Glaubwürdigkeit statt taktischer Spiele

Thüringen Nach der Landtagswahl müssen die Parteien eigene Erkennbarkeit und lagerübergreifende Kompromissbereitschaft zu kombinieren lernen. Dazu ist die CDU noch nicht bereit

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Quo vadis, Mike?
Quo vadis, Mike?

Foto: Carsten Koall/Getty Images

Für Mike Mohring, Spitzenkandidat der Thüringer CDU und Herausforderer des linken Thüringer Ministerpräsidenten, Bodo Ramelow, brach am Wahlabend eine Welt zusammen. Diejenige Welt, in der die Bildung der Rot-Rot-Grünen Koalition 2014 und die Übernahme der Staatskanzlei durch DIE LINKE ein historischer Betriebsunfall war. Eine Fußnote in der Landesgeschichte, die korrigiert werden würde. Spätestens über die Wiederherstellung christdemokratischer Normalität durch Mohrings Einzug in die Erfurter Regierungsstraße 73.

Dass das Amt des Ministerpräsidenten Mohrings Lebenstraum war weiß jeder, der ihn im politischen Leben des Freistaates beobachtet. Diesem Ziel ordnete er nicht nur sich selbst und sein Leben unter sondern auch die Strukturen der Thüringer CDU in Partei und Fraktion. Man muss dies wissen, um zu verstehen, warum Mohring - trotz des historisch schlechtesten Wahlergebnisses der Thüringer CDU - weiterhin der festen Überzeugung zu sein scheint, er hätte von den Wählerinnen und Wählern einen Regierungsauftrag erhalten.

Organisationen, in denen kompetitive Auswahlverfahren ersetzt werden durch ausschließliche Orientierung auf eine einzige Führungsfigur, geraten dann in die Schieflage, wenn die Führungsfigur das Versprechen einer besseren Zukunft nicht einhalten kann oder will. Dies ist in der Thüringer Union seit dem 27. Oktober 2019 um 18 Uhr zu besichtigen. Mit der Veröffentlichung der ersten Hochrechnung knirschte es vernehmlich in der fragilen Stabilität der von notorischen Machtkonflikten geplagten Thüringer CDU.

Diese sah sich gern als Staatspartei. Davon konnte vielleicht die Rede sein, als Bernhard Vogel 1999 mit 51,0 Prozent eine Alleinregierung bilden konnte. Fünf Jahre später rutschte die CDU auf 43 Prozent ab und konnte die absolute Mehrheit nur dadurch halten, weil sie im Drei-Parteien-Parlament mit 45 Sitzen exakt das notwendige Mehrheitsquorum erfüllte. Dennoch verglichen sich die Thüringer Christdemokraten gern mit den bayerischen Christsozialen oder mit der lange Zeit erfolgsverwöhnten sächsischen Union. Teure Spektakel wie die Jahresempfänge der Fraktion, bei denen mehrere tausend Mitglieder die Stärke der Christdemokratie beweisen sollten, waren der Ersatz für tatsächlich schwindenden Einfluss.

Denn die Realität war die politische Farbenlehre Thüringens viel bunter als in Bayern oder Sachsen. Auf kommunaler Ebene hatte die Thüringer CDU bei Landrät*innen und in den kreisfreien Städten nie die Dominanz der sächsischen CDU. Regierungsmehrheiten jenseits der CDU, die bereits 1994 aber auch 2009 möglich waren, scheiterten am damaligen Unwillen der SPD zur Kooperation mit der PDS.

Seit 2014 regiert im Land nun ein Bündnis aus LINKEN, SPD und Grünen. Von den 17 Landrät*innen stellt die CDU gerade knapp die Hälfte, von den Oberbürgerbürgermeister*innen der sechs kreisfreien Städte nur ein Drittel. Mit dem Erstarken der AfD verlor die CDU zudem Wahlkreise in Regionen, die bislang als verlässlich christdemokratisch galten.

Auf den angemessenen Umgang mit einem solchen Wahldebakel ist die Mohring-CDU nicht vorbereitet. Alle seit dem Wahlsonntag unternommenen Schritte und Äußerungen aus der thüringischen Christdemokratie weisen auf das Fehlen eines strategisch handlungsfähigen Zentrums hin.

Der Landes- und Fraktionsvorsitzende wankt wie ein angeschlagener Boxer – durchaus noch in der Lage einen erfolgreichen Schlag zu vollbringen. Doch mehr aus Reflex, nicht aus taktischer Finesse oder strategischer Weitsicht. Er handelt weitgehend allein und unabgestimmt, weil er nur Wenigen vertraut und in den vergangenen Jahren zu viele Parteigänger vor den Kopf stieß. Sein Auftritt in der Sendung Lanz wenige Tage nach der Wahl düpierte, so ist in den sozialen Netzwerken zu lesen, sowohl Partner in der Partei aber auch diejenigen, die er für eigene Machtoptionen bräuchte. Angesichts dessen werden innerparteiliche Stimmen laut, die seine Autorität in Frage stellen. Auch wenn derzeit noch niemand bereit zu sein scheint, Mohring offensiv herauszufordern, solange die Mehrheitsverhältnisse ungeklärt sind. Entsprechend erratisch ist das Vorgehen der Landes-CDU, wo Klarheit im Denken und Handeln gebraucht würde.

Von „israelischer Lösung“ über „Simbabwe-Koalition“ bis zu verdeckter AfD-Hilfe

Lassen wir vor diesem Hintergrund die bisherigen Äußerungen und damit angestrebten Maßnahmen Mohrings Revue passieren:

Am Montag nach der Wahl fuhr Mohring zur Wahlauswertung nach Berlin. Erst seit einiger Zeit gehört er, nach langem Hinarbeiten auf dieses Ziel, dem Parteipräsidium der Christdemokraten an. Neben vorab via "Morgenmagazin" u.a. Sendungen geäußerter Kritik an der Bundespartei, die er für das Wahlergebnis maßgeblich verantwortlich machte, forderte er „grünes Licht“ für Verhandlungen mit der Linkspartei über die Bildung einer Landesregierung.

Seine Überlegungen gingen vermutlich dahin, Bodo Ramelow im Gegenzug für die Bildung einer mit parlamentarischer Mehrheit ausgestatteten Koalition, die „israelische Lösung“ anzubieten. Gemeint ist damit, dass zur Mitte der Wahlperiode das Ministerpräsidentenamt zwischen Ramelow und Mohring wechseln würde. Es darf angenommen werden, dass Mohring den zweiten Teil der Wahlperiode hätte regieren wollen, um aus dem Amt heraus in die kommende Landtagswahl zu gehen.

Die Bundespartei war - ob über diese Überlegungen im Detail informiert oder nicht - freilich nicht bereit, Mohring für solcherart Gespräche freie Hand zu gewähren. Mehr noch als die Bundesgremien wies ihn jedoch der eigene Landesvorstand in die Schranken. Koalitions- oder Tolerierungsverhandlungen mit der LINKEN sollen ausgeschlossen bleiben. So wirkte Mohring am Montagabend wie jemand, der sich vergeblich die Erlaubnis für eine Verlobung erbeten hatte, deshalb dem Auserwählten nun nicht einmal mehr ein Date zugestehen wollte, sondern ihn stattdessen der Zechprellerei bezichtigt. Verlässlichkeit und Souveränität sieht anders aus.

Aus der Not eine Tugend machend, strebt Mohring nunmehr die Bildung einer sogenannten „Simbabwe-Koalition“ an. Der Name für ein solches Bündnis aus CDU, SPD, FDP und Grünen entstammt der Flagge des südafrikanischen Staates. SPD und Grüne haben bereits deutlich gemacht, dass sie zwar für Gespräche mit der CDU und den Liberalen zur Verfügung stehen, nicht jedoch für die Bildung einer gemeinsamen Minderheitsregierung.

Eine solche Koalition hätte weniger Sitze als die von den drei bisherigen Regierungsparteien vorgesehene rot-rot-grüne Minderheitsregierung. Simbabwe wäre deshalb auf die Unterstützung der Linkspartei oder der AfD angewiesen. Ein solches Bündnis anzustreben, obwohl auf der Hand liegt, dass es nicht zustande kommt, ist dennoch weniger hilflos als man glauben mag. Es zeigt sich darin die reflexhafte Zielsicherheit des politischen Spielers Mohring.

Das Narrativ des Thüringer CDU-Wahlkampfes 2019 bestand aus der Behauptung, die Thüringer Gesellschaft würde an den Rändern der politischen Extreme von links und rechts auseinanderfallen. Deshalb bräuchte es eine starke bürgerliche Mitte, die in der Lage sei, das Land zusammenzuhalten. Diese Behauptung greift der Ostbeauftragte der Bundesregierung, der Thüringer Bundestagsabgeordnete Christian Hirte, auf, wenn er gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland ausführt: „Die CDU war eine der beiden Parteien, die mit einem Ministerpräsidenten-Kandidaten in den Wahlkampf gegangen sind. Dieses Angebot sollten wir im Parlament aufrechterhalten: Mike Mohring sollte dort zur Wahl antreten. […] Weil keine politische Gruppierung eine Mehrheit hat, werden Gesetzesvorhaben von Fall zu Fall besprochen und entschieden werden müssen. Die CDU als stärkste Kraft der bürgerlichen Mitte sollte hier eine Initiativrolle übernehmen.“

Die CDU rechnet offenbar damit, dass DIE LINKE – würde die Idee einer von Mohring geführten Landesregierung aufgehen – bereit sein könnte, eine solche Regierung sachbezogen schon deshalb zu unterstützen, weil sie verhindern wollen würde, dass diese Regierung sich auf die Unterstützung der AfD stützt. Damit sind wir beim Kern der sogenannten Simbabw-Option. Gerade weil Mike Mohring wissen muss, dass SPD und Grüne für ein solches Bündnis nicht zur Verfügung stehen, verfolgt das Vorgehen offenbar zwei andere machtpolitische Ziele.

Das erste Ziel ist innerparteilich motiviert und orientiert darauf, Mohring Luft zu verschaffen. Kommenden Mittwoch konstituiert sich die CDU-Landtagsfraktion. Solange Mohring Gespräche mit SPD, FDP und Grünen führt, wird er von seiner Fraktion Loyalität und Rückendeckung einfordern. Und sich deshalb erneut als Fraktionsvorsitzenden wählen lassen. Würden SPD und Grüne bereits vorher Gespräche über eine Simbabwe-Koalition offensiv ablehnen, würde eine Wiederwahl erheblich schwerer werden und könnte die Gefahr von Gegenkandidaturen steigen.

Das zweite Ziel orientiert offenbar auf eine Wahl zum Ministerpräsidenten mit verdeckter Unterstützung der AfD. Dies würde wie folgt geschehen: In einem dritten Wahlgang zur Bestimmung des Ministerpräsidenten benötigen die jeweiligen Kandidaten in Thüringen nur die einfache Mehrheit abgegebener Ja-Stimmen. Die Nein-Stimmen und Enthaltungen werden ausweislich eines vom Parteienrechtler Morlok erstellten Gutachtens in die Ergebnisermittlung nicht mehr einbezogen. Ramelow könnte sich nach dieser Logik auf die Zustimmung der 42 Abgeordneten von LINKEN, SPD und Grünen stützen. Mohring würde seinerseits die 26 Stimmen von CDU und FDP erhalten sowie die Stimmen der AfD. Denn bei aller unterschiedslosen Kritik der AfD an den vermeintlichen "Altparteien" dürfte es auch Höcke & Co. lieber sein, Mohring zu wählen, wenn dadurch Ramelow gestürzt würde.

Da es sich um eine geheime Wahl handelt, würde Mohring nach erfolgreicher Wahl darauf beharren, dass eine Unterstützung der AfD nicht nachgewiesen werden könne, sondern nur von einschlägiger Seite behauptet würde. Es sei im Gegenzug seinen erfolgreichen Gesprächen mit SPD und Grünen zu verdanken, dass diejenigen sozialdemokratischen und grünen Abgeordneten für ihn gestimmt hätten, denen – trotz anderslautender Partei-Beschlüsse – eine „bürgerliche Regierung“ lieber sei als die Fortsetzung der rot-rot-grünen Minderheitsregierung.

Selbstverständlich würde dieser Plan nur dann aufgehen, wenn tatsächlich alle christdemokratischen und liberalen Landtagsabgeordneten bereit wären, für den Sturz Ramelows die verdeckte Unterstützung der Höcke-AfD anzunehmen. Erinnert sei daran, dass Mohring bereits 2014 mit Björn Höcke über eine Zusammenarbeit zur Verhinderung Ramelows Gespräche geführt hatte. Mohring scheint darauf zu vertrauen, dass zumindest derzeit kein CDU-Abgeordneter bereit ist, sich ihm in den Weg zu stellen. Denn gegen Mohrings Wahlantritt zu sprechen, würde im Umkehrschluss bedeuten, dass ein oder mehrere der CDU-Abgeordneten, die alle direkt gewählt wurden, implizit den Weg für Ramelows Wiederwahl als Ministerpräsident frei macht. Dies setzt Courage voraus, die nicht selbstverständlich ist.

So oder so spielt Mohring mit den Resten christdemokratischer Stabilität. Nicht auszuschließen ist, dass die Thüringer CDU das gleiche Schicksal erleidet wie die CDU in Rheinland-Pfalz nach dem Sturz von Bernhard Vogel, der es seitdem nicht mehr gelang, der SPD die Staatskanzlei in Mainz wieder abzunehmen.

Abgrenzung der CDU von LINKEN und AfD muss nicht zwingend Gleichsetzung bedeuten

Das Spiel Mohrings mit mehreren Unbekannten ist in jeder Hinsicht riskant. Es offenbart erneut die bereits betonte Seite als politischer Spieler auf Kosten von Authentizität und Glaubwürdigkeit. Es hat Gründe, warum in den Persönlichkeitswerten, die im Umfeld der Landtagswahl 2019 gemessen wurden, Mohring stets hinter Ramelow lag. Beim Faktor „Führungsstärke“ schnitt Ramelow - bei Infratest dimap - um 35 Prozentpunkte besser als Mohring ab (55 Prozent zu 20 Prozent). Beim Faktor „Glaubwürdigkeit“ lag der Amtsinhaber um 29 Prozentpunkte vor dem Herausforderer (51 Prozent zu 22 Prozent).

Dennoch gibt es eine gewisse Chance, dass der Plan aufgeht und Mohring mit verdeckter Unterstützung der AfD ein schwarz-gelbes Minderheitskabinett bildet. Für die von extrem rechts ins Amt gehievte „bürgerliche Mitte“, die auf diese Art ihre Unschuld verlöre, würde Mohring dann die Unterstützung von Grünen, SPD und LINKEN einfordern, damit die AfD außen vor bliebe. Und die rot-rot-grünen Parteien könnten gar nicht anders als mitzuspielen.

Der Preis dafür wäre der Verlust von Glaubwürdigkeit und die komplette Ignoranz des Wähler*innenwillens, der Ramelow eindeutig als Ministerpräsidenten wünscht. Björn Höcke wäre zum Makler der Macht geadelt. Kurzum: ein solches Vorgehen wäre das Gegenteil von Bernard Vogels legendärem Grundsatz: „Erst das Land, dann die Partei“.

Die zu erwartenden politischen Eruptionen würden einem Erdbeben gleich weit über Thüringen hinaus spürbar sein. Sie könnten den Bestand der Großen Koalition im Bund gefährden. Gerade angesichts der kommenden Bundesparteitagen der SPD und der CDU in den nächsten Wochen.

Kommen wir also noch einmal auf Christian Hirte zurück: „Wir stehen vor einer Situation, in der die etablierten Regierungsmodelle nicht mehr funktionieren. Die nächste Thüringer Regierung kann sich nicht auf eine parlamentarische Mehrheit stützen. Daher ist es notwendig, offen für ungewöhnliche Konstellationen zu sein. Ausgeschlossen sind dabei für die CDU eine Koalition mit der oder eine Duldung der Linkspartei oder der AfD.“

Angesichts von christdemokratischen Evergreens wie „Freiheit statt Sozialismus“ und Rote-Socken-Kampagnen einerseits sowie Halluzinationen wie dem Auseinanderfallen Thüringens an den extremen von links und rechts andererseits, interpretiert die Linkspartei den Abgrenzungsbeschluss des Hamburger CDU-Parteitags stets als Gleichsetzung der LINKEN mit der AfD. Dies ist zwar nicht ganz von der Hand zu weisen. Dennoch ist auch eine andere Lesart denkbar.

Denkbar ist, dass aufgeklärte Christdemokrat*innen eine differenzierte Abgrenzung gegenüber LINKEN und der AfD vornehmen:

a) Eine Koalition mit der LINKEN oder die Tolerierung einer von ihr geführten Landesregierung kommt deshalb nicht infrage, weil Christdemokrat*innen weder mit demokratischen Sozialist*innen koalieren noch eine von der LINKEN geführte Landesregierung institutionell tolerieren können. Unabhängig davon kann jedoch eine sachbezogene Zusammenarbeit durchaus vorstellbar sein. Freilich in einer Form, die der CDU die Möglichkeit der Erkennbarkeit und Glaubwürdigkeit garantiert und sie nicht in einen Sog geraten lässt, in dem ein extrem populärer Ministerpräsident Ramelow quasi als „Volkspräsident Ramelow“ ein Allparteien-Koalition anführt.

Der Preis für eine handlungsfähige rot-rot-grüne Minderheitsregierung wären also temporäre, auch mal schmerzhafte Niederlagen im Parlament. Die Basis der temporären Zusammenarbeit wären ein eher offenes Arbeitsprogramm für Thüringen seitens Rot-Rot-Grün statt des klassischen Koalitionsvertrags und ein grundsätzlich zu verabredendes Fairness-Abkommen mit den beiden Oppositionsparteien CDU und FDP.

b) Die AfD hingegen ist insbesondere unter der Führung von Bernd Höcke aber auch mit neu gewählten Abgeordneten wie dem Strippenzieher im Netzwerk der an Alain de Benoist, José Antonio Primo de Rivera u.a. geschulten Neuen Rechten, Torben Braga, eine Partei, die gewillt ist, die freiheitlich-demokratische Grundordnung und die sie prägenden Verfassungsinstitutionen bzw. Säulen, darunter die freie Presse, aktiv zu überwinden. Die Abgrenzung zu ihr auf Landesebene hätte in der beschriebenen Lesart aufgeklärter Christdemokrat*innen eine gänzlich andere Qualität.

Solche Christdemokrat*innen, die auch in der Thüringer CDU vermutet werden können, würden – so bliebe zu hoffen – einen Weg wie den einer von Mohring angestrebten verdeckten Wahlhilfe durch die AfD nicht beschreiten. Sie würden ihn verschließen. Denn die AfD ist - anders als die Freien Wähler - in Brandenburg oder Bayern nicht das Alter Ego der Union. Während in Bayern die CSU quasi mit sich selbst - vor 15 oder 20 Jahren - koaliert, ist die AfD in Thüringen ein Scharnier zur extremen Rechten.

Glaubwürdigkeit als wichtigste Währung

Um auf die neuen, unübersichtlicher gewordenen Thüringer Verhältnisse zu reagieren, braucht es zunächst nicht mehr als demokratische Vernunft, parteipolitische Gelassenheit und Vertrauen, auch über Grenzen von Parteien und Lagern hinweg Lösungen in Sachfragen zu finden.

Für alle Parteien ist Glaubwürdigkeit die wichtigste Währung der kommenden Jahre. Deshalb spricht viel dafür, dass zwar mehr als zwei Drittel sowohl der Thüringer*innen insgesamt als auch der Thüringer CDU-Wähler*innen die Gesprächsverweigerung der CDU mit der LINKEN als falsch bewerten und sich eine Zusammenarbeit vorstellen können – diese Zusammenarbeit muss jedoch nicht zwingend eine Koalition bedeuten. Denn nicht gefragt wurde nach dem Wert von parteipolitischer Erkennbarkeit im Verhältnis zur Fähigkeit demokratischer Parteien, miteinander zu kooperieren.

Sowohl DIE LINKE als auch deren beide Koalitionsparteien SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN müssen – gerade in einer Minderheitsregierung und bei einem sehr präsenten Ministerpräsidenten - das Prinzip der Augenhöhe und jeweiligen politischen Erkennbarkeit beherzigen. Die drei ostdeutschen Wahlen haben bewiesen, wie schwer es für kleinere Parteien in einer polarisierten Debatte wird, Erkennbarkeit und politischen Gebrauchswert zu beweisen.

Die mit nur wenig Wähler*innen-Stimmen mehr als notwendig im Landtag Thüringen vertretene FDP ist dringend darauf angewiesen, ihren Gebrauchswert zu beweisen. Die vom Spitzenkandidaten eingenommene Position, sich im Wahlkampf als Sargnagel Ramelows einen Gebrauchswert zu verschaffen, war – zumindest vorläufig - erfolgreich. Der FDP-Frontmann Thomas L. Kemmerich wird als Wirtschaftsliberaler aus Überzeugung nicht mit dem LINKEN Ramelow koalieren. Es liegt deshalb auf der Hand, dass er sich gemäß Lindners Motto „Es ist besser, nicht zu regieren als falsch zu regieren“ einer Tolerierung oder Koalition mit Rot-Rot-Grün verweigern wird. Dennoch muss auch er für die FDP Erfolge nach Hause bringen. Die würden in sachbezogener Zusammenarbeit mit einem Minderheitenkabinett Ramelow eher erreichbar sein als fünf Jahre auf erfolglose Opposition gebongt zu sein. Die Minderheitsregierung ist für eine Partei wie die FDP insoweit sogar eine Chance.

Für die CDU, ob unter Mike Mohring oder nach seiner Ablösung durch dessen Nachfolger, gilt das für die FDP Beschriebene ebenso: Sachbezogene Zusammenarbeit bei wahrnehmbarer politischer Eigenständigkeit. Dies bietet die Gelegenheit, sukzessive Vertrauen innerhalb der christdemokratischen Milieus zurückzugewinnen. Gerade bei denen, die sich bei der Landtagswahl 2019 zu einem erheblichen Teil für Ramelow entschieden hatten. Gefährliche Taschenspielertricks hingegen, wie diejenigen, die Mike Mohring derzeit anstrebt, wären das Gegenteil einer solchen christdemokratischen Glaubwürdigkeitsstrategie.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

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