1980: Kranke Fische

Zeitgeschichte Greenpeace startet seine erste imposante Aktion in Deutschland. Sie richtet sich auch gegen Bayer, weil der Konzern tonnenweise Dünnsäure in der Nordsee verklappen lässt
Ausgabe 42/2020

Vergleiche mit dem Kampf von David gegen Goliath werden häufig bemüht, gerade für die Arbeit von Umweltaktivisten. Passender für die erste Aktion von Greenpeace in Deutschland wäre das der Realität entnommene Bild „Schlauchboot gegen Industrietanker“. Im Oktober 1980 wurde nahe Bremerhaven mittels aufgepumpter Rettungsinseln über Tage hinweg ein Schiff der Firma Kronos Titan blockiert, das Dünnsäure in die Nordsee leiten sollte. Das fand zwar ein großes Medienecho, doch es sollte dauern, bis Greenpeace Gehör fand. Die Non-Profit-Organisation war 1970 im kanadischen Vancouver als pazifistische Bürgerinitiative entstanden und hatte sich zunächst vorrangig gegen Atomtests und Walfang eingesetzt. Es folgten Greenpeace-Filialen in London, Amsterdam und – im Anschluss an die erste Schlauchboot-Aktion – 1981 in Deutschland.

Heute wirkt die David-Metapher überholt: Greenpeace Deutschland ist mittlerweile ein millionenschwerer Verband mit über 600.000 Fördermitgliedern, etwa ein Fünftel der organisierten Unterstützer weltweit. Während deutsche Unternehmen inzwischen ihre giftigen Abfälle vielfach in ärmere Länder „exportieren“, wurden in den 1980ern ätzende Chemikalien schlicht der Nordsee überlassen, und das mit behördlicher Genehmigung. Das zuständige Deutsche Hydrologische Institut (DHI) in Hamburg gab grünes Licht, Dünnsäure durfte ins Meer entsorgt werden. Industrievertreter behaupteten, dies sei harmlos. Das DHI ging davon aus, die Schiffsschraube werde die Säure im Wasser schnell verdünnen.

Bei der Substanz handelte es sich um ein Abfallprodukt, das neben Wasser 25 Prozent Schwefelsäure sowie weitere Schwermetalle enthalten konnte. Allein Kronos Titan leitete seinerzeit bis zu 1.200 Tonnen Dünnsäure pro Tag in die Nordsee, das ergab Hunderttausende von Tonnen pro Jahr. Dabei hätte es für Kronos schon 1980 die freilich kostspieligere Option gegeben, die Bestandteile der Säure teilweise zu recyceln und erneut zu verwenden. Laut Greenpeace besaß die Firma hierfür bereits ein Patent, dennoch kam es wie bei Industrieabfällen von Bayer zur Ableitung in die Nordsee. Umweltschützer sprachen von einer gelblichen Färbung des Meerwassers, die für Stunden anhalte. Um dagegen zu protestieren, stiegen Greenpeace-Aktivisten am 13. Oktober 1980 morgens in zwei Rettungsinseln, die vor dem Bug und am Steuerruder des Tankers Kronos festgebunden wurden, um das Schiff daran zu hindern, aus dem Hafen in Nordenham zu laufen und die Säure hinter der Wesermündung zu verklappen.

Mit dabei waren Aktivisten vom Bielefelder „Verein zur Rettung von Walen und Robben“ und aus dem „Kölner Arbeitskreis Chemische Industrie“. Technische Hilfe kam von Greenpeace-Aktivisten aus den Niederlanden, die den deutschen Partnern zwei Motoren, ein Schlauchboot sowie eine Rettungsinsel zur Verfügung stellten. Von Anfang an waren sich die Greenpeacer über die Symbolkraft der Bilder im Klaren, die ihre Aktionen liefern würde. Kanadische Umweltschützer hatten ihre Einsätze gegen Walfänger auf dem Meer mit eigenem Equipment gefilmt und fotografiert. Wie sonst hätte 1995 die Ölplattform „Brent Spar“ so viel Beachtung gefunden, die besetzt wurde, als sie im Meer versenkt werden sollte. Bei der Aktion in Nordenham wartete am frühen Morgen bereits ein Presseschiff des Norddeutschen Rundfunks (NDR) darauf, dass etwas passieren würde. Im Nachhinein beschrieb eine Aktivistin die Berichterstattung von ARD und ZDF als „unerwartet positiv“.

Parallel zur Blockade im Hafen von Nordenham kam es um die gleiche Zeit zu weiteren Greenpeace-Unternehmungen. Demonstriert wurde im belgischen Gent und vor der Zentrale des Kronos-Mutterkonzerns in New York. In mehreren Städten der Bundesrepublik fanden Informationsveranstaltungen über die Aktion und deren Hintergründe statt. Zudem wurde weiter auf die Überzeugungskraft der Bilder gesetzt: Aktivisten luden zentnerweise kranke Fische ab – vor dem Pförtnerhaus von Bayer in Brunsbüttel, vor der Zentrale des Konzerns in Leverkusen und vor dem Hamburger DHI. Die Fische wiesen Geschwüre, Hauttumore und andere Krankheiten auf, die auf Dünnsäure zurückzuführen seien, so Greenpeace. Über eine Woche lang blieb die Anlegestelle blockiert, an der die Verklappung von Giftstoffen ihren Anfang nahm. Den gestoppten Tanker konnten die Umweltschützer letztlich dreieinhalb Tage aufhalten. Am zweiten Tag geriet die Besatzung einer Rettungsinsel in Gefahr, als ein holländisches Schiff versuchte, am Firmenpier anzulegen und dabei die angeleinten Aktivisten unter Wasser drückte. Die Insel lief voll und wäre beinahe untergegangen, beide Insassen zeigten den Kapitän anschließend wegen versuchten Totschlags an.

Zunächst angekündigte Verhandlungen mit Konzernvertretern über einen alternativen Umgang mit den Industrieabfällen wurden kurzerhand von Kronos abgesagt. Begründung: Das Haus eines Mitarbeiters sei beschmiert worden. Greenpeace sah sich zudem mit Schadenersatzforderungen von einer halben Million Mark konfrontiert, da die Produktion um zwei Drittel gedrosselt werden musste und womöglich eine Stilllegung von Werksanlagen drohte. Am vierten Tag erhielten die Aktivisten eine einstweilige Verfügung, mit der eine Räumung angekündigt wurde, bald darauf vollzogen durch ein Großaufgebot der Wasserschutzpolizei. Die Operation war damit zwar beendet, aber der mediale Achtungserfolg ließ sich nicht mehr verhindern.

So sehr es gelungen war, die Öffentlichkeit zu sensibilisieren – dies änderte nichts daran, dass der Widerstand gegen eine Verklappung von Dünnsäure im Meer noch längst nicht am Ziel war. Der Bayer-Konzern konnte sich erst 1982 dazu durchringen, diese Art von Abfallentsorgung zu beenden. Bei Kronos verging hingegen deutlich mehr Zeit: Erst 1990 stellte das Unternehmen in Norddeutschland komplett auf ein Recycling der Schwefelsäure um. Die Kritik galt allerdings weniger dieser Firma als dem Deutschen Hydrologischen Institut: Die Behörde erteilte noch bis Ende 1989 Genehmigungen für die Ableitung von Dünnsäure in die Nordsee. Erst danach wurde dieses zerstörerische Verfahren verboten. Die Aktivisten von Greenpeace brauchten ihre Zeit, um gegen behäbige Behörden mehr als nur Achtungserfolge zu verbuchen.

Umweltschutzbewegungen kamen in Westdeutschland während der 1960er und 1970er Jahre zumeist wegen lokaler Ereignisse wie des Fischsterbens im Rhein oder wegen geplanter Kernkraftwerke zustande. Die Anti-Atom-Bewegung war das Aushängeschild. Den organisatorischen Überbau für viele Großdemonstrationen gegen AKWs und Atomwaffen lieferte der Bundesverband Bürgerinitiativen Umweltschutz (BBU), der 1972 gegründet wurde. Bis heute gehören dem BBU mehrere Hundert Verbindungen an. Gleichwohl kam mit Greenpeace 1980 ein Player zur westdeutschen Umweltbewegung hinzu, der allein wegen der internationalen Erfahrung ein anderes Kaliber war. Was Unbehagen über dessen Verhalten nicht ausschloss, wenn sich Greenpeace mit Unternehmen arrangierte, um durch Kompromisse auch der Gegenseite zu gefallen. Schon 1977 trat Paul Watson, der im Gründungsjahr beigetreten war, aus und gründete die Meeresschutzorganisation Sea Shepherd. Watson kritisierte Greenpeace als zu passiv und meinte, die Organisation sei ein Geschäft, das jedem ein gutes Gewissen verkaufe. Kurz nach der Gründung von Greenpeace Deutschland zogen sich auch hierzulande Mitglieder wieder zurück und gründeten Robin Wood. Sie bemängelten eine undemokratische Verbandsstruktur sowie eine fehlende Mitbestimmung und beschrieben die Organisation als „Öko-Multi“.

Wenngleich die Dünnsäure-Aktionen 1980 langfristig durchaus Wirkung zeigten: Aufgrund der multiplen Umweltprobleme und Gewässerverschmutzungen muss konstatiert werden, dass die Anzahl der (vermeintlichen) Davids heutzutage noch sehr viel mehr anwachsen müsste, um gegen die vielen Goliaths der Welt zu bestehen.

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Geschrieben von

Ben Mendelson

freier Journalist. Schwerpunkt: öffentliche Daseinsvorsorge und Privatisierungen. Wirtschaftshistoriker und Vierteljurist.

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