SPD-Hochburg Nordrhein-Westfalen - ein Mythos

Parteienforschung NRW wird oft als "kleine Bundesrepublik" bezeichnet und gilt als SPD-Hochburg. Dies ist, bei Lichte betrachtet, ein Mythos. Eine Betrachtung vor der Landtagswahl 2017

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SPD-Hochburg Nordrhein-Westfalen - ein Mythos

Foto: Maja Hitij/Getty Images

Über einen langen Zeitraum galt es aufgrund der mehrere Jahrzehnte währenden sozialdemokratischen Dominanz einerseits und den Wirkungen der NRW-Wahlen auf die Bundespolitik andererseits als ausgemacht, dass NRW ein „Stammland der Sozialdemokratie“ und Wahlen in NRW „kleine Bundestagswahlen“[1] seien.

Während hinsichtlich der Sozial- und Raumstruktur das Land Nordrhein-Westfalen durchaus als kleine Abbildung der Bundesrepublik gesehen und daher das Ausmaß an Wählerstabilität, Wählerfluktuation sowie die Richtung von Wahlentscheidungen als exemplarisch und repräsentativ für die ganze Republik gedeutet werden können, hat die Wahl- und Parteienforschung den Vorstellungen eines „roten NRW“ zwischenzeitlich nachhaltig widersprochen.[2]

Die Vorstellung von NRW als sozialdemokratischer Hochburg, als Pendant zum schwarzen Süden speist sich insbesondere aus „einem kognitiven Bedürfnis nach Gegengewichten“, also der Vorstellung, dass dem CSU-dominierten Bayern ein rotes NRW entgegenzustellen sei, auch wenn es de facto kein gleichwertiges Gegengewicht darstellte. [3]

Sieht man einmal davon ab, dass der Machtverlust in NRW nur drei Jahre später der Verlust der bayerischen Alleinregierung folgte, war nie ganz NRW sozialdemokratisch, sondern die Machtbasis der SPD lag lange Zeit im Ruhrgebiet – dort, wo Willy Brandt einmal bezogen auf Dortmund die „Herzkammer der SPD“ vermutete.

Das Münsterland, der Niederrhein oder Ostwestfalen, also die ländlich geprägten Regionen, waren gleichwohl stets nahezu uneinnehmbare Hochburgen der Union. Und auch im Ruhrgebiet wurde die sozialdemokratische Orientierung keineswegs historisch mit der Muttermilch aufgesogen. Vielmehr dominierte dort ein katholisches Arbeiterbewusstsein und die SPD musste sich in den 50er und 60er Jahren ihre Vormacht hart erarbeiten.

Kranenpohl und Korte et al unterteilen die Entwicklung des nordrhein-westfälischen Parteiensystems, anhand der Merkmale Fragmentierung, Asymmetrie und Mobilisierungsfähigkeit der Großparteien, in vier Phasen, die im Wesentlichen übereinstimmen.[4]

Die Gründungs- und Konsolidierungsphase (1947 bis 1962)

Diese Phase war geprägt durch eine deutliche Abnahme der Fragmentierung und eine beträchtliche Zunahme der Wähler/-innenbindung an die beiden Großparteien CDU und SPD. Die Union konnte davon profitieren, dass es ihr gelang, über das Milieu des katholischen Zentrums hinaus, die in Süd- und Ostwestfalen dominierenden Protestanten sowie kirchenferne Katholiken zu gewinnen. Die CDU war dadurch bis in die Mitte der sechziger Jahre die stärkste politische Kraft im Land Nordrhein-Westfalen. Bei den Landtagswahlen 1958 erreichte sie mit 50,5% der Stimmen das erste (und einzige) Mal eine absolute Mehrheit im Parlament. Damit war in NRW die Herausbildung eines bürgerlich-katholischen Lagers abgeschlossen, nachdem zwei Jahre zuvor die beiden Koalitionsparteien der CDU – Zentrum und FDP – den langjährigen Ministerpräsidenten Karl Arnold gestürzt und erstmals einen Sozialdemokraten (Fritz Steinhoff) zum Regierungschef gewählt hatten. Die FDP wurde darüber zur Oppositionspartei, das Zentrum verschwand von der Bühne des Landtages.

Aus diesen Zahlen eine besondere Schwäche der SPD abzuleiten geht jedoch fehl. Denn auch wenn die CDU in den ersten Jahren der Existenz des noch jungen Landes NRW dominierte, so konnte die SPD ihrerseits weit über das alte linke Lager der Weimarer Republik hinaus Wähler/-innen an sich binden. Sie war also nicht schwach, sondern stark – aber nicht stärker als die CDU.[5]

Die Konkurrenz- bzw. Polarisierungsphase (1962 bis 1980)

Die Dominanz der Union war von kurzer Dauer. Während sie unter den Verschleißerscheinungen der christlich-liberalen Koalition in Bonn litt, konnte die SPD von ihrem Wandel zur Volkspartei und der damit einhergehenden Öffnung gegenüber den Kirchen profitieren.

Auf der Basis ihres Godesberger Programms gelangen der SPD erhebliche Einbrüche in die Wählerschaft der CDU. Bei der Landtagswahl 1966 wurde die SPD mit 49,5% erstmals stärkste Kraft im Lande. Eine nicht unerhebliche Rolle spielten dabei die Auseinandersetzungen um die Kohlepolitik der Regierung Ludwig Erhards. Allerdings konnte die CDU zunächst eine Koalitionsregierung mit der FDP bilden, diese zerbrach aber bereits nach wenigen Monaten. Obwohl von der SPD-Führung zunächst die Bildung einer Großen Koalition nach dem Vorbild des Bundes erwogen wurde, stimmte eine deutliche Mehrheit der SPD-Fraktion für eine Koalition mit der FDP. Im Dezember 1966 wählte der Landtag die erste sozialliberale Koalition unter Ministerpräsident Kühn.

Doch auch wenn die Dominanz der Union gebrochen war, konnte von einer sozialdemokratischen Hegemonie nicht die Rede sein. Beide Volksparteien lieferten sich bis in die 80er Jahre ein Kopf an Kopf-Rennen. CDU und SPD lagen mit jeweils über 45% der Stimmen nahe beieinander. Die CDU wurde bei den Landtagswahlen in den 70er Jahren – wenn auch nur knapp mit 0,2% (1970) und 2% (1975) – stärkste Partei.

Beide Parteien banden gemeinsam über 90% der Wähler/-innen und verharrten in einem „strukturellen Patt“. Die FDP ihrerseits, als dritte im Landtag vertretene Partei, entschied durch ihre Koalitionspräferenzen, dass die SPD ab 1966 endlich Regierungsverantwortung übernehmen konnte.[6]

Die Hegemonie der SPD (1980 bis 1995)

Erstmals wieder 1980 erreichte die SPD mit Johannes Rau mehr als 5%-Punkte Vorsprung vor der Union. Da die FDP knapp an der 5%-Hürde scheiterte, endete die sozialliberale Ära in NRW. Mit 48,4% erreichte die SPD zwar ihr zweitbestes Ergebnis bei einer Landtagswahl in NRW, doch erst in den folgenden 80er Jahren konnte sie diejenige Hegemonie aufweisen, die sich in der Persönlichkeit des Ministerpräsidenten Johannes Rau einerseits und der Identifikation mit der SPD als der authentischen „Wir in NRW“-Partei andererseits ausdrückte.

Die absolute Mehrheit der Landtagssitze verteidigte sie bei den beiden darauf folgenden Landtagswahlen und erreichte sogar jeweils die absolute Mehrheit der Stimmen. In den achtziger Jahren mobilisierte die SPD jeweils über 4,6 Millionen Wählerinnen und Wähler, 1985 sogar über 4,9 Millionen Stimmen.

Dennoch basierte die sozialdemokratische Hegemonie nicht allein auf eigener Stärke. Die Sozialdemokraten profitierten insbesondere von der Schwäche der Union und von einer wieder zunehmenden Fragmentierung des Parteiensystems.[7]

Diversifizierung des Parteiensystems in NRW

Mit der Landtagswahl 1995 begann, parallel zu den akuten De-Industrialisierungsprozessen an Rhein und Ruhr, die Demobilisierung der sozialdemokratischen Wählerschaft. Die SPD erreichte nur noch gut 3,8 Millionen Stimmen, die Wahlbeteiligung sank von knapp 72% auf 64%. Die Ära der sozialdemokratischen Alleinregierungen war beendet. Die SPD büßte mit der Wahl vom 14. Mai 1995 ihre absolute Mehrheit ein und war gezwungen, mit den Grünen, die 10% erreichten, ein Regierungsbündnis einzugehen. Es begann die rot-grüne Dekade.

Doch nicht nur das Wachstum der Grünen trug zur Schwächung der NRW-SPD bei. Stärker noch unterspülte der ökonomische Strukturwandel die maßgeblich über die Gewerkschaften vermittelte vorpolitische Verankerung der Partei. Zwischen 1970 und 2002 sank in NRW die Anzahl der Beschäftigten im Produktionssektor um 40%, die DGB-Gewerkschaften verloren zwischen 1993 und 2005 ca. 665.000 Mitglieder. Die Mobilisierung der traditionellen Stammwählerschaft und die Integration heterogener Mittelschichten, lange Zeit Machtvoraussetzung der SPD, gingen so verloren.

„Heute hat die CDU in ihrem größten Landesverband mit rund 165.000 Mitgliedern gut 30.000 Mitglieder mehr als die SPD. Und die Sozialdemokraten mussten zudem gerade im vergangenen Jahr einige herbe Niederlagen einstecken: Bei den Kommunalwahlen erreichten sie mit 29,4 Prozent ihr historisch schlechtestes Ergebnis, bei der Bundestagswahl lagen sie zwar über dem deutschen Schnitt, erreichten in Nordrhein-Westfalen aber auch nur noch 28,5 Prozent.“[8]

Von dieser Schwäche profitierte zwar phasenweise die CDU, der es insbesondere 2005 gelang, als Arbeiterpartei und Partei mit sozialer Kompetenz wahrgenommen zu werden. Erdrutschartige Verschiebungen zugunsten der Union entstanden dadurch aber nicht. Zwischen Mitte der siebziger und Mitte der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts hatte die Rhein-Ruhr-CDU 1,4 Millionen von 4,8 Millionen Wählerinnen und Wähler verloren und verlor bei den Wahlen 1995 und 2000 nochmals 300.000-400.000 Stimmen.

Trotz weiterer sozialdemokratischer Stimmenverluste konnte sich die rot-grüne Regierung, nun mit Wolfgang Clement als Ministerpräsident, bei den Landtagswahlen 2000 behaupten. Gegenüber dem Höchststand 1985 hatte die SPD zur Jahrtausendwende 1,8 Millionen von 4,9 Millionen Stimmen verloren. Auch die Grünen verloren etwa ein Drittel ihrer Wählerschaft. Eine Wechselstimmung im Land war dennoch nicht zu erkennen, vielmehr dominierte die politische Abstinenz. Die Wahlbeteiligung sank auf den bisher niedrigsten Stand bei Landtagswahlen in NRW, auf 56,7%.[9]

Der Regierungswechsel zu Rüttgers 2005 verdankte sich weniger den nochmaligen, relativ geringen Stimmenverlusten der SPD, sondern die Fähigkeit der CDU, etwa 1 Million Wähler/-innen hinzuzugewinnen – die Wahlbeteiligung war auf 63% gestiegen. Die schwarz-gelbe Landesregierung entstand auf dem Feld des Überdrusses an sozialdemokratischer Regierungstätigkeit. Wahlenthaltung war in Abwahl umgeschlagen.[10]

Dennoch werden Wahlergebnisse über 40% für CDU oder SPD die Ausnahme bleiben, wie der Urnengang vom 09. Mai 2010 zeigte.[11] Vielmehr entsteht eine gewisse Egalisierung zwischen den großen und den kleinen Parteien, bei weiterhin erheblichem Abstand zwischen SPD und CDU einerseits und den zwei bis vier Parteien, bestehend aus FDP, Grünen und LINKEN andererseits, von denen nicht alle im Landtag vertreten sein müssen, die jedoch über Bundestags- und Europawahlen sowie eingeschränkt bei Kommunalwahlen am Parteienwettbewerb teilnehmen werden. Während sich die Piratenpartei als parteipolitische Fußnote darstellt, wird mit der AfD in NRW auch langfristig zu rechnen sein.


[1] Vgl. „Das große Zittern vor der kleinen Bundestagswahl“, BILD vom 08.05.2010; „Eine kleine Bundestagswahl an Rhein und Ruhr“, Hamburger Abendblatt vom 08.05.2010; „Die kleine Bundestagswahl?“, RP-online vom 08.05.2010 aber auch Ursula Feist / Hans-Jürgen Hoffmann 2001, Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 14. Mai 2000: Gelbe Karte für rot-grün, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen Heft 1/2001, S. 124 m.w.N.

[2] Vgl. Uwe Kranenpohl 2008, Das Parteiensystem Nordrhein-Westfalens, in: Uwe Jun / Melanie Haas / Oskar Niedermayer (Hrsg.), Parteien und Parteiensysteme in den deutschen Ländern, Wiesbaden, S. 315-339; Karl-Rudolf Korte / Martin Florack / Timo Grunden 2006, Regieren in Nordrhein-Westfalen. Strukturen, Stile und Entscheidungen 1990 bis 2006, Wiesbaden, S. 39ff.

[3] Korte et al, S. 40.

[4] Kranenpohl setzt den Zeitraum der SPD-Hegemonie zwischen 1985 und 2000 an, während diese bei Korte et al bereits mit der knapp errungenen SPD-Alleinregierung 1980 beginnt und bereits 1995 mit dem Eintritt der Grünen in die Landesregierung endet. Diese Sichtweise wird auch in der vorliegenden Darstellung vertreten.

[5] Kranenpohl, S. 316 sowie Korte et al, S. 47ff.

[6] Kranenpohl, S. 316f. sowie Korte et al, S. 51f.

[7] Kranenpohl, S. 317 sowie Korte et al, S. 52f.

[8] Rainer Burger 2010, Arbeit am Mythos der Anderen, in: http://www.faz.net.

[9] Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann 2001, Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 14. Mai 2000: Gelbe Karte für Rot-Grün, in: ZParl Heft 1/2001, S. 124-145.

[10] Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann 2006, Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 22. Mai 2005: Schwarz-Gelb löst Rot-Grün ab, in: ZParl Heft 1/2006, S. 163-182.

[11] Ursula Feist/Hans-Jürgen Hoffmann 2010, Die nordrhein-westfälische Landtagswahl vom 9. Mai 2010: Vom Abwarten zur Kehrtwende, in: ZParl Heft 4/2010, S. 766-787.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

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