Schaut mal her, wir schaffen das Roaming ab!

Netzneutralität Mit den Regelungen zum "offenen Internet" entfernt sich die EU von einem Grundprinzip des Internets. Vieles hängt nun von der konkreten Auslegung der Verordnung ab
Schaut mal her, wir schaffen das Roaming ab!

Foto: PanoramiC/imago

"Juhu, wir haben die Roaming-Gebühren abgeschafft!", rief man nach dem gestern verabschiedeten Gesetzespaket aus dem EU-Parlament. Das stimmt nur mehr oder weniger. Ab Mitte 2017 soll es keine Zuschläge auf Handy-Telefonate, SMS oder Internet-Nutzung aus dem EU-Ausland geben. Zumindest bis zu einer Obergrenze an Datenverkehr. So weit, so okay.

Die Preise für Roaming-Gespräche und Daten-Roaming sind laut EU-Kommission aber ohnehin in den letzten acht Jahren auf weniger als ein Fünftel gesunken – dieser Teil des Gesetzespakets ist eine überfällige Kontinuität. Spannender ist der Teil zum Thema Netzneutralität. "Neutral" meint in diesem Kontext, dass bei der Internetnutzung kein Datenpaket bevorzugt an entsprechende Server weitergeleitet wird. Mithilfe der Verordnung soll in der gesamten EU der Zugang zu einem offenen Internet ermöglicht werden. Netzneutralität ist eines der Grundprinzipien des Internets – oder war es zumindest? Denn von vielen Seiten wird nun kritisiert, dass die EU-Verordnung nichts mit Gleichheit zu tun habe und nun doch ein Zwei-Klassen-Internet geschaffen worden sei.

Zunächst: Das Wort Netzneutralität ist in der gesamten Verordnung kein einziges Mal zu lesen. Man kann schon insofern davon ausgehen, dass die EU sich von diesem Prinzip entfernt. Nicht nur netzpolitische Aktivisten kritisieren deshalb die Verordnung, sondern auch Juristen, Politiker, der viel zitierte Internet-Mitbegründer Tim Berners-Lee oder die deutschen Landesmedienanstalten.

Sie bemängeln, dass die Verordnung zahlreiche schwammig formulierte Passagen mit großen Schlupflöchern beinhalte. Diese müssen jetzt von den nationalen und EU-Regulierungsbehörden sowie Gerichten ausgelegt und so mit Inhalt gefüllt werden.

Zum Beispiel sogenannte Spezialdienste. Sie dürfen von Telekommunikations-Unternehmen künftig – gegen Geldzahlungen – bevorzugt übertragen werden. Doch niemand kann derzeit sagen, was mit "Spezialdiensten" gemeint ist: die Video-Übertragung einer Operation für Fachärzte oder auch der Serienstream in HD? Die Kritiker sprechen von einer bezahlten Überholspur. Hier würden zudem kleine Unternehmen und Startups benachteiligt, die sich solche Zahlungen nicht leisten könnten. Ganz im Gegensatz zu einem Konzern wie Apple, der allein im letzten Quartal 11 Milliarden US-Dollar Gewinn erzielte.

Die Verordnung gibt zwar vor, dass durch die Spezialdienste nicht der normale Internet-Datenverkehr beeinträchtigt werden dürfe. Aber damit versucht die EU die Quadratur des Kreises. Sie schafft Privilegien für zahlungskräftige Kunden - die natürlich jene Internetnutzer benachteiligen, die sich solche Premium-Dienste nicht leisten können. Außerdem: Wer sollte kontrollieren, dass Otto Normalverbraucher nicht diskriminiert wird? Die nationalen Regulierungsbehörden sind bislang sicher nicht personell überbesetzt.

Ein weiteres Beispiel für die Schwammigkeit: Internetprovidern wird es ermöglicht, die Geschwindigkeit der Datenübertragung zu drosseln, sofern eine Netzüberlastung droht. Doch wann das der Fall ist – aus der Verordnung geht es nicht hervor.

Viele Argumente der Kritiker wurden in Änderungsanträgen gestern im EU-Parlament eingebracht. Doch deren Verfechter aus der Opposition waren klar in der Unterzahl. Dabei heißt es, einige Abgeordnete seien für die Änderungen gewesen. Sie hätten aber dagegen gestimmt – aus Angst, dass bei einem erneuten Kompromiss die Roaming-Gebühren erneut auf den Tisch kommen könnten. Aus Angst vor der lobbyistischen Macht der großen Telekommunikations-Unternehmen also.

Noch ist das Schicksal der Netzneutralität nicht besiegelt. Die unklaren Formulierungen und Gesetzeslücken werden nun von der europäischen Regulierungsstelle für elektronische Kommunikation angeschaut und spezifiziert. Sie könnten auch noch zugunsten der kleinen Unternehmen und verschlüsselten Kommunikationswege ausgelegt werden. Die Regulierungsstelle soll bald in Leitlinien klarstellen, wie die Verordnung angewendet werden soll. Hierfür wird sie sich beraten lassen. Auch die Kämpfer für echte Netzneutralität werden an der Beratung teilnehmen. Dann können sie nochmals ihre Bedenken vortragen.

Fraglich ist, ob sie dieses Mal Gehör finden werden. Sie müssen sich weiterhin gegen die großen Internet- und Telekommunikations-Unternehmen durchsetzen, deren lobbyistischer Einfluss auf die EU-Behörden nicht zu unterschätzen ist – wie die Abstimmung am Dienstag gezeigt hat.

Eins ist klar: Die EU-weite Regelung zum Offenen Internet wird in keinem Fall "frei von Benachteiligungen" sein, wie es in der Verordnung heißt. Und: Wie die Abschaffung der Roaming-Gebühren ist auch die Verletzung der Netzneutralität im Grunde eine Kontinuität.

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Geschrieben von

Ben Mendelson

freier Journalist. Schwerpunkt: öffentliche Daseinsvorsorge und Privatisierungen. Wirtschaftshistoriker und Vierteljurist.

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