Der Berliner Stadtteil Neukölln ist ein ziemlich pulsierender und dynamischer Kiez. Alternative, Künstler, Studenten und vor allem junge Leute ziehts aus Kreuzberg und Friedrichshain zwischen Hasenheide und Maybachufer. Die billigen Mieten locken ebenso wie der Freiraum für Neues und Experimentelles. So eröfnen immer mehr kleine Kneipen und Bars, in denen Filme gezeigt, Lesungen gehalten oder junge Künstler und Bands zwischen Kachelöfen und Kerzen auf Bierkästen sitzend Konzerte geben.
Der hohe Anteil von Migranten aus über 150 Staaten der Erde mit eigenen Zentren, ob Geschäften, Cafés, Shisha-Bars oder Kulturzentren, ist bekannt und wird politisch oft negativ stilisiert, um Stimmung gegen den Islam oder die Migration zu machen.Nicht die Gewalt oder ein Gegeneinander, viel mehr ein Nebeneinander der Nachbarn, der verschieden Subkulturen und Milieus, ist Zeichen unserer Zeit.
Dies bleibt natürlich auch nicht den Gebliebenen, den Zurückgelassenen, den Ur-Neuköllner verborgen. Diese ziehen sich in ihre kleinen Eckkneipen zurück, in denen Billiard und Darten für Zeitvertreib, Berliner Pils zum Frust herunterspülen hilft. Die Stammkneipen wirken wie kleine Wohnzimmer, nach außen mit großen Pflanzen und undurchsichtigen Milchglas abgeschottet, innen hängen kitschige Bilder, Zille-Zeichnungen, Fotos und Bierglassammlungen an den Wänden. Nach den Fussballübertragungen können Männer am Pissoir selbst den Ball ins Netz befördern. Eine Familie, eine andere Welt, wenn man von der Hermannstraßesamt seinen vielen Dönerläden und türkischen Bars diese Fluchtstätten des Alltags aufsucht.
Eine Welt, in der noch geraucht werden kann. Das große Schild „Raucherkneipe“ am Eingang lädt selbstbewusst und kampfbereit dazu ein. Ein Bier im Dunst der Zigarette schafft Rückzug, Geborgenheit und Zusammengehörigkeit. Der Kampf für den Erhalt des Rauchens war groß. Schnell hingen die Unterschriftenlisten für ein Volksbegehren zum Erhalt des Rauchens aus. Entgegen dem Gesundheitsideal und Fitnisswahn wird das Qualmen hier zum Trotz, zu einem Ausdruck des Widerstands, als Sprache des Proletariats. Wer raucht, spricht nicht. Man braucht nicht sprechen. Es gibt nichts mehr zu sagen, zu denken, zu träumen. Hier findet sich nicht das hedonistische, sich immer wieder selbst erfindende Milieu, hier ist das Rückgrat der Gesellschaft zu Hause, jedoch das abgeschriebene und gebrochene.Die Übersehenen, die Überflüssigen und Vergessenen.Ein Spiegelbild unseres Erfolgs.Selten, dass sich hier mal ein Türke oder ein Student hin verliert. Wozu auch, es passiert ja nichts. Was soll auch passieren?
Es wird geraucht. Geraucht gegen die Zeit, als Widerstand.
Kommentare 5
Das Paradies liegt also in Neukölln. Wie genau sind dann die Enwanderungsbedingungen? Nachdem wir ein paar Jahre für die innere Sicherheit geraucht haben , bröckelt nun mit dem Nichtraucherschutzgesetz zwar nicht der Zusammenhalt (im Gegenteil, vor den Türen kommt man sich im Schein des Feuerzeugs schnell näher), dafür fühlen sich all die bestätigt, die gern ungefragt ihre Ratschläge unters Volk streuen und ihren selbstgegebenen Erziehungsauftrag rechthaberisch erfüllen. Der bisher in Fußgängerzonen schon mal einem Radfahrer ihren Stock in die Speichen rammten, würden nun am liebsten jedem Freiluftraucher die Zigarette aus dem Mund schlagen. Sie trauen sich nur noch nicht so nah ran. Weniger das Gesetz ist das Problem, sondern wie die Deutschen damit umgehen. Merkwürdigerweise ertragen sie es ja durchaus, wenn auf ihrer Ferieninsel Mallorca etwa der Aschenbecher neben dem Nichtraucherschild steht. Auf der eigenen Scholle aber, da darf’s nichts Fremdes geben. Denn fremd sind sie: die Tagedieb-Studenten, die lichtscheuen Künstler, die spinnerten Intellektuellen, die in Kneipen und sogar bis nach Mitternacht die deutschen Tugenden in den Wind blasen. Die öffentlich Trinkenden, die wohl ihre Gründe haben, die lieber keiner wissen will. Sie könnten ja bekannt vorkommen. Wenngleich nicht immer schweigend, wie das Rückgrat von Neukölln, doch wie mir scheint im Geiste sehr verbunden. Darin sind sich Spitzen und Abgründe gleich - sie sollen gekappt, planiert, beschnitten werden zugunsten einer schön geraden Linie, unbewegt und kontrollierbar. Der kürzeste Weg ins gesellschaftspolitische Koma. Dass Rauchen schon Widerstand ist, sagt mehr über uns als jedes Gesetz. Hat mal jemand Feuer, bitte?
Rauchen als Widerstand? Na ja.
Ich halte es - bis ich endlich aufhöre zumindest - mit Kurt Vonnegut:
“Für mich sind Zigaretten eine Art, mit Depressionen fertig zu werden. Mir hilft das. Ich rauche, wenn ich arbeite, ich rauche jetzt, wo wir reden. Das Problem ist nur: Die Zigaretten bringen dich um. Aber wer weiß, ob ich mich ohne das Rauchen nicht längst selbst umgebracht hätte.”
www.vonnegut.com
Das stimmt schon: Rauchen ist Widerstand. Gegen vieles, z.B. die herschende Ideologie, dass ein wertvolles Mitglied der Gesellschaft natürlich gesund und fit sein muss, um den Wetlauf im täglichen rat-race bestehen zu können. Gegen das alberne Verbot des Rauchens auf offenen Bahnsteigen, wo es dann einen gelb gemalten Raucherbeeich gibt, in dem sich die "Sünder" aufhalten müssen (aufhalten dürfen?). Gegen die wohlfeile Annahme, dass Raucher ihre Gesundheit ruinierten, Leute aber, die am Feierabend oder am Wochenende ihre Muskeln und Gelenke mit allerlei sportlichem Gehampel überlasten, ihre Gesundhiet stärkten. Gegen die allgemeine Vernebelung des Denkens und der Urtelskraft, hinter der jede Art zerstörerischen, auch selbstzerstörerischen Genusses vergöttert, das Rauchen aber verteufelt wird. Oder wäre irgendwo schon einmal ein Auto mit einem gesetzlich vorgeschriebenen Aufdruck gesichtet worden wie "Autofahren kann tödlich sein", "Autofahren fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung schwere gesundheitliche Schäden zu" oder, etwas abgehobener, "Autofahren schädigt die Umwelt, auch künftiger Generationen, so nachhaltig, dass die Lebenserwartung vieler hunderttausender Menschen drastisch verkürzt wird"?
Rauchen ist auch Widerstand gegen diesen Zwang zur "Volksgesundheit" - diesen Begriff wähle ich übrigens mit Absicht. Denn es ist auch Widerstand gegen den Drang mancher Menschen, andere, wenn möglich alle, zu ihrem Glück zu zwingen. Wohin das führt, kann man am Beispiel eines der fanatischsten Nichtraucher in der detuschen Geschichte sehen: Hitler.
In meinem Fanatismus was das Nichtrauchen angeht stehe ich dem Arsch vielleicht wenig nach. Doch hier muss ich dann sagen: Schuldig. Ob "Schuldig im Sinne Anklage" bezweifle ich allerdings.
Als Nichtraucher und notorischer Gelenkbelaster gehöre ich zum "gesunden" Volkskörper. Das Sport etwas mit Gesundheit zu tun hat, ist natürlich genauso eine Illusion, wie die Aussage, Raucher wären teuer für das Gesundheitswesen.
Ich bin nur genervt, wenn der Rauch mir in Nase und Klamotten wabert, wenn ich einen Kaffee trinken gehen will. Ansonsten leistet Widerstand wie Ihr wollt, ich werde weiter opportunistisch meine Gelenke schinden :-p
@ merdeister:
Raucher sind ja tolerante Menschen - vor allem sich selbst gegenüber. ;-)
Deshalb dürfen Sie ruhig Ihre Gelenke weiter quälen, ohne dass eine Raucherlobby dafür sorgt, dass das Gelnekeschinden in öffentlichen Räumen verboten wird bzw. erst ab 18 erlaubt ist.
Ich als ehemaliger Raucher bin nicht nur tolerant dem Geruch von Tabakrauch gegenüber. Nein, ich rieche ihn sogar immer noch gern.
Aber sollte man nicht EU-seitig regeln, dass Autos in Euopa mit solchen oben beschribenen Warnhinweisen lackiert werden?