Die Menschenwürde ist relativ unantastbar

Sanktionen 2017 wurden häufiger Hartz IV-Leistungen gekürzt als im Jahr zuvor. Die Entwicklung ist ein Sinnbild für einen strafenden, drohenden Sozialstaat
Die Sanktionen sind elementarer Bestandteil der Drohkulisse, die der Sozialstaat inzwischen aufgebaut hat
Die Sanktionen sind elementarer Bestandteil der Drohkulisse, die der Sozialstaat inzwischen aufgebaut hat

Foto: Christof Stache/AFP/Getty Images

"Die Grundsicherung für Arbeitsuchende soll es Leistungsberechtigten ermöglichen, ein Leben zu führen, das der Würde des Menschen entspricht", heißt es im SGB II zur Aufgabe der Grundsicherung. 416 Euro pro Monat für eine alleinstehende erwachsene Person. Das ist der Preis der Menschenwürde in Deutschland im Jahr 2018. Im Normalfall, so man das denn so nennen mag. Denn diese Würde ist relativ, eine Frage des Verhaltens, jederzeit aberkennbar. Es reicht, einen Termin nicht einzuhalten. Dann ist die Zeit gekommen, für eine besondere Maßnahme des Sozialstaates: die Sanktion, die Kürzung der Leistung.

Drei Monate dauern die Sanktionen in der Regel, für einen verpassten Termin werden normalerweise zehn Prozent der Leistungen gekürzt, bewirbt man sich beispielsweise auf einen Vermittlungsvorschlag nicht, werden 30 Prozent abgezogen, wird innerhalb eines Jahres wiederholt gegen Regeln verstoßen, können sich die Kürzungen auf bis zu 60 Prozent belaufen. Unter 25-Jährige werden noch härter angepackt, im schlimmsten Fall werden sogar die Kosten für Heizung und Unterkunft nicht mehr getragen.

Wer nun den Eindruck hat, dass das dem Grundgesetz nicht entspricht, der könnte Recht haben. Das Sozialgericht Gotha hält die Kürzungen für grundgesetzwidrig und hat darum das Bundesverfassungsgericht angerufen. Noch in diesem Jahr soll es nach Möglichkeit zu einer Entscheidung kommen.

Doch bis dahin wird weiter sanktioniert. Heute hat die Bundesagentur für Arbeit die Sanktionsstatistik für das Jahr 2017 veröffentlicht. Demnach ist die Zahl der Sanktionen auf 952.840 gestiegen – “geringfügig”, wie betont wird, – aber eben gestiegen. Bei drei Viertel der Fälle war der Grund ein nicht eingehaltener Termin. Die Sanktionsquote, also das Verhältnis von verhängten Sanktionen zu erwerbsfähigen Leistungsbeziehern liegt hingegen konstant bei 3,1 Prozent. Einige müssen also häufiger mit Sanktionen belegt worden sein.

Teil der Drohkulisse

Man könnte sich nun darauf zurückziehen, dass die Zahl der Sanktionen im Vergleich zum Vorjahr zwar gestiegen ist, die Werte der Jahre 2012 bis 2015 jedoch höher lagen. Oder man könnte, wie der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA) Detlef Scheele, betonen: “Die allermeisten Leistungsberechtigten halten sich an die gesetzlichen Spielregeln.”

Das stimmt natürlich, doch man sollte sich auch die Mühe machen, nach den Gründen zu fragen. Denn die Sanktionen sind Sinnbild für den Wandel des Sozialstaats. Dieser Wandel ist seinerseits Ursache dafür, dass sich viele Menschen an die strengen Spielregeln halten: Es geht nicht mehr ausschließlich darum, den Bewohnern Schutz und Sicherheit zu bieten. Die Sanktionen sind elementarer Bestandteil einer Drohkulisse eines Sozialstaats, der für viele zum Angstmacher mutiert ist. Unmittelbar für jene, die bereits (lange Zeit) arbeitslos sind, aber auch für jene, die Angst davor haben, ihre Stelle zu verlieren und schnell weiter abzusteigen. Es kann immerhin bis unter das Existenzminimum für ein Leben in Würde gehen. Es ist eine ironische Fußnote, dass über Sicherheit und Schutz ja sehr wohl diskutiert wird – allerdings mit völlig anderer Perspektive. Es geht nur mehr um die innere Sicherheit und den Schutz vor der Bedrohung von außen.

Dabei ist es dringend nötig, die Fragen von sozialer Sicherheit wieder offensiv zu verhandeln – und zwar jenseits Spahnscher Stammtischparolen und zahnloser SPD-Erwiderungen. Die Folgen der derzeitigen Politik sind individuelle Geschichten, die sich Tag für Tag zutragen. Da sind die Berichte über die langen Schlangen der Tafel. Da sind Episoden wie die eines Bettlers in Dortmund, dessen Nebeneinkünfte ihm vom Hartz IV-Satz abgezogen wurden.

Sanktionen abschaffen

Die Folgen indes reichen über das individuelle Schicksal hinaus. Kann es verwundern, dass Menschen, die auf diese Weise entwürdigt werden, nicht mehr allzu viel auf die Gesellschaft geben, die sie derart im Stich lässt? Kann eine Politikverdrossenheit da überraschen? Am Ende stehen Teile der Gesellschaft, die sich nicht mehr am politischen Prozess beteiligen wollen und zugleich nicht berücksichtigt werden. Entsprechendes hätte auch im letzten Armuts- und Reichtumsbericht stehen sollen: „Personen mit geringem Einkommen verzichten auf politische Partizipation, weil sie die Erfahrung machen, dass sich die Politik in ihren Entscheidungen weniger an ihnen orientiert.“ Die Aussage wurde damals aus dem Bericht gestrichen. Das große Defizit einer demokratischen Gesellschaft aber lässt sich nicht einfach ausstreichen.

Es wäre höchste Zeit, etwas gegen diese Entwicklungen zu unternehmen. Zumal es im Sinne der neuen Bundesregierung sein sollte, die derzeitige Sanktionspraxis schleunigst zu beenden, steht sie doch eigenen Zielsetzungen im Weg. So ist im neuen Koalitionsvertrag ein verwegener Plan zu lesen: “Wir bekämpfen die Kinderarmut”, heißt es dort. Und Hubertus Heil kündigte in seiner Regierungserklärung gar einen “Masterplan” gegen Kinderarmut an. Zu einer anständigen Bestandsaufnahme würde dabei auch gehören, dass in jedem dritten Fall Haushalte mit Kindern von Sanktionen betroffen sind. Hartz IV und Kinderarmut muss man zusammen denken.


Die Sanktionen abzuschaffen, so wie es die Linke und die Grünen fordern, würde also unter mehreren Gesichtspunkten Sinn ergeben. Sogar der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, kann sich vorstellen, die Sanktionspraxis zu ändern – wenigstens bei Jugendlichen. Stattdessen straft der Staat weiter. Die Menschenwürde bleibt relativ.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und sammelte nebenbei erste journalistische Erfahrungen als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz möglichst viel Anklang zu finden. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts.

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