Die Angst der alten Tante

Partei ohne Vision Auf Dauer braucht und bekommt Deutschland aber wieder eine starke sozialdemokratische Partei. Doch wird das die SPD sein?

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"Wo bleibt der Wandel, Martin ..."
"Wo bleibt der Wandel, Martin ..."

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Die SPD hat mit dem typischen AfD-Wähler einige Gemeinsamkeiten. Beide haben Angst, Angst vor dem Abstieg in einer sich ständig wandelnden, globalisierten Welt.

Bei dem AfD-Wähler, der nicht fremdenfeindlicher und rassistischer ist als der Normalo-Bundesbürger, projiziert sich diese Angst vornehmlich auf vor Hunger und Krieg fliehende Menschen. Schuld sind im Zweifel Angela Merkel und die Europäische Union.

Bei der SPD ist diese Angst ebenso konkret. Die Genossen fürchten, den stolzen Status als Volkspartei endgültig zu verlieren – wobei die Frage erlaubt sei, wo genau die Grenze liegt. Eine 20-Prozent-Partei (mit fallender Tendenz) ist sicherlich zurzeit mindestens genauso weit weg davon, die Regierung anzuführen, wie Syrien vom Frieden. Und dennoch hat das Auftauchen von Martin Schulz am roten Horizont vor rund einem Jahr das Potenzial der „alten Tante“ SPD aufblitzen lassen. Allerdings schaffte der kometenhafte Aufstieg in den Umfragen den nach Inhalt japsenden Genossen lediglich eine kurze Verschnaufpause bei ihrem stetigen Niedergang. Schnell war Martin Schulz wieder geerdet. Ohne Vision, ohne Programm und ohne starke Positionen lassen sich auch gegen eine schwächelnde Angela Merkel keine Wahlen gewinnen – denn wenn die Wähler zwischen Original und Kopie wählen können, nehmen sie natürlich das Original.

Oder sie wählen weder Kopie noch Original, wenn sie die Politiklosigkeit der Großkoalitionäre einfach satt sind. Dann wählen zu viele Bürger entweder unverhohlen Rassisten ins Parlament - oder sie schwenken rüber zu Parteien wie der FDP, die mit miefig alt-neoliberalem Programm, dafür aber quietschend neuem Kitsch, so frisch und energetisch daherkam, dass selbst Leute, die sich für smart halten, auf Christian Lindner und seine Kampagne hereinfielen.

Doch zurück zur Angst. Zur Angst der SPD. Wer trägt die Schuld daran?

Verwalten statt Verändern

Die alte Leier von der übermächtigen Angela Merkel und der Sozialdemokratisierung von der CDU ist ein ebenso schwaches Argument wie die Behauptung, die SPD könne sich in einer Großen Koalition nicht erneuern.

Erneuerung hat die SPD dringend nötig – und zwar unabhängig davon, ob sie in die Regierung geht oder nicht. Das Problem ist, dass die überalterten (ehemaligen) Volksparteien CDU und SPD keinerlei Vision und Ideen für unsere Zukunft haben. Sie verwalten dieses Land und verbrennen Steuergelder in Milliardenhöhe, ohne strukturelle Fragestellungen überzeugend anzugehen.

Klimaschutz, Flüchtlingsströme, Rentenreform und Digitalisierung brauchen mutige Vorschläge. Die kommen in aller Regel von links. Doch links der Mitte ist seit etlichen Jahren ein großes Vakuum. So wie die CDU in all den Merkel-Jahren nach links gerückt ist, ist die SPD ihr entgegengekommen. Getroffen haben sich beide dann häufig in der GroKo, wo sie zu einem schwer genießbaren Einheitsbrei mit dezidiert unterschiedlichen Geschmacksnoten verkommen sind.

Als „Gottkanzler“ Schulz die Bühne betrat, entfachte er plötzlich Euphorie. Es wurde deutlich, dass die Menschen im Land die Hoffnung in eine progressive SPD noch nicht verloren hatten. Schulz stand kurze Zeit für Wandel, für Fortschritt. Doch schnell holte ihn das fehlende Programm ein. Leise Kritik an der Agenda-Politik von Altkanzler Gerhard Schröder kehrte die SPD-Führung schnell wieder unter den Teppich, als sich vom wortgewaltigen Putin-Freund erwartbarer Widerstand regte. Der SPD fehlte schlicht der Mut, sich auch gegen Kritik von ihren Altlasten zu befreien.

Eine höhere Erbschaftssteuer, eine wirksame Bekämpfung von Fluchtursachen gegen die Interessen großer Konzerne, eine echte Beschränkung von Waffenexporten, eine insgesamt neue Flüchtlingspolitik – das alles wären klassisch linke Themen. Doch konkrete Vorschläge dazu kamen allenfalls von Linken und Grünen – und nicht von der „linken Volkspartei“ SPD.

Die kleinen Geschichten vom afghanischen Flüchtling, dessen Abschiebung Martin Schulz verhindert hat, und von den Feuerwehrleuten aus Würselen schaffen vielleicht kurzfristig eine Wohlfühl-Atmosphäre. Die Probleme des auf Grundsicherung angewiesenen ehemaligen Bergarbeiters aus Castrop-Rauxel lösen sie nicht.

Und eine gute Zukunft für dessen Enkelkinder erreicht die SPD nicht, indem sie stur das Sprachrohr der Kohlelobby bleibt. Linke Politik im 21. Jahrhundert ist anders als linke Politik in den 1970er-Jahren. Das haben führende Genossen bis heute nicht erkannt. Unter dem Druck der Gewerkschaften setzen sie auf eine veraltete Technologie in einer Zeit, in der der Klimawandel kaum noch aufzuhalten ist.

Sozialdemokratischer Schlingerkurs

Die inhaltliche Debatte der letzten Delegiertenversammlung stand der SPD gut zu Gesicht. Es lässt sich in der Tat diskutieren, was für die SPD schlimmer ist – die nächste GroKo oder womöglich Neuwahlen. Nicht ganz in Vergessenheit geraten sollte hierbei freilich, dass auch die Zeit in der Opposition zwischen 2009 und 2013 der SPD nicht die gewünschte Heilung brachte.

Dass diese Debatte bisher kaum geführt wird, liegt am Schlingerkurs der SPD in den letzten Monaten. Nein, Ja, Nein, Ja. Und so weiter. Dazu eine Führungsriege, der es offensichtlich zunächst einmal um die eigene politische Zukunft geht. Schamlos nach dem Motto: Erst komme ich, dann vielleicht das Land – und am Ende mit viel Glück noch die Partei.

Deutschland braucht auch in Zukunft eine linke Volkspartei. Denn eine sozialdemokratische Partei, die keine wirkliche Alternative mehr zur Union ist, ist ein echter „Anschlag auf die Demokratie“. Demokratie, das ist der Wettbewerb der Ideen und Konzepte.

Wenn unsere Demokratie die aktuellen Angriffe von rechts überlebt, wird Deutschland auch in Zukunft wieder eine linke Volkspartei bekommen. Fraglicher denn je ist nur, ob dies die SPD ist. Angesichts ihrer stolzen Geschichte wäre es schade, wenn die Partei endgültig zugrunde geht. Doch klar ist auch: Man kann sich nicht auf Dauer auf dem Widerstand gegen die Nazis und dem Kniefall von Warschau ausruhen.

Die „Generation Merkel“ kennt die deutsche Sozialdemokratie nur als verschrumpelt und ideenlos. Die „alte Tante“ braucht ein frisches Kleid. Dringend.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin Scholz

Jurist, freier Journalist & Vorstand einer gemeinnützigen Organisation zur Unterstützung benachteiligter Menschen in Indien

Benjamin Scholz

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