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Berlinale. Berlins derzeit großes Theater, auf der die Gäste beharrlich und im alten Glanz der Wirtschaftskrise strotzen und neue Rekorde aufstellen. Im Internationalen Fokus gibt es Weltpremieren und Stars aus Hollywood. Geschenkt. Außerhalb des Wettbewerbs der wichtigste und kritischste Beitrag für ein deutsches Filmfest: Deutschland '09. Der Anspruch war hoch gesetzt. Schon einmal gab es eine deutsche Gemeinschaftsproduktion: "Deutschland im Herbst". Fassbinder, Schlöndorff und Kluge machten in den Jahren 1977/78 das Stammheimer Gefängnis, die RAF sowie die Reaktion der deutschen Justiz zum Thema. In "Deutschland '09" wollen 13 Kurzfilme die gegenwärtige deutsche Gesellschaft seit der letzten Jahrtausendwende und seit dem 11. September unter die Lupe, vor allem aber auch aufs Korn nehmen. Folgende treffen diesen Anspruch wohl am deutlichsten: Fatih Akin zeichnet in "Der Name Murat Kurnaz" ein nüchternes, beklemmendes Interview mit dem ehemaligen Guantanamo-Häftling nach seiner Freilassung 2006 nach. Dany Levy beschreibt frisch und dynamisch in "Joshua" das Jammertal Deutschland, in der nur ein Wundermittel gegen den grauen Alltag und Nationalbefreite Zonen hilft und Deutschland in ein Land der Lebenslust, Leidenschaft und Gastfreundschaft umzukehren scheint. In Hans Steinbichlers "Fraktur" lässt ein Großunternehmer vom Obersalzberg sämtliche Ausgaben der "FAZ" einsammeln und vor dem Zeitungshochhaus verbrennen. Danach ermordet er die gesamte Chefredaktion, weil die Zeitung die bewährte Fraktur-Schrift aufgibt.Dominik Graf widmet sich in "Der Weg, den wir nicht zusammen gehen" dem politischen Umgang mit und der gesellschaftlichen Spiegelung in der Architektur. So geht es um die Entstehung der zahlreichen Barock-Kopien seit den 90er Jahren, der Abkehr des Nachkriegswohnungsbaus und den Abriss der Funktionalbauten der DDR. Romuald Karmakar bildet in "Ramses" einen iranischen Inhaber einer Animier-Bar ab, in der Gelüste, Triebe und Fantasien ihren Raum finden, in der Bepissen, Bekacken und Behacken zum normalen Programm gehören und wo benutzte Tampons zu Appetitsahnreger werden. Die Kundschaft bildet sich aus der Mitte der Gesellschaft. Hans Weingartner beschreibt in "Gefährder" die Geschichte des Berliner Soziologen Andrej Holm, der als vermeintlicher Kopf der sog. 'militanten gruppe' im Vorfeld des G8-Gipfels inhaftiert wurde und bei dessen Überwachung Millionen von Datensätzen der bundesdeutschen Bevölkerung dem Staatsschutz zur Verfügung stehen. Angesichts dieser mutigen Themen treten dabei etwas in den Hintergrund Nicolette Krebitz Streitgespräch zwischen Susann Sontag, Ulrike Meinhof und Helene Hegemann („Die Unvollendete“) sowie Tom Tykwers "Feierlich reist", bei dem ein Großunternehmer gegen den täglichen, monotonen Geschäftstag und der Verführung des nächtlichen Sex-TVs ankämpft. Der große Kinosaal in der Urania nahe des Wittenbergplatzes war ausverkauft, das Publikum aufgeschüttelt: Deutschland '09 ein voller Erfolg, auch wenn 13 Filme und140 min. viel Geduld und Konzentration abverlangten.
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Geschrieben von
Weltenbummler und Harlekin
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Kommentare 6
Ah, schön. Ich habe bisher nur diese vernichtende Kritik in der FAS gelesen und mich damit getröstet, daß Claudius Seidl sowieso nicht immer versteht worum es in den Filmen geht die er rezensiert
Deutschland 09 kostet Nerven und Aufmerksamkeit lohnt sich aber insgesamt. Ein wildes Sammelsurium z.T. auch zur Lage der der Nation ... Schocking: "Die Gefährder"-Geschichte ist wirklich authentisch, davon konnte ich mich im gespräch mit Herrn Holm überzeugen ...
Ja, diese Geschichte habe ich auch verfolgt. Ihre Bearbeitung scheint der bürgerlichen Presse aber nicht zu schmecken, og. Seidel schreibt:
Auf derselben Pressekonferenz kritisierte Hans Weingartner die Medien dafür, dass sie gar nicht erkannt hätten, was für ein Skandal der Fall des Soziologen Andrej Holm sei, jenes Mannes, der elf Monate lang überwacht und dann, als vermeintlicher Chefideologe der „Militanten Gruppe“, verhaftet wurde, bloß weil in seinen Texten dieselben Stichworte vorkamen wie in den Bekennerschreiben jener Gruppe. Dazu muss man sagen, dass der Fall Andrej Holm ein Skandal war. Und dass genau das auch in den Zeitungen stand. Weingartner, in seinem Beitrag „Gefährder“, fiktionalisiert die Figur, was ihm die Freiheit gibt, auch diesen Mann viel glatter, netter und ganz frei von Widersprüchen erscheinen zu lassen. Und dazu erfindet er ein paar Dunkelmänner, die sich, während das Holm-Double in Haft sitzt, noch fiesere und effizientere Methoden der Überwachung ausdenken, was diesem Film endgültig jede dokumentarische Beglaubigung raubt; „Gefährder“ ist nur das Dokument der Paranoia seines Regisseurs.
Laut Suchfunktion der FAZ kommt "Andrej Holm" genau einmal vor: in der Rezension, die behauptet, der Skandal wäre ja in der Zeitung gestanden! Unglaublich.
Die Kritiken waren bisher durchweg von SZ, T'AZ, Spiegel, FAZ alle schlecht...
In Taz und Spiegel steht darüber irgendwas von Paranoia-Ideen Weingartners oder so...einfach abgründig schlecht.
@odradek: Obwohl ich Weingartner kennengelernt habe, mag ich nicht beurteilen, ob er paranoid ist. Das wäre sowieso irrelevant, weil wir ja schon lange nicht mehr Kunst und Künstler verwechseln ...
Aber ja, er fiktionalisiert, nicht nur wie jede Kunst, sondern zwangsläufig sehr stark, da Dunkelmänner nun mal lieber im Dunkeln bleiben. Ob es zweckmäßig sein mag, die fiktional Beleuchteten wie Stasi-Funktionäre reden zu lassen? Um uns aufzuschrecken? Um uns einem quasi invariablen Ungeist vor Augen zu führen, der in all dem irgendwie wirkt und sich verschiedentlich eine Bahn bricht? Da scheint mir doch die Verwirrung zu liegen, die Weingartner stiften möchte. Im übrigen, das Ganze ist im Zweifel auch PR für die andauernden Bemühungen von Holm, die Dunkel- und Hintermännern juristisch zu beleuchten, was auch interessant werden könnte ...