Serbien nach der Wahl

Westbalkan Die vorgezogene Neuwahl ergab eine absolute Mehrheit für die Fortschrittspartei. Die Aufgabe des Wahlsiegers Aleksandar Vučić besteht in der Bekämpfung der Korruption

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Bei der gestrigen Parlamentswahl wurde mit der serbischen Fortschrittspartei (SNS) erstmals seit der demokratischen Wende im Jahre 2000 eine Partei mit der absoluten Mehrheit der Stimmen ausgestattet. Sie erhielt 48,8 Prozent oder 157 von 250 Mandaten. Es ist das beste Ergebnis füreine Partei in der parlamentarischen Geschichte Serbiens.

Abgesehen vom Zeitraum 1990 bis 1993, in dem die zum damaligen Zeitpunkt hegemoniale Sozialistische Partei (SPS) von Slobodan Milošević über die absolute Mehrheit der Stimmen im Parlament verfügte sowie zwischen 1993 und 1994, als die SPS allein eine Minderheitsregierung bildete, waren bislang alle Regierungen Serbiens Koalitionsregierungen.

Der bisherige Vize-Ministerpräsident Aleksandar Vučić kann nun wählen, ob er allein aus der SNS eine Regierung bildet oder – was nicht auszuschließen ist – den bisherigen Koalitionspartner, die SPS, die mit 14 Prozent (45 Mandate), an zweiter Stelle landete, einlädt, gemeinsam mit der SNS die Regierung zu bilden. Gemeinsam haben die beiden bisher regierenden Parteien 204 von 250 Mandaten gewonnen.

Trotz der starken Stellung der SNS im neuen Parlament wurde das seit 2012 bestehende serbische Parteiensystem im Wesentlichen bestätigt – nur die Kräfteverhältnisse haben sich deutlich verschoben. Die Neue Demokratische Partei (NDS) von Boris Tadić kommt auf 5,86 Prozent der Stimmen und belegt 18 Parlamentssitze, die Demokratische Partei (DS) von Dragan Djilas stürzte auf 5,46 Prozent ab und erhält 17 Mandate. Weitere Parteien im Parlament sind die Parteien der ungarischen bzw. albanischen Minderheiten, für die keine Sperrklausel gilt.

Ob mit der Wahl eine vierte Entwicklungsphase des serbischen Parteiensystems eingeläutet wurde oder ob es sich nur um eine Veränderung in der laufenden Phase handelt, wird sich zeigen.

Innenpolitik statt Kosovo, Brüssel oder Den Haag

Wer die Besonderheit der politischen Kommunikation des zu Ende gegangenen kurzen Wahlkampfs verstehen will, sollte sich vergegenwärtigen, dass erstmals seit 1989 die Parlamentswahl von den Parteien nicht zur Abstimmung über die territoriale Integrität des Landes oder die EU-Annäherung umfunktioniert wurde. Statt des Kosovo-Status, den Perspektiven der EU-Integration oder einem Rückblick auf die jeweilige Rolle Serbiens bzw. Kroatiens in den Kriegen zwischen den ehemaligen jugoslawischen Republiken standen diesmal ausschließlich innenpolitische Fragestellungen im Zentrum.

Der Wahlkampf galt deshalb bei den führenden Medien als langweilig. Als nachteilig erwies sich jedoch weniger die gemäßigte Tonlage der politischen Kontrahenten, sondern vielmehr die Tatsache, dass die handelnden Akteure auf die drängenden Fragen der Zukunft – wirtschaftliche Stabilisierung des Landes und Bekämpfung der Korruption – keine oder wenig überzeugende Antworten geben. Das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Parteien und die Regierung ist notorisch gering – Vučić wird noch am ehesten zugetraut, Worten Handlungen folgen zu lassen. Dieses Image beruht nicht zuletzt auf den erheblichen Veränderungen, die seine Partei, die SNS unter der Führung von ihm und dem Staatspräsidenten Tomislav Nikolić eingeschlagen hatte.

Serbien, das erst nach der Überwindung der Milošević-Ära im Jahre 2000 und damit stark verspätet Anschluss an die osteuropäischen Modernisierungsprozesse fand, hat in den vergangenen Jahren in rasanter Geschwindigkeit bis dahin bestehende Großkonflikte überwunden. Grundsätzlich lassen sich drei Entwicklungsphasen des serbischen Parteiensystems differenzieren:

Die erste Phase wurde eingeleitet durch die Wahl zum jugoslawischen Parlament 1990, bei der sich die von Slobodan Milošević aus dem Serbischen Bund der Kommunisten (BdK) gebildete SPS durch entsprechende Festlegung des Wahlsystems die absolute Mehrheit sicherte. Bis zum Jahre 2000 konnte die SPS, in Verbindung mit der von Miloševićs Frau geführten Jugoslawischen Vereinigten Linken (JUL), das Parlament dominieren und Milošević bzw. von ihm geführte Marionetten die Leitung der Regierung und des Amtes des Präsidenten wahrnehmen.

Die zentrale Konfliktlinie dieser ersten Phase bildete der Gegensatz zwischen den in der Kontinuität des alten Systems stehenden Milošević-Parteien einerseits und den regimekritischen Oppositionsparteien andererseits (regime divide). Die Oppositionsparteien bildeten keineswegs einen homogenen Block sondern differenzierten sich in einen kleineren Teil prowestlich ausgerichteter Parteien und Politiker und einen mehrheitlichen Teil von Akteuren und Organisationen, die umfassend oder in Abstufungen den großserbischen Nationalismus von Milošević teilten, aber die von ihm vollzogene Usurpation politischer Macht ablehnten. Im Verlauf der 1990er Jahre differenzierte sich die Opposition deshalb im Wesentlichen in zwei Blöcke aus. Einerseits den prowestlichen und demokratischen Teil, bestehend aus der DS (Zoran Đinđjič), der DSS (Vojislav Koštunica) und andererseits den autoritär-nationalistischen Teil um die SRS (Vojislav Seselj).

Der Umbruch im Herbst 2000 leitete mit der Überwindung des Milošević-Regimes die zweite Entwicklungsphase des Parteiensystems und die nachholende Demokratisierung Serbiens ein. Obwohl die Ermordung von Đinđjič den regime divide noch einmal brutal in den Vordergrund des politischen Geschehens rückte, kann dieses traumatische Ereignis der zweiten serbischen Transformation, das gesellschaftliche Ächtung erfuhr, auch als Katalysator für die Überwindung dieser Konfliktlinie gesehen werden. Keine Partei kann seitdem mit den Instrumenten des politischen Terror drohen, geschweige denn agieren.

In Folge der Ergebnisse des Kosovo-Feldzuges sowie der Unabhängigkeitsbestrebungen Montenegros und des Kosovo bildeten sich zwei neue Konfliktlinien heraus, die das Parteiensystem strukturierten: die Haltung zur Unabhängigkeit des Kosovos und die Orientierung auf die EU-Integration Serbiens.

Während die DS - nach dem Tod von Đinđjič durch den späteren Staatspräsidenten Tadić geführt – nach und nach zu einer der zwei dominierenden Parteien Serbiens wurde, löste sich die ursprünglich enge Bindung zur DSS mehr und mehr auf. Die DS orientierte auf politische Bündnisse mit den prowestlichen und liberalen Parteien, wie der LDP und der G17+, die DSS hingegen entwickelte sich im Konflikt um das Kosovo von einer ursprünglich prowestlichen Partei zu einem Teil derjenigen politischen Kräfte, die sich am vehementesten gegen die Loslösung des Kosovo von Serbien wehrten.

Diese Position unterstützen ursprünglich auch die SPS und die SRS, wobei die SPS aus ihrer postkommunistischen Tradition heraus eine linksnationalistische Politik betrieb, während die vom in Den Haag einsetzenden und der Kriegsverbrechen beschuldigten Seselj geleitete SRS strikt rechtsnationalistisch agierte. Die SRS bildete den politisch dominanten Gegenpol zur DS und war bis 2008 die zweite politisch starke Kraft Serbiens.

Der Zeitraum seit 2008 markiert die dritte und bis heute andauernde Entwicklungsphase im serbischen Parteiensystem. Diese Phase war stark durch die Kontroverse um das Kosovo geprägt, ging aber mit ungeahnten Entwicklungen einher.

Die wesentlichen Veränderungen im Parteiensystem bestehen in drei Aspekten:

a) Zunächst nahm die SPS, immerhin die Partei, der die Mörder Đinđjičs nahestanden, eine Kehrtwende ihrer politischen Ausrichtung vor, der sie bis in ein Regierungsbündnis mit der DS und anderen Parteien führte. Die SPS unterstützt seitdem einen moderat prowestlichen Kurs und eine zunehmend realistischere Kosovo-Politik.

b) ie ursprünglich zweitwichtigste Partei Serbiens, die rechtsnationalistische SRS, ist nach der durch den heutigen Präsidenten Serbiens Nikolić vollzogenen Abspaltung der SNS mit der Wahl in die Bedeutungslosigkeit versunken. Die SNS hingegen hat erfolgreich den Weg der SPS in Richtung moderate West-Ausrichtung und realistische Nachbarschafts- und Geschichtspolitik vollzogen.

c) Der ursprünglich starke Mann der DS und Serbiens, Boris Tadić, hat sich im vergangenen Jahr von der DS mit einer eigenen Partei, der Neuen Demokratischen Partei (NDS) abgespalten. Die DS und die NDS kommen im neuen Parlament, Hochrechnungen zufolge, auf ca. 12,5%. Die Spaltung der DS kam der SNS zugute – die SPS konnte davon nicht profitieren.

Rückblickend könnte der SPS und der SNS der Verdienst zukommen, dazu beigetragen zu haben, die nationalistisch-großserbische Konfliktlinie überwunden und die von dieser Konfliktlinie geprägte Wählerschaft in einen demokratischen Konsens überführt zu haben.

Die nächsten Aufgaben: Wirtschaftliche Stabilisierung – Bekämpfung der Korruption

Ob es der von den Wähler/-innen gestärkten SNS gelingt, das geringe Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Parteien, Parlament und Regierung zu erhöhen, wird sich zeigen. Maßgeblich dafür dürfte ihre Fähigkeit sein, sowohl wirtschaftliche Verbesserungen spürbar zu erzeugen als auch die Korruption zu bekämpfen.

Dazu würde zunächst gehören, eine Regierung zu bilden, die für die Dauer der gesamten Wahlperiode tätig ist. Seit 1990 amtierten 12 Regierungen, die zum Teil aus vorgezogenen Wahlen hervorgingen oder Umstrukturierungen der Regierungen geschuldet waren. Selbst wenn der Regimewechsel im Jahre 2000 sowie die Ermordung des Ministerpräsidenten Đinđić nicht vernachlässigt werden dürfen, kann bei einer durchschnittlichen Amtsdauer von 24 Monaten von einer gefestigten und stabilen Regierungstätigkeit nicht gesprochen werden.

Darüber hinaus müsste Vučić bei der Bildung seines Kabinetts dafür Sorge tragen, dass die Verflechtungen zwischen der Politik und den serbischen Oligarchen sowie Mafia-Strukturen gekappt werden. Dies war in der bisher amtierenden Regierung ersichtlich nicht der Fall.

Die während der unregulierten Privatisierungen in der Milošević-Ära groß gewordenen Tycoons nehmen auf das wirtschaftliche Leben Serbiens großen Einfluss, doch richtete sich der Kampf gegen Korruption, den Vučić ausrief, vor allem gegen Oligarchen der politischen Konkurrenz. Dieses Muster serbischer Politik, nur vor der Tür der Konkurrenz zu kehren, sollte zügig beendet werden.

Würde dies konsequent umgesetzt, könnte Serbien damit sowohl ein Signal nach Brüssel als auch nach Moskau senden. Denn das Land praktiziert nicht erst seitdem der amtierende Präsident Nicolić heißt, sondern bereits unter dessen Vorgänger Tadić eine Außenpolitik unter dem Motto „Haus mit zwei Türen“. Von denen stellt eine die Verbindung zur Europäischen Union her und die andere führt nach Russland. In Richtung EU würde die Fähigkeit zur Umsetzung der Normen zum EU-Beitritt verdeutlicht, in Richtung Russland die Orientierung an Rechtstaatlichkeit und Transparenz.

Die russische Orientierung Serbiens würde dabei keinen Schaden nehmen, sondern gestärkt. Sie ist von jeher mehr als eine Facette serbischer Verhandlungstaktik gegenüber der EU, sondern basiert auf der historischen Verbindung beider Staaten. Zieht man die aktuellen Beziehungen Russlands mit seinen Nachbarn in Betracht, könnte gerade diese räumliche Distanz eine wichtige Grundlage für stabile freundschaftliche Kontakte beider Staaten unter Aufrechterhaltung der Souveränität Serbiens sein. Das gute Verhältnis beider Staaten zueinander basiert freilich vor allem auf rationalen Erwägungen, die seitens Russlands in der Aufrechterhaltung von Einflussgebieten und seitens Serbiens in der Suche nach Auswegen aus der drastischen Finanz- und Wirtschaftskrise folgen. Russland hatte bereits 2012, als die Verhandlungen zwischen Serbien und dem Internationalen Währungsfonds eingefroren wurden, die Bereitschaft zur Gewährung eines Kredits von einer Milliarde Euro zu einem Zinssatz, der weit unterhalb der Werte lag, zu denen sich Serbiens Regierung Geld am Kapitalmarkt beschaffen konnte, erklärt.

Nicht zuletzt würde eine Bekämpfung der Korruption der Meinungs- und Pressefreiheit in Serbien gut tun. Zwar ist das Land heute weit entfernt vom staatlichen Einfluss der Jahre bis zur Wende. Doch zeigen viele Beispiele, dass die Besitzverhältnisse innerhalb der serbischen Medienlandschaft ebenso undurchsichtig wie stark bei einzelnen Oligarchen konzentriert sind. Eine tatsächliche Unabhängigkeit journalistischer Berichterstattung gegenüber den politischen Interessen der privaten Eigentümer wäre also die Folge ernsthafter Bemühungen einer Schwächung der serbischen Tycoons. Dies würde bedeuten, dass auch Vučić die Hand schlagen müsste, aus der er bislang aß.

Co-Autorin: Lana Šehović. Frau Šehović ist Mitarbeiterin der BEST-Sabel-Hochschule Berlin (BSH Berlin).
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

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