Als Sozialer Wandel werden allgemein Veränderungen in der Sozialstruktur bezeichnet, beispielsweise Dynamiken in der Bevölkerungsstruktur, in Wanderungsbewegungen, im Lebensstil oder in sozioökonomischen Umbrüchen. Dass der "Raum" Ostdeutschland mit dem Mauerfall 1989 und seit der Wiedervereinigung 1990 einem besonderen Wandel unterliegt, ist unstrittig und wird in öffentlichen wie wissenschaftlichen Diskursen immer wieder thematisiert.
Unstrittig sind sich die Beiträge oft auch in ihren negativen Assoziationen und Bewertungen. Ein Beispiel: Ostdeutsche sind, sofern sie nicht rechtzeitig gen Westen abwandern, "Zurückgelassen in der Ödnis"[1], wie ein Artikel in der FAZ 2007 titelt. Hier ging es um das Phänomen der Abwanderung von Qualifizierten und insbesondere von jungen Frauen, während oftmals gleichaltrige Männer zum "trödeln" neigen und ihnen männliche Vorbilder fehlen.
Ist der Osten nun wirklich eine Ödnis, aus der Menschen rechtzeitig fliehen sollten, um nicht in leeren Städten und Dörfern arbeits- und perspektivlos zu leben? Wo finden sich Ansätze, die dem entgegensteuern?
Ich will nun versuchen, negative Bewertungen aufzuzeigen und im Gegensatz dazu Perspektiven und Entwicklungspfade vorstellen, in denen sich aus der Ödnis ein Neuland entwickelt. Dabei möchte ich auf die Bedeutung von politischen Diskursen auf den „Raum“ Ostdeutschland besonders eingehen.
Auf der einen Seite geht es in den Diskursen um empirische Ergebnisse, wie beispielsweise "Schrumpfungsprozesse"[2] beschreiben, in denen Städte und ländliche Gebiete durch Geburtenrückgang, Absiedlungen, Alterung und Arbeitslosigkeit geprägt sind. Hinzu kommt ein geringes Wirtschaftswachstum, Deindustrialisierung und ein Mangel an (politischen, ökonomischen und kulturellen) Innovationen. Oft werden diese Ergebnisse durch die inhaltliche Interpretation des Beitrags selbst oder in der öffentlichen Wahrnehmung negativen Konnotationen ausgesetzt.
Träger politischer Diskurse sind Medien, ob Musik, Film, Print oder Internet, die es schaffen, Gefühle wie auch Bilder in den Assoziationen dauerhaft zu verfestigen. Einige Beispiele sollen gleich aufgezeigt werden. Hier spielen politische Machtbalancen und gesellschaftliche Deutungshoheiten eine entscheidende Rolle.
Ob als Ödnis in der FAZ oder auf der Spiegel-Titelseite 2004 als "Jammertal Ost"[3], der Osten wird meist als zerrissenes, zurückgebliebenes Land beschrieben, der den Westen bremst und selbst kaum Hoffnung hat. Die von Altbundeskanzler Helmut Kohl versprochenen "Blühenden Landschaften" sind zum running Gag geworden.
In der Sprache der Comedians werden "Thüringen" und "Brandenburg" zum Inbegriff des Ostens stilisiert. Rainald Grebe singt hier von Leere, Perspektiv- und Bedeutungslosigkeit, wie"Ich fühl' mich heut' so leer / ich fühl' mich ausge-brandenburgt"[4] oder "Thüringen, Thüringen, Thüringen, ist eines von den schwierigen Bundesländern. Denn es kennt ja keiner außerhalb von Thüringen"[5].
Zwei weitere Beispiele sind die Filme "Schultze gets the blues" oder "Du bist nicht allein", in denen es ebenfalls um Einsamkeit, Einfachheit und Arbeitslosigkeit geht.
Hier gibt es jedoch auch einen inhaltlichen Ansatz zur Veränderung bis hin zur Initiative. Im ersten Beispiel bricht der Bergarbeiter Schultze zum Polka-Spielen in die USA aus, wobei offen bleibt, ob es um Flucht geht oder ob es eine Rückkehr gibt. Im zweiten Beispiel gibt der arbeitslose Akademiker nach langer Depression und erfolglosen Besuchen im Arbeitsamt Nachhilfeunterricht in der Physik. In beiden Fällen wurde Initiative eine Praktik zur Chance.
Um die Auswirkungen der Sprache und Bilder auf den Raum zu beschreiben, muss zuerst der Begriff selbst geklärt werden. "Räume" werden in sozialen Prozessen „ausgehandelt" und hergestellt, und beinhalten bestimmte Zwecke und Handlungsfolgen, die sich physisch festschreiben.[6] Die Aushandlungen finden in Politischen Diskursen und plakativ in Bildern statt. Hier werden eigene Räume durch eigenes Handeln definiert.
Übertragen auf Ostdeutschland als "Raum" wird hier die Bedeutung von negativen Assoziationen auf Selbstzuschreibungen und Identifikationen klarer, die eigene Initiativen und Praktiken hemmen und unterdrücken können, die Selbstwahrnehmung negativ beeinflussen.
Ein weiterer Schritt wäre nun die nähere Analyse dieser "politischen Diskurse[7]", in denen gesellschaftliche Sinnzusammenhänge und Wahrheiten, somit auch negative Konnotationen, verhandelt werden, die eine Wahrnehmung der Realität in Ostdeutschland erzeugen. "Praktiken"[8] sind Teil davon und bieten Akteuren Handlungsspielräume, in denen Neubestimmungen der Wirklichkeit und Identifikationen "Raum" haben. So können neue Möglichkeitsräume für Perspektiven und für das Engagement von Pionieren entstehen.Akteure meinen alle in gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen Beteiligte, Menschen wie Technik (Computersysteme, Automaten).
Der Film "Neuland Denken"[9] ist so ein Beispiel. Hier werden Schrumpfungsprozesse und große Fehlinvestitionen, wie Lausitzring, Western-City oder CargoLifter in Brandenburg ebenso aufgezeigt, wie Alternativen und neue Möglichkeitsräume. So planen Pioniere in einem Beispiel auf landschaftlichen Brachflächen Schneckenfarmen oder auf Weiden eine Bizonzucht. Andere Beispiele sind Zwischennutzungen oder Umnutzungen, wie die "Erlebnisbrauerei" in einer alten Fabrikanlage, die Gründung des "Theater am Rand" im Oderbruch oder die Entwicklung einer ökologisch arbeitenden Kommune.
Diese Projekte sollen zeigen, wie in politischen Diskursen gesellschaftliche Räume in Ostdeutschland neu definiert werden und so Wahrnehmungen schaffen, alte "Bilder" zu überlagern. Die räumlichen Umwertungen können in den Dörfern und Städten neue Praktiken und Handlungsspielräume sowie positive Selbstzuschreibungen schaffen. In lokalen bzw. regionalen Nischen wären erste Pionierräume vorstellbar, die Interesse wecken und Alternativen schaffen. Diese Innovationen können Anreiz für ökonomische oder kulturelle Investitionen sein und entsprechende Lebensstile und Subkulturen anlocken. Die Umbruchphase 1989/90 könnte trotz aller Aus- und Nachwirkungen als Chance umgewertet und beispielsweise Schrumpfungsprozessen entgegenwirken, der Osten könnte sich neu identifizieren und „Neuland denken“.
[1] faz.net (08.06.07): Zurückgelassen in der Ödnis, www.faz.net/s/Rub7FC5BF30C45B402F96E964EF8CE790E1/Doc~E8B1CA67E28C7411CA819FA7D04D214FF~ATpl~Ecommon~Scontent.html, Zugriff am 28.06.09
[2] Vgl. Hannemann, C. (2003): Schrumpfende Städte in Ostdeutschland -Ursachen und Folgen einer Stadtentwicklung ohne Wirtschaftswachstum, In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 28
[3] www.spiegel.de/static/epaper/SP/2004/39/ROSPANZ20040390001-312.jpg, Zugriff am 28.06.09
[4] www.magistrix.de/lyrics/Rainald%20Grebe/Ode-Brandenburg-84532.html, Zugriff am 28.06.09
[5] www.free-lyrics.org/Rainald-Grebe/224236-Thüringen.html, Zugriff am 28.06.09
[6] Vgl. Hamm, B. (2003): Raum. In: Schäfers, Bernhard (Hg.): Grundbegriffe der Soziologie. Opladen, 277
[7] Foucault, M. (1991), [1970]: Die Ordnung des Diskurses. Frankfurt a.M.
[8] Reckwitz, A. (2003): Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive. In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 32, H. 4, S. 282 - 301
[9] Weitere Informationen auf: www.neuland-denken.de/
Kommentare 8
Sehr interessanter Beitrag – und auch gut gemischt zwischen wissenschaftlicher und journalistischer Sicht.
Fakt ist, denke ich ganz plakativ, dass der Osten tatsächlich oft „runter“ geschrieben wird. Das Phänomen der schrumpfenden Räume – in Berlin gabs vor einer Weile die Ausstellung „shrinking cities“ – ist wohl auch nicht allein ostdeutsch. Da ist es – möglicherweise besonders aufmerksam beobachtet und auch ziemlich negativ bewertet.
„Übertragen auf Ostdeutschland als "Raum" wird hier die Bedeutung von negativen Assoziationen auf Selbstzuschreibungen und Identifikationen klarer, die eigene Initiativen und Praktiken hemmen und unterdrücken können, die Selbstwahrnehmung negativ beeinflussen.“
Das ist belegbar an vielen Beispielen. Du hast ja auch welche parat. Vor kurzem schrieb ein Rezensent über Monika Marons Buch „Bitterfelder Bogen“, es sei gegen den von den Medien potenzierten ostdeutschen Selbsthass geschrieben. Mein Gefühl ist aber eher, dass dieser Selbsthass eine Zuschreibung der Medien ist, den die Ostdeutschen dann möglicherweise verinnerlicht haben, nicht umgekehrt.
Es tut sich – wie man immer mal wieder auch lesen kann- soviel in Brandenburg, aber es besteht offensichtlich kein Interesse, ein Gefälle auch in den Wahrnehmungen und Mentalitäten auszutarieren.
Ich bin sehr für „Neuland denken“ Das gibt es ja auch. Nur, wenn Pioniergeist in Brandenburg oder Meckpomm dokumentiert wird, dann sind das am Ende schon wieder westdeutsche Pioniere. Ehemalige Eigentümer oder risikofreudige Bauern. Es gibt mehr originales Leben dort, als gezeigt wird.
Der Wolfgang Engler in seinem Buch „Die Ostdeutschen“ und später auch die „Ostdeutschen als Avantgarde“ hat ein anderes Bild entworfen. Zum Beispiel mit der These, dass die Leute im Osten viele der Veränderungen, die jetzt auf das gesamte Deutschland zukommen, durchstehen mussten und sich eine gewisse Flexibilität angeeignet haben. Das aber ist nicht so beliebt. Eher wird das Bild gepflegt, dass seit der deutschen Einheit Ostdeutschland Westdeutschland mit runterreißt. Damit hat man was zum Ablenken.
Sehr anregend, Deine Überlegungen wie gesagt
Da kann ich mich Magda nur anschließen, interessante Ausführungen. Das Beispiel Cargo-Lifter finde ich nach wie vor mit am erschütterndsten, da packt man einfach den Projektionsraum "Tropische Insel" mitten in die vermeintliche Ost-Ödnis, genauer in die Leere Cargo-Lifter-Halle. Heraus kommt eine völlig hermetische Kunstwelt, die wie ein Alien in der Landschaft steht. Ich war vor ein Paar Jahren dort, kurz vor der Eröffnung (wie es heute aussieht, weiß ich nicht), aber damals, das war wirklich eher traurig...
P.S.: Ihr Beitrag ist übrigens nun auch auf der Freitag-Start-Seite angekündigt.
Das Besondere an den Räumen des Ostens ist ja, dass die dazu neigen, offen zu sein. Vor die Wahl gestellt, ob ich in einem zwar voll besiedelten, doch kulturell wie sozial gefegten Weiler bei Bad Hersfeld wohnen möchte oder in einem nur noch spärlich bewohnten, dafür kulturell wie sozial herausfordernden Nest bei Bernau, würde ich selbstverständlich Bernau wählen. Zum Glück allerdings bin ich nicht vor diese Wahl gestellt.
Dass die ostdeutschen Orte ihren Charakter im Zusammenspiel mit ihrer Umgebung bewahren konnten, hat zwar viel mit mängelverwaltenden Unrechtsregime zu tun, verloren haben aber seit 1989 die Menschen, nicht die Orte. Deren unaufgeblasene Ursprünglichkeit mag manch Durchreisenden befremden, auch Günter Grass schütelt es in seinem 90er Tagebuch vor Entsetzen und Ahnungslosigkeit, gewiss irritieren die nicht lackierten Oberflächen, auf denen nicht mit einem Wisch alles weg ist, sondern an denen Spuren hängen geblieben sind, mit denen man sich auseinandersetzen müsste.
Ich nehme es den Brüdern und Schwestern aus den elf neuen Ländern nicht mehr übel, dass sie nur die Ödnis sehen. Sei liegt ja im Auge des Betrachters. Und das ist auch eine Chance für den ostdeutschen Raum. Die Ostseebäder Binz oder Heringsdorf hatten diese Chance nicht.
Herzlich
kk
"gewiss irritieren die nicht lackierten Oberflächen, auf denen nicht mit einem Wisch alles weg ist, sondern an denen Spuren hängen geblieben sind, mit denen man sich auseinandersetzen müsste. "
Genau, das sehe ich auch Und auch sehr schön ist die "Ödnis im Auage des Betrachters" .
Das hat mich schon kurz nach der Wende so erschreckt, dieser Sauberkeitswahn.
Gruß
Magda
cargolifter selbst war .. sagen wir mal .. ambitionierte geldverschwendung. wundert mich ja bis heute, dass da noch keiner die leichen ausm keller geholt hat. die berichterstattung war seinerzeit recht oberflächlich.
was dieses tropic dingens betrifft:
ich war vor drei-vier jahren da.
damals war es ok. wer so allgemein ohnehin gerne an den strand fährt, warum nicht. nette gimmicks, aber auch nix großartiges. übernachten wollte ich da nicht. die anfahrt ist erstaunlich grün.
für mich war das natürlich nichts.^^
find es allerdings auch preislich total uninteressant. es existiert trotzdem noch, was ich nicht für möglich gehalten hätte.
www.tropical-islands.de
landflucht issn generelles problem unserer zeit. bspw. brechen nahe hannover grad die immopreise deswegen ein. hat man überall, wird aber immer nur in bezug auf den osten thematisiert, bei dem man dann gleich noch erklären kann, dass die ja alle in westliche gefilde flüchten.
was solls. vor drei jahren sind noch alle nach island geflüchtet.
Also bei uns gibt es keine Ödnis, bei uns herrscht das Paradies für Start-Up und für junge Leute die etwas bewegen oder gründen möchten: Beispiele sind Starunternehmen wie Spreadshirt, Abindenurlaub und Unternehmen die zur Gruppe der Autoren dieses Artikels gehören. Die Leute im Osten sind geistreich, denken modern und klug. Wer von ostdeutscher Ödnis spricht, hört den Wind nicht pfeifen der da im Anflug ist...
Vielleicht sollte hierbei hinterfragt werden, woher, aus welchem Milieu, aus welchem Teil Deutschlands, diese Pioniere kommen?
Und wie diese Innovation auf die bestehenden Strukturen wirken?
Meist handelt es sich eher um Milieus, die nicht interagieren und nebeneinander fortwirken. Beispielsweise haben es Öko-Höfe in der Uckermark ziemlich schwer, da sie bis auf die wenigen westdeutschen Zugezogenen kaum angenommen werden.