Die vergangenen Tage dürften für den niedersächsischen Innenminister Boris Pistorius (SPD) eher unangenehm gewesen sein. Auch er habe, so war es in diversen Medien zu lesen, bereits frühzeitig von Unregelmäßigkeiten in der Bremer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) gewusst. „BAMF-Skandal: Pistorius bestreitet Vorwürfe“, titelt etwa der NDR, „Pistorius weist Vertuschungsvorwürfe im Bamf-Skandal zurück“, lautete die Schlagzeile bei der Rheinischen Post, und die Bild-Zeitung fragte: „BAMF-Skandal – Was wusste Pistorius?“ Nach einer kurzen Verschnaufpause ist der „BAMF-Skandal“ als mediales Phänomen wieder da, längst ist er zu einer Variable geworden, die fleißig verwendet wird – unhinterfragt.
Wenn man so will, hat diese Variable eine steile Erfolgsgeschichte hinter sich: Am 20. April meldete unter anderem die Süddeutsche Zeitung (als Teil des Recherceverbundes mit WDR und NDR) einen „Verdacht auf weitreichenden Skandal im Bamf“. Nur wenige Stunden später war im Westfalenblatt und auf faz.net vom „BAMF-Skandal“ die Rede. Seit diesem Auftakt findet sich der Terminus bis 10. Juli laut der Datenbank Genios, die 100 Pressequellen verzeichnet, ganze 1.667-mal – die „BAMF-Affäre“ hat es gar in 1.997 Artikel geschafft, erschienen in Medien von B.Z. über F.A.Z. bis Süddeutscher Zeitung, von Wolfsburger Allgemeiner bis Straubinger Tagblatt. Womit eines klar sein dürfte: „BAMF-Skandal und -Affäre“ sind in jeden Winkel der Republik durchgedrungen.
Dass der Skandal am Ende wohl so skandalös gar nicht ist, wurde dabei zwar thematisiert. Der Begriff freilich wird munter weiterverwendet. Längst hat die Variable ein Eigenleben entwickelt, es werden verkürzte oder falsche Dinge eingesetzt, sodass sich daraus Folgefehler ergeben. Der „BAMF-Skandal“ hat ebenso wie die „BAMF-Affäre“ den gesellschaftlichen Grundton verstärkt, dass mit der Beantragung von Asyl anscheinend etwas Zwielichtiges, schwer Durchschaubares, potenziell Skandalöses einhergehe. Er ist der Nährboden für Vorstöße à la Seehofer, die ihrerseits weitere irreführende Schlagworte hervorbringen, „Asylstreit“ zum Beispiel. Worum ging es dabei noch einmal konkret? Wie weit liegen Merkel und Seehofer wirklich auseinander? Ging es nicht vor allem um einen persönlichen Machtkampf? Und ist das Recht auf Asyl überhaupt etwas, über das sich streiten lässt? All diese Aspekte und Fragen, die einer differenzierten Debatte bedürften, sind schnell wieder vergessen – ist ja auch egal, es bleibt schließlich die eine Variable, mit der sich weiterarbeiten lässt. Folgefehler waren schließlich schon in der Schule verkraftbar.
Allein, die Konsequenzen sind schwerwiegender als eine verhauene Mathe-Klausur. In einer Gesellschaft, die so polarisiert ist, dass Dialog mithin schwer möglich scheint, ist es gefährlich, wenn die dringend notwendigen Zwischentöne verloren gehen. Es sind ja keine Einzelfälle. Dieser Tage geistert auch die „Erdogan-Affäre“ wieder durch die Berichterstattung, ein Ausdruck, der es seit 15. Mai in etwa 2.000 Artikel geschafft hat. Über die Vorgeschichte des Treffens der Fußballer Özil und Gündogan mit dem türkischen Präsidenten spricht niemand mehr, geblieben ist die „Affäre“ – raunender Unterton inklusive –, die vom DFB nun für eigene Zwecke genutzt wird. Wir sollten lernen, suggestive Begriffe zu vermeiden, die so groß sind, dass sie keine Klarheit, sondern bloß Stimmung erzeugen.
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