Ich hatte nie so leben wollen. Auf dem Land, in der Abgeschiedenheit, in einem Dorf, im Nichts. Wo abends die Hunde der Stille entgegenbellen. Wo sich angeblich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, aber in Wahrheit höchstens eine Kuh dem Mond. Ich hatte nicht leben wollen mit dem Gestank von Schweinemastanlagen, dem Matsch an den Füßen, mit Straßen, die mal ein Trecker versperrt und mal ein Schützenfestumzug betrunkener Uniformierter, fast 100 Kilometer entfernt von der nächsten Autobahn. Es waren diese Klischees, die mich hinderten, mir das Land als einen guten Ort vorstellen zu können. So wollte ich nicht leben.
Und jetzt lebe ich so. Nicht, weil ich mich bewusst für das Landleben entschieden hätte, sondern weil es hier einen guten Job als Tageszeitungsredakteur gab. Ich stieß auf die Elbe-Jeetzel-Zeitung in Lüchow. Das Wendland. Gehört hatte ich davon schon. Wie ländlich es dort ist, stellte ich so richtig erst fest, als ich da war. Der Zufall hatte mich ins Dorfleben geschossen, wie eine Rakete den Raumfahrer ins All schießt.
Mit der Zeit stellte ich fest: Das Land ist so viel besser als sein Ruf. So anders für den, der es nicht nur betrachtet, als läge es in einer Vitrine, sondern sich in ihm einrichtet und lebt. Wer nur die Klischees kennt, der kann nicht über sie hinaussehen. Der hält Provinzbewohner für vernagelt und Bauern für dumm, Kleinstädter für kleinstädtisch und Landkinder für Langweiler. Wer genauer hinschaut, merkt, dass das Land gar nicht so abgehängt ist, längst nicht so weltfremd, gar nicht öde.
Als ich zum ersten Mal nach Lüchow-Dannenberg aufs Land fuhr, mutete es an wie eine Irrfahrt.
Ich fuhr von Berlin aus Richtung Westen. Zuerst gab es noch ein Stück Autobahn und die Welt war in Ordnung. Es war die Welt des gewohnten Vorankommens. Alles rollt, schnell und schneller. Man kennt das von der Autobahn wie vom Leben. Man rast. Man merkt es nicht. Man tut es, weil alle es tun. Noch vor meiner Ankunft spürte ich meine eigene Unentspanntheit. Das tue ich seitdem dauernd. Die Menschen hier lassen sich nicht so leicht hetzen. „Heute noch? Warum nicht morgen?“, fragt ein Handwerker. Vielleicht sogar übermorgen. Und schaffte er es erst nächste Woche, dann ginge das auch in Ordnung. Es ist schließlich nicht der Winter der ausgefallenen Heizungen, sondern bloß eine Lichtleuchte in der Küche kaputt. „Irgendwann komme ich vorbei, können Sie sich drauf verlassen“, sagt ein Mann, der Äste im Garten schneiden will.
Nach ein paar Tagen frage ich nach. „Ich hab doch gesagt, dass ich komme“, antwortet er verwundert. Es dauert noch einmal drei Tage, bis er wirklich kommt mit leicht vorwurfsvoller Miene: „Ich hatte ja gesagt, dass Sie sich drauf verlassen können.“ Nur auf die Schnelligkeit, auf die kann sich auf dem Land niemand verlassen – und das schadet nicht. Es verlängert den Tag, es zerhackt die Zeit nicht in so viele Teile, dass sie sich kaum mehr zusammensetzen lassen. Das Landleben entspannt – anders wäre es gar nicht auszuhalten. Man muss sich der Geschwindigkeit seiner Umgebung anpassen. Der Handwerker, der Gärtner, sie werden schon kommen, irgendwann, vielleicht morgen schon, vielleicht auch erst in drei Tagen. Was zuerst entsetzlich schwerfiel, stellte sich als angenehm heraus. Wer gezwungenermaßen aufhört, andere zu hetzen, der hetzt sich selbst weniger.
Huch, ein Buch
Statt den Leuten hinterherzustressen, setzte ich mich hin und wieder hin und las ein Buch. Gar nicht schlecht, dachte ich, gar nicht schlecht! Es bewegt sich nicht ständig etwas, es lärmt nicht dauernd, es gibt weniger zu tun, weniger Ablenkung.
Die Entschleunigung ist eine Sache, die man aushalten muss. Die Landmenschen bewegen sich anders als die Städter, sie verhalten sich anders. An der Kasse kostete es mich fast den Verstand. Auch in der Stadt stehen die Menschen an. Aber anders. Sie scharren mit den Füßen, sie sind für einen Augenblick ausgebremst, weil sie warten müssen, bis sie an der Reihe sind. Sie stehen da wie Rodeopferde, die in der Box darauf warten, herausgelassen zu werden, zu rennen, zu springen, zu buckeln. In der Stadt war ich Kassenwildpferd unter Kassenwildpferden. An der Kleinstadtkasse standen die anderen provozierend gelassen. Niemand drängte, niemand rollte die Augen. Die Kassiererin ließ sich Zeit beim Kassieren, die Kunden beim Bezahlen. Die eine kramte im Kleingeld, die anderen schauten zu, milde lächelnd. Wenn Zeit Geld ist, dann ist arm dran, wer sie nicht hat. Die Menschen auf dem Land haben mehr davon. Sie leben, wie sie eben leben.
Das Landleben verändert die Persönlichkeit. Der Gehetzte dreht entweder durch und zieht schnell wieder weg, weil er es nicht aushält. Oder er passt sich der Langsamkeit an. Wer ständig um sich selbst kreist, der wird schnell als um sich selbst Kreisender identifiziert, kategorisiert und sanktioniert. Das mag man hier nicht, wenn Menschen nur auf das eigene Weiterkommen aus sind. Wer bleiben will, sollte sich den Menschen öffnen. Man muss es geschehen lassen. Wehrt man sich, lässt sich das Leben nicht aushalten. Zuerst wehrte ich mich. Tat die anderen als Provinzler ab, die die Ruhe weghaben. Das Gegenteil ist wahr: Wer vor Eile das Leben verpasst, ist nicht im Vorteil.
Die wesentlichen Unterschiede zwischen meinem Leben in der Stadt und auf dem Land offenbarten sich erst nach einer Weile. Wie die Frage: Wie will ich eigentlich leben? Die hatte ich mir bis dahin so bewusst nie gestellt. Klar, als Journalist, als Partner, als Vater. Aber schnell leben oder langsam, zugewandt oder fixiert auf das eigene Leben, leise oder laut? Erst im Kontrast drängten sich diese Fragen auf.
Daumen raus, Hilfe kommt
Ich bin in Hagen geboren und in Hemer aufgewachsen, wir wohnten immer mittendrin. Es waren keine Metropolen, aber noch weniger waren es Dörfer. Ich spielte im Hinterhof Tennis und Fußball. Meine Fantasie verwandelte den Beton der Hauswände in den Beton der Stadien dieser Welt. Ich vermisste nichts. Die Kindheit auf dem Hinterhof war eine gute. Kinder passen sich an. Aber das Leben in der Stadt ist ein Leben mit Grenzen. Ich wusste, dass hinter dem Einfahrtstor die Straße lag, die Tabuzone, wie überhaupt alles, was nicht Hinterhof war, tabu war. Es lauerten überall Gefahren.
Auf dem Land ist das anders. Wir öffnen die Haustür und unsere drei Kinder rennen los. Wenn sie im Sand buddeln und schaukeln wollen, brauchen sie keinen Spielplatz. Vor der Tür ist nicht Ende, sondern Freiheit. Uns Eltern quält weniger die Angst, dass etwas passieren könnte. Ja, sie können vom Baum fallen und sich das Bein brechen. Aber die eher abstrakte Angst vor dem Beinbruch ist weniger fundamental als die Panik, das Kind könnte unter einen Lastwagen geraten. Ich schaue ihnen nach, wie sie im 3.000 Quadratmeter großen Garten verschwinden. Ihre Welt endet nicht nach zehn Metern Asphalt an einem Einfahrtstor. So kann man leben wollen.
Das Landleben hat wenig mit Deko auf den Tischen, Landhäusern, den schönsten Gärten, den tollsten Blumen zu tun. Alles so schön ruhig da, und Tante Erna backt einen Kuchen. Dabei ist Tante Erna fast so tot wie Tante Emmas Laden. Wenn die Sonne scheint, im Hochsommer, dann ist das Land für ein paar Tage vielleicht wirklich so, wie es in Magazinen aussieht. Aber wenn es regnet, steht alles unter Wasser und wir waten durch Matsch. Oft riecht es nach Gülle statt nach Sommerblumen. Die Trecker brettern über die Straßen, dass es nur so scheppert. Und wer darüber nachdenkt, aufs Land auszuwandern, der sollte dort vorher mal einen Winter verbringen. Denn die sind lang und karg und düster. Der Winter überzieht die Gegend mit einem eisigen Panzer, unter dem das Leben wie im Winterschlaf zu liegen scheint. Nichts geht dann mehr.
Meinen Nachbarn begegne ich auf der Straße und wir unterhalten uns. Wir führen keine fundamentalen Diskussionen, aber wir wissen ein bisschen von dem Leben des anderen, womit er oder sie sich gerade herumschlägt, was ihn oder sie belastet oder freut. Als mein Rasenmähertraktor kaputtging, kam mein Nachbar sofort vorbei und brachte das Ding mit viel Geduld wieder zum Laufen.
Städte sind das Sinnbild der Zukunft, sind modern, pulsierend. Aber wie viel mehr die Menschen einander zugewandt sind, wenn mal wieder kein Bus fährt, aber man dringend in die nächste Kleinstadt muss: Jemand aus dem Dorf fährt gewiss noch. Wer sich an die Straße stellt und den Daumen rausstreckt, muss nicht lange warten. Landmenschen haben Probleme und lösen sie oft kreativ. Statt über fehlende Infrastruktur nur zu klagen, gründen sie einen Verein und fahren selbst mit dem Bus über die Dörfer. Statt nur zu mosern, dass nichts los sei, gründen sie einen Kulturverein oder spielen selbst Theater. Statt nur auf die Globalisierung zu schimpfen, beteiligen sie sich an einer solidarischen Landwirtschaft und sorgen für lokale Wirtschaftskreisläufe im Gemüsehandel. Das Land – eine gute Gegend für Pioniere.
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