Parlamentarischen Geschäftsführer[31] zum Frühstück, um die Schnittstellenthemen zwischen Fraktionen und Regierungsarbeit zu besprechen sowie den Ältestenrat und die Plenarsitzungen vorzubereiten. Unterschiedliche Erfahrungen wurden bislang in den Facharbeitskreisen der Koalitionspartner gesammelt, die in der Regel kongruent zu jedem Ministerium eingerichtet wurden. Wie intensiv die Arbeitskreise tätig sind und wie umfassend jedes Ministerium beispielsweise auch durch informelle Bereitstellung interner Unterlagen die Koalitionsabgeordneten informiert, ist bislang noch unterschiedlich. Dabei ist es interessanterweise mitnichten so, dass die SPD-Minister zurückhaltender bei internen Informationen als die Minister/-innen anderer Partner – im Gegenteil.
  5. Die unterschiedliche Größe der Koalitionsfraktionen macht sich im Alltag durchaus bemerkbar. Weniger inhaltlich als vielmehr zeitlich. Die Abgeordneten der sechsköpfigen grünen Fraktion, von der ein Mitglied der Landesregierung angehört sind wesentlich stärker belastet als die elfköpfige SPD-Fraktion mit einer Ministerin. Die Linksfraktion hingegen verfügt über 28 Mitglieder – die beiden linken Regierungsmitglieder mit Landtagsmandat haben dies im Frühsommer niedergelegt.
  6. Die Verknüpfung zwischen den Fraktionen und den jeweiligen Regierungsmitgliedern erfolgt in mehrfacher Hinsicht und nach den Parteien differenziert. Sowohl Linkspartei und SPD führen – in unterschiedlicher Zusammensetzung – tägliche Telefonschaltkonferenzen durch, um sich auf der Ebene des Spitzenpersonals abzustimmen. Innerhalb der Staatskanzlei wird die frühmorgendliche Telefonschaltkonferenz des Ministerpräsidenten mit der linken Fraktions- und Landesvorsitzenden und deren Stellvertreter durch eine morgendliche Schaltkonferenz mit dem Chef der Staatskanzlei, dem Bevollmächtigten beim Bund und den politischen Leitungsstabmitarbeiter/-innen, die zur Linkspartei gehören, ergänzt. Die Grünen treffen sich jeweils Montag im Kreis der Grünen Kabinettsmitglieder, Staatssekretär/-in und Fraktionsmitglieder sowie Landesvorstandsvertreter/-innen, um die gemeinsame Strategie zu besprechen. Zudem treffen sich die Minister/-innen von SPD und Linkspartei getrennt nach Parteien jeweils am Dienstag vor dem Kabinett mit den Fraktions- und Landesvorsitzenden, um die Kabinettsitzung vorzubereiten. Bei der Linkspartei nimmt zusätzlich der Parlamentarische Geschäftsführer teil.
  7. Auch wenn die Koalitionspartner bei der Besetzung der Ressorts bewusst auf das Kreuzstichverfahren verzichtet haben, also Minister/-in und Staatssekretär/-in grundsätzlich der gleichen Parteifarbe angehören, wurde von diesem Prinzip in der Staatskanzlei abgewichen. Weil der Ministerpräsident Bodo Ramelow, der Staatskanzleichef Benjamin-Immanuel Hoff, der zugleich Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten ist, sowie der Bevollmächtigte beim Bund und Staatssekretär für Medien, Malte Krückels alle der Linkspartei angehören, wurde einem kleineren Koalitionspartner die Möglichkeit offeriert, im Staatssekretärsrang in der Staatskanzlei vertreten zu sein. Davon machte die SPD Gebrauch, die auf diesem Wege auch eine den Verlust des vierten Ressorts kompensierte. Babette Winter (SPD) ist Staatssekretärin für Kultur und Europa und insoweit auch Vertreterin des Freistaates in Brüssel. Zusätzlich sind für die Vize-Ministerpräsidentin Heike Taubert (SPD) und die grüne Vertreterin des Ministerpräsidentin, Anja Siegesmund (Grüne), jeweils ein Stabsmitarbeiter in der Staatskanzlei tätig, die gemeinsam mit dem Staatskanzleichef zu einem reibungsarmes Koalitionsmanagement auf der Regierungsebene durch enge Abstimmung sowie strategischer Regierungsplanung beitragen sollen.
  8. Der Koalitionsausschuss ist auch in Thüringen das zentrale Steuerungsgremium. Er tritt insbesondere dann zusammen, wenn Fragen zu klären sind, die in den täglichen Arbeitsroutinen keiner Lösung zugeführt werden können, oder um strategische Fragen zu besprechen, die zu den Kernpunkten des Koalitionsvertrags gehören. Potenzielle Relevanz für den Koalitionsausschuss entfalten diejenigen Themen, die a) von einem der Partner mit einer hohen symbolischen Bedeutung versehen werden, b) bereits im Wahlkampf zum Thema gemacht wurden, c) innerhalb der Koalition oder eines der Partner mit ideologischer Präferenz behandelt werden, d) im Koalitionsvertrag zwar aufgeführt sind, ohne dass bestehende programmatische Dissense ausreichend geklärt wurden. Wie in vielen Koalitionen tagt der Ausschuss zumeist nach Bedarf in einem Rhythmus unregelmäßiger Regelmäßigkeit. Seine Zusammensetzung repräsentiert sowohl amtsbezogene Bedeutung als auch funktionale Aspekte. Mit je vier Vertreter/-innen zuzüglich eines ständigen Gastes ist er für ein Dreierbündnis angemessen besetzt.
  9. Die künftige Finanzierung der privaten und konfessionsgebundenen Schulen war bislang das erste Thema, bei dem die Koalition länger für eine Einigung benötigte, als ursprünglich angenommen. Diese vor allem für die Grünen wesentliche Frage wurde bereits in den Sondierungsgesprächen und Koalitionsverhandlungen kontrovers debattiert, wobei insbesondere die Höhe der künftigen Zuwächse der staatlichen Zuschüsse im Zentrum stand. Die Entscheidungsvorbereitung erfolgte bei diesem Thema in hohem Maße informell, während die abschließende Festlegung der Koalitionsausschuss traf. An diesem Beispiel zeigt sich besonders eindrücklich, dass der informelle Austausch aufgrund der Regelungebundenheit das Potenzial für die unkonventionelle Suche nach Lösungen hat und insoweit ebenso unverzichtbar ist, wie er in einer Koalition nicht zu Regelfall werden darf. Im Gegenteil ist das Prinzip: Legitimation durch Verfahren stabilisierendes Element jeder Koalition.
  10. Thüringen war nie in dem Maße durch die CDU geprägt worden, wie beispielsweise das sächsische Nachbarland. Insofern verfügen SPD und Linkspartei jeweils über Landrätinnen und Landräte sowie (Ober-)Bürgermeister/-innen. Die Grünen sind in verschiedenen Städten mit Dezernent/-innen vertreten. Diese kommunale Verankerung ist für die Koalition vor erheblicher Bedeutung, da ein wesentlicher Teil politischer Alltagsentscheidungen auch im Flächenland Thüringen unmittelbaren Bezug zu den Kommunen hat. Gleichzeitig ist insbesondere der Landkreistag, repräsentiert durch seine Präsidentin und den Vize-Präsidenten, in strikter Opposition zur rot-grün-roten Landesregierung, die weit über den klassischen Interessenkonflikt von Land versus Kommunen hinausgeht. Nicht zuletzt das Themenfeld Flüchtlingspolitik wird durch den Landkreistag als politische Gelegenheit genutzt, wider den Stachel zu löcken.
  11. Gleichzeitig haben sich die Befürchtungen, dass r2g am Beharrungsvermögen eines 25 Jahre vorrangig durch die CDU geprägten Verwaltungsapparates blockiert sein würde, nicht erfüllt. Innerhalb des Verwaltungsapparates ist bewusste Obstruktionspolitik gegen rot-grün-rote Politik die Ausnahme geblieben. Gleichzeitig benötigt die kognitive Umstellung, Themen nunmehr häufig konträr zu bisher geltenden politischen Maßgaben zu denken oder lieb gewordene Vorhaben aufgrund politisch neuer Vorgaben aufzugeben seine Zeit. Reichersdorfer/Zado haben 2011 mit ihren „Überlegungen zur (notwendigen) Wiederentdeckung der Ministerialverwaltung in der Diskussion um progressive Reformen“[32] ein vergessenes Thema des Linksreformismus aufgegriffen. Die bislang in Thüringen gesammelten Erfahrungen sind noch nicht systematisch genug verarbeitet, um den von Reichersdorf/Zado gesponnenen Faden aufnehmen und weiter verarbeiten zu können. Diese Aufgabe ist noch zu erledigen.
  12. Das Handeln der Partner im Bundesrat ist aufgrund der bundespolitischen Mitentscheidungen der Regierungsvertreter in der Länderkammer von besonderer symbolischer Relevanz. In der bisherigen koalitionsinternen Vorbereitung des Abstimmungsverhaltens im Bundesrat wurde versucht, die unterschiedlichen politischen Sichtweisen der drei Parteien, von denen zwei im Bund in der Opposition sind, so zu berücksichtigen, dass einerseits nicht Enthaltung durch Nichteinigung der Regelfall im Abstimmungsverhalten ist und andererseits keiner der Partner brüskiert wird. Naturgemäß ist die Zumutung dabei für die SPD am größten. Ihre Vertreter/-innen stehen auf der Bundesebene unter dem stärksten Legitimierungsdruck. Doch auch Linkspartei und Grüne sind mit erheblichen Erwartungen konfrontiert. Die Linkspartei-Vertreter/-innen aufgrund symbolischer Erwartungen. Die Grünen hingegen, weil sie mittlerweile in so vielen Regierungen sind, dass sie eine Sperrminorität herstellen können – wenn sie sich untereinander einig sind und ihre vielfältigen Koalitionspartner überzeugen können.

Grundsätzlich zeigt die Debatte gerade zu Bundesratsthemen in der Thüringer Koalition, dass drei Partner nicht mehr Instabilität, sondern vielmehr Stabilität erzeugen können. Der Grund dafür liegt darin, dass bei wechselnden Themen – sofern sich nicht alle drei Partner sowieso einig sind – zwei Partner eine Haltung vertreten und der dritte Partner angesichts dessen die Bereitschaft zum Kompromiss zeigt, die nicht selten mehr als eine Enthaltung darstellt. Drei Parteien können also, im guten Falle Entscheidungen herbeiführen, die mehr als Formelkompromisse sind, weil im Konfliktfall zu einem Widerspruch zwischen zwei Partnern noch eine dritte Logik hinzutritt. Diese Fähigkeit auszubauen, ist der Anspruch an die Zusammenarbeit zwischen den drei Partnern der komplexen rot-grün-roten Koalition. Im Erfolgsfall profitieren davon in erster Linie diejenigen, die im Mittelpunkt der Festlegungen des Koalitionsvertrages stehen: die Bürgerinnen und Bürger Thüringens.


[1] Vgl. n.v.a. Niko Switek, Neue Regierungsbündnisse braucht das Land! Die strategische Dimension der Bildung von Koalitionen, in: Zeitschrift für Politikberatung (ZPB), Heft 3/2010, S. 177-196; ders., Unpopulär aber ohne Alternative? Dreier-Bündnisse als Antwort auf das Fünfparteiensystem, in: Karl-Rudolf-Korte (Hrsg.), Die Bundestagswahl 2009. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung, VS Verlag für Sozialwissenschaft, 2010, S. 320-344; Eckart Lohse/Markus Wehner, Rosenkrieg. Die große Koalition 2005-2009, Fackelträger Verlag, Köln, 2009.

[2] Gudrun Heinrich, Kleine Koalitionspartner in Landesregierungen. Zwischen Konkurrenz und Kooperation, Leske + Budrich, Opladen, 2002, S. 16

[3] Ebd.

[4] Stephan Klecha, Komplexe Koalitionen: Welchen Nutzen bringen sie den Parteien, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 2/2011, S. 334-346.

[5] Vgl. Richard Stöss, Das Parteiensystem Brandenburgs, in: Uwe Jun/Melanie Haas/Oskar Niedermayer (Hrsg.), Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2010, S. 167-192 (172f.).

[6] Reinhold Roth, Die Bremer Bürgerschaftswahl vom 14. Mai 1995: Machtparität von SPD und CDU, in: ZParl, Heft 2/1996, S. 272-283.

[7] Vgl. Julia von Blumenthal, Die Schill-Partei und ihr Einfluss auf das Regieren in Hamburg, in: ZParl, Heft 2/2004, S. 271-287;

[8] Niko Switek, Wieder einmal ein Trendsetter? Koalitionstheoretische Annäherung an die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen, in: Regierungsforschung.de. Das wissenschaftliche Online-Magazin der NRW School of Governance, 2011, http://rgf.kr8.me/wp-content/uploads/2014/05/280411_regierungsforschung.de_switek_wieder_einmal_trendsetter.pdf.

[9] Vgl. Christoph Hartmann, Jamaika im Saarland, in: Volker Kronenberg/Christoph Weckenbrock (Hrsg.), Schwarz-Grün. Die Debatte, VS Verlag für Sozialwissenschaft, Wiesbaden, S. 277-287 sowie

[10] Stöss, a.a.O., S. 172.

[11] Vgl. Reinhold Roth, Die Bremer Bürgerschaftswahl vom 29. September 1991: Ende der SPD-Alleinherrschaft durch eine Ampelkoalition, in: ZParl, Heft 2/1991, S. 281-291.

[12] Roth 1996, a.a.O., S. 272.

[13] Vgl. von Blumenthal 2004, a.a.O.

[14] Vgl. Benjamin-Immanuel Hoff, Rechtskonservativ statt wirtschaftsliberal. Die AfD-Fraktion im Thüringer Landtag steht prototypisch für die künftige Parteiausrichtung nach dem Abgang des Lucke-Flügels, in: Freitag-Blog, http://bit.ly/1KMK62B.

[15] Lohse/Wehner 2009, a.a.O., S. 253.

[16] Roberto Heinrich, Das Parteiensystem Schleswig-Holsteins, in: Jun/Haas/Niedermayer (Hrsg.), a.a.O., S. 431-452 (447); Everhard Holtmann, Dürfen die das, wo die doch Dänen sind? Über den Umgang mit Macht und Minderheiten im Deutschland, in: ZParl, Heft 3/2005, S. 616-629.

[17] Vgl. Wolfgang Renzsch/Stefan Schieren, Große Koalition oder Minderheitsregierung: Sachsen-Anhalt als Zukunftsmodell des parlamentarischen Regierungssystems in den neuen Bundesländern?, in: ZParl, Heft 3/1997, S. 391-407, kritisch dazu: Winfried Steffani, Zukunftsmodell Sachsen-Anhalt? Grundsätzliche Bedenken, in: ZParl, Heft 4/1997, S. 717-722.

[18] Vgl. Stefan Schieren, Die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt vom 26. April 1998: „Magdeburger Modell“ mit einigen Mängeln, in: ZParl, Heft 1/1999, S. 56-78.

[19] Sven Thomas, Zur Handlungsfähigkeit von Minderheitsregierungen am Beispiel des „Magdeburger Modells“, in: ZParl, Heft 4/2003, S. 792-809 (799).

[20] Thomas 2003, a.a.O., S. 806.

[21] Timo Grunden, Düsseldorf ist nicht Magdeburg – oder doch? Zu Stabilität und Handlungsfähigkeit der Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen, in: Regierungsforschung.de 2011, http://bit.ly/1K18JpC.

[22] Steffen Ganhof et al, Flexible und inklusive Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen (ZParl), Heft 4/2012, S. 887-900, 2012.

[23] Klecha 2011, a.a.O.

[24] Vgl. Christoph Egle, Doppelte Öffnung oder ewige Opposition: die strategischen Koalitionsoptionen der Grünen im Fünf-Parteien-System, in: Vorgänge, Heft 3/2008, S. 111-121-

[25] Vgl. Benjamin-Immanuel Hoff, Vom Tabubruch zum Politikwechsel? Rot-Rote Perspektiven für die Bundeshauptstadt, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Heft 8/2001, S. 985-994.

[26] Vgl. Benjamin-Immanuel Hoff, Sieg des Kleingeistes über die Politik. Die SPD verspielt den Politikwechsel in Thüringen und die Chance auf Neues, in: Neues Deutschland vom 09. Oktober 2009; ders., Fifty-Fifty für Rot-Rot-Grün, in: Freitag-Blog vom 15.09.2014, http://bit.ly/1IUpNCY.

[27] Gudrun Heinrich, Kleine Koalitionspartner in Landesregierungen. Zwischen Konkurrenz und Kooperation, Leske + Budrich, Opladen, 2002, S. 16.

[28] Mit ähnlichen Ergebnissen für die Grünen: Heinrich 2002, a.a.O., S. 108.

[29] Vgl. Hoff 2014, a.a.O..

[30] Heinrich 2002, a.a.O., S. 106.

[31] Vgl. Stehan Terhorst/André Vielstädte, Der kooperative Interaktionsakteur. Die Rolle der Parlamentarischen Geschäftsführer in einer Minderheitsregierung am Beispiel von Nordrhein-Westfalen, in: Regierungsforschung.de am 16.05.2012, http://bit.ly/1N8dtwI; Sönke Petersen, Manager des Parlaments: Parlamentarische Geschäftsführer im Deutschen Bundestag – Status, Funktionen, Arbeitsweise, Leske + Budrich, Opladen, 2000.

[32] Johannes Reichersdorfer/Julian Zado, Wahlsieg, Mehrheit, und was jetzt? – Überlegungen zur (notwendigen) Wiederentdeckung der Ministerialverwaltung in der Diskussion um progressive Reformen. Beitrag zur Tagung „Linksreformismus – Wege aus der Krise, 2011, http://bit.ly/1KP8une.

Der Beitrag erschien in gekürzter Form in: Susanne Hennig-Wellsow (Hrsg.), Mit LINKS regieren? Wie Rot-Rot-Grün in Thüringen geht, VSA-Verlag, Hamburg, 2015, S. 45-58.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

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