Braucht der „Tatort“ einen Podcast-Booster?

Krimi Deutschland gruselt sich traditionell jeden Sonntagabend vor dem Fernseher. Jetzt hat die Sendung auch noch ihr eigenes Hörformat. Ist das nicht zu viel des Guten?
Ausgabe 44/2021

Manche Dinge sind so ärgerlich wie unvermeidbar. Der unangenehme Teil des Herbsts ist so etwas: nass, dunkel schon am Nachmittag, Hundehaufen unter platt geregnetem Laub – grauenvoll.

Neulich war Zeitumstellung. Und seitdem sind wir mittendrin in dieser Phase des Grauens, es dräut wieder der Rückzug ins Private. Der beflissene Deutsch-Leistungskursler erinnert sich da an Rainer Maria Rilke: „Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben, wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben.“ Was Rilke dagegen noch nicht auf dem Schirm hatte, waren Tatort und Polizeiruf, vor denen man jetzt wieder öfter hängen bleibt.

Überhaupt ein bemerkenswertes gesellschaftliches Phänomen, der Sonntagabend-Krimi im Ersten. Wo gibt es das sonst, dass sich Familien vor dem Fernseher versammeln, Leute in der Kneipe treffen, um einen Fernsehkrimi zu schauen? Dass die Tatort-Rezensionen zum eigenen Genre werden und die Quoten mitunter in den zweistelligen Millionenbereich schießen? Normal ist das nicht, aber eben Kulturgut.

Dieses Kulturgut hat jetzt von der ARD selbst seinen eigenen Podcast bekommen. Sonntag 20:15 Uhr – Der Podcast zu Tatort und Polizeiruf heißt er. Das ist kein kreativer Name, wie ich finde, aber immerhin weiß man grob, was man bekommt. Was allerdings nicht die Frage beantwortet, ob man das auch braucht. Braucht der Sonntagabend-Krimi den Booster durch einen Podcast? Und sind die Rezensionen von Matthias Dell (erfahrene Freitag-Leser:innen werden sich erinnern) nicht die einzige Nachbereitung, die das Format braucht?

Ich hab’s mir angehört. Ist ja der Job. Die Grundidee ist interessant: Das, was das Genre Krimi möglich macht, nämlich das erzählerische Verpacken großer gesellschaftlicher Fragen, wird noch einmal wissenschaftlich nachbereitet. Das Moderator:innen-Duo Visa Vie und Philipp Fleiter befragt in jeder Folge Wissenschaftler zu den zentralen Fragen des Films. Gibt es die Wohlstandsverwahrlosung „Affluenza“ tatsächlich, und was hat es damit auf sich? Was kann man tun bei Stalking? Und in der neuesten Episode spricht Christoph Butterwegge über Armut und Chancenungleichheit. So werden die Filme in einen größeren Kontext eingebettet. Kritisiert werden sie leider nicht. Denn zwar gibt es am Ende immer eine kleine Bewertungsrunde der beiden Moderator:innen, aber das bislang kritischste Verdikt lautet: ein bisschen überfordert, aber großartige Besetzung. Dabei ist doch gerade der kollektive Streit das, was die Filme mit ausmacht. Diese Lagerbildung zwischen „größter Scheiß“ und „großartig“.

Der Kriminalist in mir hegt da schnell einen schlimmen Verdacht: Überwiegt am Ende der PR-Wunsch der ARD die inhaltliche Auseinandersetzung? Tatsächlich lassen die eingespielten Filmausschnitte und die Werkstattgespräche das vermuten, zumal die Expert:innen-Interviews gerne länger (und manchmal auch komplexer) sein dürften.

Das eigentliche Problem ist aber vielmehr, dass Sonntag 20:15 Uhr auf unangenehme Weise den True-Crime-Hype befriedigen soll. Moderator Philipp Fleiter hat mit Verbrechen von nebenan einen der erfolgreichsten True-Crime-Podcasts in Deutschland, und Visa Vie ist neuerdings auch im Business unterwegs. Und damit so richtig Stimmung aufkommt, werden nicht nur Teile des Podcasts mit bedrohlicher Musik unterlegt, nein, es wird zu Beginn auch noch eine Triggerwarnung ausgesprochen. Nichts gegen Triggerwarnungen, aber man bekommt als Zuhörer doch arg den Eindruck, dass sie hier eher die Funktion eines „True-Crime-Gütesiegels“ erfüllt.

Schade eigentlich. Fürs Kulturgut reicht das nicht. Aber vielleicht für ganz, ganz lange Nächte, wenn der letzte Brief geschrieben ist.

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Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Neben seinem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz viele Leser:innen zu begeistern. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts. Er ist außerdem Co-Autor zweier Jugendbücher: Young Rebels (2020) und Whistleblower Rebels (2024) sind im Hanser Verlag erschienen.

Benjamin Knödler

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