Unrechtsstaat DDR?

Thüringen In den Rot-Rot-Grünen Sondierungsgesprächen wurde ein Papier beschlossen, das die DDR als Unrechtsstaat benennt. Wie zu erwarten war, führt dies zu Kritik

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Unrechtsstaat DDR?

Foto: Jens Schlueter/AFP/Getty Images

Am 10. September 1989 veröffentlichte das Neue Forum in der DDR unter dem Titel "Aufbruch 1989" den zunächst von 30 Bürgerrechtler/-innen und bis Jahresende von 200.000 DDR-Bürgern unterzeichneten Gründungsaufruf.

Der Zulassungsantrag wurde 11 Tage später von den DDR-Behörden mit der Begründung abgelehnt, das Neue Forum sei eine »staatsfeindliche« Bewegung.

Fast auf den Tag genau 25 Jahre später, am 23. September 2014 trafen sich Vertreterinnen und Vertreter der Partei DIE LINKE, der SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN in Erfurt zur zweiten Sondierungsrunde über die Bildung einer rot-rot-grünen Landesregierung, mit der die CDU erstmals seit 1990 in die Opposition entsendet und der demokratischen Normalität des Regierungswechsels auch in Thüringen zur Durchsetzung verholfen würde.

In allen bisherigen Koalitionsvereinbarungen zwischen der PDS (später DIE LINKE) und der SPD war die Verständigung über einen angemessenen Umgang mit der DDR ein unverzichtbarer Beitrag zur Herstellung von Vertrauen und Verlässlichkeit zwischen den Parteien.

Deutliche Sprache in früheren Koalitionsverträgen

Gerade in der durch die Mauer geteilten Stadt Berlin stellte das 2002 gebildete Regierungsbündnis aus SPD und PDS einen Tabubruch dar. SED-Opferverbände sowie vormals verfolgte Sozialdemokraten im Ost- und Westteil der Stadt protestierten gegen diese Zusammenarbeit.

In der damaligen Koalitionsvereinbarung verständigten sich beide Parteien auf eine eindeutige Haltung sowohl zum Mauerbau als auch den unmenschlichen Folgen der auf DDR-Seite erfolgten Sicherungsmaßnahmen:

"Die 1961 von den Machthabern der DDR und der Sowjetunion errichtete Mauer vollendete und zementierte die Teilung und die Einordnung der Stadthälften in politisch gegensätzliche Systeme. Die Berliner Mauer wurde aber nicht nur weltweit zum Symbol der Blockkonfrontation und des Kalten Krieges, sondern vor allem zu einem Symbol für Totalitarismus und Menschenverachtung. Die Schüsse an der Berliner Mauer haben schweres Leid und Tod über viele Menschen gebracht. Sie waren Ausdruck eines Regimes, das zur eigenen Machtsicherung sogar das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit missachtete. (...) Wenn auch der Kalte Krieg von beiden Seiten geführt wurde, die Verantwortung für dieses Leid lag ausschließlich bei den Machthabern in Ost-Berlin und Moskau."

Doch auch dem besonderen Verhältnis zwischen den beiden aus der Arbeiter/-innenbewegung entstandenen Parteien widmeten SPD und PDS in Berlin 2002 in der Präambel des Koalitionsvertrages eine die Verantwortung der SED und der Sowjetunion klar benennende Passage:

"Wenn SPD und PDS jetzt eine Koalition eingehen, so sind sie sich der Verantwortung bewusst, die mit diesem Schritt verbunden ist. Die Erfahrung des Sieges des Faschismus über die gespaltene Arbeiterbewegung führte in Teilen der Mitgliedschaft von SPD und KPD nach 1945 zum Wunsch nach Vereinigung. Dieser Wunsch wurde missbraucht zu einer Zwangsvereinigung, ohne freie Entscheidung insbesondere der Mitglieder der SPD, die sich im Westteil der Stadt in einer Urabstimmung gegen die Vereinigung aussprachen und die im Ostteil an der freien Abstimmung gehindert wurden. Von vornherein beabsichtigte die KPD-Führung, nach der Vereinigung alles sozialdemokratische Gedankengut aus der SED zu verbannen. Für die Verfolgung von Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten und anderen Teilen der demokratischen Opposition, für deren Inhaftierung unter menschenunwürdigen Bedingungen bis hin zum Tod und für die Hinrichtungen Andersdenkender trägt die SED eine bleibende Schuld. Zusammen mit den damaligen Entscheidungsträgern in der Sowjetunion ist sie verantwortlich für die gewaltsame Niederschlagung des Volksaufstandes in der DDR am 17. Juni 1953, den Mauerbau und zahlreiche Menschenrechtsverletzungen, mithin für das Fehlen grundlegender demokratischer und Freiheitsrechte in der DDR."

In der 2009 verabschiedeten rot-roten Koalitionsvereinbarung in Brandenburg fasste die Linkspartei, zwanzig Jahre nach der Wende, eine faktische Verneigung vor der DDR-Bürgerrechtsbewegung in folgende Worte, die Teil der Präambel wurden:

"(...) Die ostdeutsche Friedensbewegung und die ostdeutschen Bürgerbewegungen sowie die Arbeit der 1989 wiedergegründeten, zuvor von der SED seit 1946 unterdrückten und verfolgten Sozialdemokratie haben zur positiven Entwicklung unseres Landes entscheidend beigetragen. Erst die Volksbewegung des Herbstes 1989 in der DDR machte es möglich, dass aus der SED heraus der Aufbruch zu einer demokratischen Partei im pluralistischen Wettstreit mit anderen Parteien erfolgen konnte".

Nicht zuletzt aus der Präambel zum Berliner Koalitionsvertrag entstand einige Jahre später das vom PDS-Kultursenator Thomas Flierl verantwortete Gedenkkonzept Berliner Mauer. Es sorgte dafür, dass die Erinnerung an die Teilung der Stadt nicht vollständig ökonomischen Verwertungsinteressen der Bauwirtschaft an der Vermarktung innerstädtischer Flächen des ehemaligen Mauerstreifens unterlag und bezog in die Konzeptionierung die SED-Opferverbände ein.

Umstrittener Unrechtsstaats-Begriff

Wenn nun in Thüringen erstmals eine Regierung aus der Linkspartei, der SPD und den Grünen gebildet werden könnte, in der DIE LINKE mit Bodo Ramelow den Ministerpräsidenten stellt, lag es nahe, dass beide aus der DDR-Bürgerbewegung entstandenen Parteien denjenigen potenziellen Regierungspartner, der aus der SED-Nachfolgepartei PDS hervorging, daraufhin befragen würden, ob hinsichtlich der Bewertung historischer Ereignisse und Prozesse ausreichende Gemeinsamkeiten bestehen.

Bei den dazu geführten Gesprächen in der ersten und zweiten Sondierungsrunde konnten die beteiligten Akteure auf einer bereits vor fünf Jahren erreichten Grundlage aufbauen.

Die 2009er Sondierungsgespräche zwischen den rot-rot-grünen Parteien führten zwar nicht zu einer gemeinsamen Regierung, dennoch wurde unter anderem ein Papier unter der Überschrift »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte« verabschiedet.

Das Papier, maßgeblich formuliert vom linken Spitzenmann Bodo Ramelow und der einflussreichen grünen Parteilinken Astrid Rothe-Beinlich, entstand damals unter großem Zeitdruck und geriet im Zuge der gescheiterten Sondierungen schnell ins Vergessen.

In diesem Papier, das den jeweiligen Vorständen der beteiligten Parteien vorlag, wurde unter anderem ausgeführt, dass vor "einer Aufarbeitung in die Gesellschaft hinein (...) das Bekenntnis zur DDR als einem Staat stehen (muss), der eine Diktatur war, der nicht nur kein Rechtsstaat war, sondern ein Willkürstaat, der in der Konsequenz Unrechtsstaat genannt werden muss."

An diesem Ausgangspunkt knüpften die Verhandlungsakteure der drei Mitte-Links-Parteien in Thüringen an. Dennoch zeigt ein Vergleich der beiden Papiere eine erhebliche Veränderung des Diskurses, ohne die Konsequenz der Aussage in Abrede zu stellen.

Bereits der 2009 verwendete Unrechtsstaats-Begriff war weit davon entfernt, denjenigen Intentionen Rechnung zu tragen, die unter Zugrundelegung der Totalitarismustheorie, den Unrechtsstaatsbegriff zu einer Gleichsetzung von DDR und Nationalsozialismus verwenden.

Da der Begriff »Unrechtsstaat« in der politischen Debatte der vergangenen zwanzig Jahre oft als Instrument eingesetzt wurde, dadurch Mehrdeutigkeiten unterlag, gab und gibt es Kritik daran, ihn zu verwenden. Sie reicht von Gregor Gysi über Friedrich Schorlemmer bis zu Gesine Schwan.

Dem trägt die Thüringer Erklärung des Jahres 2014 insoweit Rechnung, als auf Bekenntnisse verzichtet, vielmehr diejenigen Aspekte benannt werden, die Merkmale fehlender Rechtsstaatlichkeit sind: die Abwesenheit freier Wahlen als Grundlage demokratischer Legitimation staatlichen Handelns, politische Willkür im staatlichen und behördlichen Handeln und eine politische Justiz, die dem Einzelnen weder Verfahrensgerechtigkeit noch -gleichheit gewährte.

Das tatsächlich spannende an der Erklärung von 2014 ist zweierlei. Zum einen einigten sich die Parteien auf konkrete Projekte der Förderung der Aufarbeitung der Geschichte der DDR-Diktatur. Darunter einiges, das von der bisher ununterbrochen seit 1990 regierenden CDU 25 Jahre lang vernachlässigt wurde, wie z.B. die institutionalisierte wissenschaftliche Aufarbeitung im Freistaat.

Zum anderen zeugt die seit der Veröffentlichung der Ergebnisse geführte Debatte für ein Verständnis davon, dass die Feststellung, der Begriff Unrechtsstaat sei durchaus für einige auch ein politischer Kampfbegriff, nicht logischerweise eine Relativierung von DDR-Unrecht bedeutet.

Die drei Mitte-Links-Parteien haben vielmehr in einer politischen Erklärung, die naturgemäß kein umfangreicher wissenschaftlicher Text ist, eine bestimmte Art eines staatlichen Regimes begrifflich gekennzeichnet, "das sich vom Gegenmodell des Rechtsstaats, aber auch von dem Zwischentypus des Nicht-Rechtsstaats grundsätzlich abhebt" (Holtmann 2010).

Furcht vor Entwertung individueller Lebensleistung

Wäre es bereits 2009 zu einem Mitte-Links-Bündnis in Thüringen gekommen, hätte die einvernehmliche Verwendung des Begriffs »Unrechtsstaat« bei der Beschreibung der DDR sicherlich damals schon eine große Öffentlichkeit erfahren.

Nun führt mit rund fünfjähriger Verspätung die gemeinsame Verständigung sowohl über eine rückblickende Bewertung der DDR als auch zukünftige Vorhaben in der Geschichts- und Gedenkpolitik des Freistaates zu großer medialer Aufmerksamkeit und innerhalb der Partei DIE LINKE zum Aufleben einer Debatte, die es bereits 2002 anhand des Berliner Koalitionsvertrages gab.

Das Spektrum der Kritik an den betreffenden Passagen der damaligen Präambel reichte von der Kommunistischen Plattform in der PDS, die vermeintlichen Geschichtsrevisionismus anklagte, bis zu Autoren in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, die in der Anerkennung von Schuld durch die PDS "die imperiale Verachtung der PDS für die bürgerliche Moral" zu erkennen glaubte.

Rund zwölf Jahre später kritisiert der Redakteur der Tageszeitung Neues Deutschland, Uwe Kalbe, die Thüringer Erklärung als "bigotte Geste" und Bestätigung aller Vorurteile, was ihre (die Linkspartei - BIH) Bereitschaft angeht, Prinzipien für Macht zu opfern", während der ehemalige Thüringer SPD-Landeschef Gerd Schuchardt gegenüber der Thüringer Allgemeinen (TA) die Auffassung vertritt, es ginge der Linkspartei als SED-Nachfolger nur darum ginge, an die Macht zu kommen.

Diese Positionen spiegeln die zwei weiterhin bestehenden Sichtweisen auf die DDR und DIE LINKE als SED-Nachfolgepartei wieder.

Ein Teil der politischen Meinung wird stets bezweifeln, dass die Linkspartei an einer ernsthaften Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Geschichte interessiert ist und als Beweis dafür die tatsächlich bestehenden Akteure, auch in der Partei DIE LINKE, heranführen, die unter die DDR-Aufarbeitung gern einen Schlussstrich ziehen würden.

Ein anderer Teil in der Bevölkerung Ostdeutschlands befürchtet, die politische Bewertung der DDR-Diktatur sei gleichbedeutend mit einer Entwertung der individuellen Lebensleistung und Biographien der Bürgerinnen und Bürger in der DDR. Die aktuell vom MDR durchgeführte, nicht-repräsentative Online-Befragung, bei der sich über 3.600 Personen beteiligten, zur Meinung über den Begriff Unrechtsstaat, zeugen davon.

Der Hallenser Politikwissenschaftler Holtmann führte dazu bereits 2010 aus: "Wahr ist eben auch: Die DDR wurde von den meisten ihrer Bürger als ein Despotismus mit fürsorglichem Antlitz erfahren. In der Rückerinnerung verstärkt sich dieser Eindruck noch, weil die Lebensbedingungen im geeinten Deutschland jene staatlich garantierte Rundumversorgung im Bereich Arbeit und soziale Sicherung eben nicht mehr vorhalten. Im ganz persönlichen Vergleich der Systeme schneidet die DDR daher, was ihre sozialen Seiten betrifft, in den Augen vieler Ostdeutscher vorteilhaft ab. (...) Persönliche Lebensgeschichte, gesellschaftliches Leben und Staatstätigkeit schieben sich in der heutigen Wahrnehmung der DDR aus Sicht vieler Ostdeutscher übereinander. Die eigene Biographie wird als ein authentischer und unablösbarer Teil der damaligen Zeiten empfunden. Die DDR einen Unrechtsstaat zu nennen hieße folglich, zugleich individuelle Lebensläufe zu entwerten."

Die Thüringer rot-rot-grünen Sondierungspartner scheinen sich dessen bewusst zu sein, wenn sie explizit formulieren, nicht nur keine Biographie herabwürdigen zu wollen, sondern die Vergangenheit der DDR vielfältig und beispielhaft für die gesamte Bundesrepublik aufarbeiten zu wollen.

Der Autor dieses Textes nimmt an den Sondierungsgesprächen zwischen der Partei DIE LINKE, SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN teil.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin-Immanuel Hoff

Chef der Staatskanzlei @thueringende; Minister für Kultur, Bundes- und Europaangelegenheiten. #r2g Twitter: @BenjaminHoff

Benjamin-Immanuel Hoff

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