Negation der Menschenwürde

Jusos zu Abtreibungen Die Jusos haben kürzlich beschlossen, Abtreibungen bis zum Ende der Schwangerschaft zu erlauben. Sie greifen damit frontal die Grundpfeiler unserer Verfassung an.

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Es gibt Entscheidungen, die exemplarisch dafür stehen, die politische Landschaft zu sortieren und die politischen Akteure an die klassischen Pole „links“, „rechts“, „liberal“ und „antiliberal“ zu binden. Klare Worte, Polemik und Zuspitzung sind in diesen Fragen erwünscht, ja sogar geboten im Sinne eines demokratiefördernden Diskurses.

Gleichzeitig gibt es aber auch Entscheidungen, die sich nicht ins altbekannte und vermeintlich bewährte Schema der politischen Grundordnung pressen lassen. Parteipolitische Präferenzen mögen da allenfalls eine marginale Bedeutung entfalten. Solche Entscheidungen sind Gewissensentscheidungen, die ein jeder Mensch basierend auf seinem eigenen Wertekanon und seinen tiefsten inneren Überzeugungen zu treffen hat. Debatten über diese Fragen zeichnen sich durch leise, nachdenkliche Töne aus anstatt durch spalterisches Gebrüll. Oft sind diese Debatten wohltuend nachdenklich und ermöglichen eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des menschlichen Seins.

Diesen seit langem anerkannten Grundkonsens haben die Jusos als Jugendorganisation der altehrwürdigen SPD vor kurzem unter tosendem Applaus eines schreienden Mobs verlassen, indem sie sich mit großer Mehrheit für eine Legalisierung von Abtreibungen bis zum neunten Schwangerschaftsmonat – also bis Minuten oder gar Sekunden vor der Geburt – ausgesprochen haben.

Selbsternannte Feministen und Feministinnen haben die Debatte mit einem schwer erträglichen Absolutismus geführt, in der kritische Stimmen unter dem Gejohle der großen Mehrheit übertönt wurden.

Man könnte meinen, der Beschluss der Jusos verdiene keine Aufmerksamkeit. Eine solche Position würde zwar die Absurdität dieser Forderung angemessen honorieren, zugleich aber den damit verbundenen Zivilisationsbruch unter den Teppich kehren und eine nicht zu tolerierende Grenzüberschreitung stumm hinnehmen.

Der Beschluss der SPD-Youngster ignoriert nicht nur eine jahrzehntelange Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, er greift auch frontal die Grundfesten unserer Verfassungsordnung an, indem er die Menschenwürde des werdenden Kindes negiert und dieses der Willkür der Mutter aussetzt. Die Vernichtung menschlichen Lebens wird plötzlich in einem erheblichen Maße legalisiert und legitimiert. Dass ausgerechnet eine Jugendorganisation der Partei, die sich 1933 mutig den Nationalsozialisten entgegenstellte, jene Norm der Verfassung entkernt, die als absoluter Gegenentwurf zur Menschenfeindlichkeit der NS-Zeit konstruiert ist, ist gleichsam erschütternd wie unerklärlich.

Unter dem Deckmantel der feministischen Bewegung werden Rechtspositionen für absolut erklärt, wo Absolutismus fehl am Platze ist. Das Grundgesetz lebt davon, einzelne Rechtspositionen gerade nicht für absolut zu erklären. Eine Ausnahme stellt Artikel 1 Absatz 1 dar. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde ist ein Grundpfeiler unserer Gesellschaft, der den Strömungen und Fluten der zeitlichen Veränderungen standzuhalten hat.

Das Bundesverfassungsgericht stützt in seinen zwei Urteilen zum Schwangerschaftsabbruch aus den Jahren 1975 und 1993 den Schutz des werdenden Lebens vor unkontrollierten Eingriffen auf dieses Fundament unserer Verfassung.

Indem die Jusos diese Rechtsprechung ignorieren, ignorieren sie einerseits den Schutzgehalt der Menschenwürde, andererseits verkennen sie, dass Verfassungsgerichtsurteile kein Verfallsdatum kennen.

Auch das Argument, gesellschaftlicher Fortschritt gebiete eine Abkehr von dieser Jahrzehnte zurückliegenden Rechtsprechung, greift allein deshalb nicht durch, weil er eine Auseinandersetzung mit den in Karlsruhe aufgestellten Grundsätzen vermissen lässt.

Im ersten Urteil von 1974 erkennen die Verfassungshüter zunächst, dass es sich bei der ihnen vorgelegten Problematik nicht zuletzt auch um Fragen „ethischer und moraltheologischer Art“ handelt, um anschließend in einem einfachen Satz zu konstatieren, was die Mehrheit der Jusos offenbar nicht erkennen konnte: „Gewicht und Ernst der verfassungsrechtlichen Fragestellung werden deutlich, wenn bedacht wird, dass es hier um den Schutz des menschlichen Lebens geht, den zentralen Wert jeder rechtlichen Ordnung.“

Anders als profilierungssüchtige Feministinnen und Feministen auf Seiten der SPD-Jugendorganisation sind die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts um Zurückhaltung bemüht. In beiden Urteilen bringen sie die unter Umständen widerstreitenden Positionen des Rechts auf Leben des ungeborenen Kindes und dem Recht auf Selbstbestimmung der werdenden Mutter in Ausgleich. Sie erkennen, dass die Geburt eines Kindes – sei es gewollt oder ungewollt – eine „darüber hinausgehende Handlungs-, Sorge- und Einstandspflicht nach der Geburt über viele Jahre nach sich zieht.“

Sie gestehen der Mutter ein Recht auf straffreie Abtreibung in engen Grenzen zu und bemühen das Kriterium der Zumutbarkeit, das – so der Tenor des zweiten Urteils – nicht auf Fälle „einer ernsten Gefahr für das Leben der Frau oder einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihrer Gesundheit“ beschränkt ist.

Das derzeit geltende Recht bietet hierauf aufbauend eine im Großen und Ganzen zeitgemäße Lösung. Die grundsätzliche Möglichkeit, abzutreiben, darf die feministische Bewegung zurecht als ihren eigenen Erfolg feiern.

In einzelnen kontroversen Fragen wie dem gerade heiß diskutierten Werbeverbot sind verschiedene Positionen auf dem Boden der deutschen Verfassungsordnung denkbar. Abhängig vom eigenen Werdegang und persönlichen Erfahrungen hat jeder Mensch hierzu seine eigene Grundhaltung. Eine Verteufelung einzelner Ansichten ist daher zu brandmarken.

Der Wille engagierter Feministinnen und Feministen, das Recht der Mutter auf Selbstbestimmung zu forcieren, ist aus ihrem Blickwinkel nur allzu verständlich. Es ist auch grundsätzlich – unabhängig von eigenen Präferenzen – eine legitime und zu respektierende Haltung, schließlich weist das Selbstbestimmungsrecht als Ausdruck des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts wie der Lebensschutz des ungeborenen Kindes einen engen Konnex zur Menschenwürde der Mutter auf.

Indes verbietet sich eine Verabsolutierung des Selbstbestimmungsrechts. Denkt man die Position der Jusos zu Ende, so hängt die Zulässigkeit einer Tötung des Kindes davon ab, ob es noch im Mutterleib ist oder bereits – teilweise – außerhalb. Selbst nach Einsetzen der Geburtswehen wäre eine Tötung des ungeborenen Babys noch möglich.

Doch wie lässt sich ernsthaft rechtfertigen, dass das Kind in den Sekunden vor Beginn des Geburtsvorgangs ein Geschöpf ohne Rechte ist, es den Bruchteil eines Augenblicks später allerdings vollumfänglich unter dem Schutz unserer Rechts- und Verfassungsordnung steht?

Die derzeitige Rechtslage lässt die Straffreiheit einer Abtreibung nach der zwölften Woche nach der Empfängnis entfallen. Es ist einer jeden absoluten Grenze inhärent, dass sie willkürlich ist. Indes erscheint eine Grenzziehung im frühen Stadium der Schwangerschaft noch möglich, ohne in ein nicht aufzulösendes moral-ethisches Dilemma zu geraten.

Indem der Gesetzgeber auch vorher die Tötung werdenden Lebens für rechtswidrig erklärt, zugleich aber durch das Vehikel der Straffreiheit die anerkennenswerten Interessen der Frau berücksichtigt, schafft er einen Ausgleich, der von den meisten Menschen, ungeachtet ihrer persönlichen Haltung zu Abtreibungen, akzeptiert werden kann.

Wenn in erster Linie Frauen fordern, dass ihr Selbstbestimmungsrecht es gebiete, bis zum Ende der Schwangerschaft abtreiben zu dürfen, interpretieren sie dieses Recht sehr einseitig. Umfasst das Selbstbestimmungsrecht nicht auch die Entscheidung, ohne Verhütung Sex zu haben? Wer die Wahl zum ungeschützten Geschlechtsverkehr trifft, tut dies bewusst. Er entscheidet sich bewusst dafür, eine Schwangerschaft zuzulassen.

Natürlich sind Fälle denkbar, in denen es trotz Verhütung zur Schwangerschaft kommt. Eine Erklärung, warum in diesen Fällen die geltende Rechtslage das Recht der betroffenen Frauen nicht ausreichend schützt, bleiben die vermeintlichen Hardcore-Feministen schuldig.

Überzeugender ist, den Feminismus selbst von Artikel 1 Absatz 1 aus zu gestalten. Aus der Menschenwürde könnte man einen Anspruch der Frau auf Selbstachtung ableiten. Und die weibliche Selbstachtung sollte es erlauben, bis zum Ende der 12. Schwangerschaftswoche eine eigenverantwortliche Entscheidung zu treffen.

Wer hierzu nicht in der Lage ist, hat tieferliegende persönliche Probleme, die auch eine Legalisierung von Abtreibungen bis zum Ende der Schwangerschaft nicht zu lösen vermag.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin Scholz

Jurist, freier Journalist & Vorstand einer gemeinnützigen Organisation zur Unterstützung benachteiligter Menschen in Indien

Benjamin Scholz

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