Eingeklemmt im Regionalexpress mit 9-Euro-Ticket? Da hilft ein Podcast

Podcasttagebuch Gestrandet in Brandenburg bot sich unserem Podcast-Kolumnisten endlich die Chance, auch einen 9-Euro-Ticket-Text zu schreiben
Ausgabe 26/2022
Der Hauptbahnhof in Leipzig: Ruhe bewahren, warten, Podcast hören
Der Hauptbahnhof in Leipzig: Ruhe bewahren, warten, Podcast hören

Foto: Arnulf Hettrich/IMAGO

Journalismus, das ist schon eine spannende Branche, liebe Leser:innen. Ständig gibt es neue Ideen und Formate – im Juni zum Beispiel, da hat eine neue Textgattung das Licht der Welt erblickt: der 9-Euro-Ticket-Text. Journalist:innen stellen sich in überfüllte Züge, beschreiben im Schweiße ihres Angesichts, wie sie irgendwo zwischen Kamen und Bönen-Nordbögge, eingekeilt zwischen Rucksäcken und Satteltaschen, ohne Klimaanlage dahinvegetieren. Sie suchen Storys und finden vielleicht sogar irgendwo einen Punk, der sich auf dem Weg nach Westerland verfahren hat.

Wer 9-Euro-Ticket-Texte schreibt, der hat es geschafft. Man muss also die Chance ergreifen, wenn sie sich bietet. Und der Zufall wollte es, dass auch ich jüngst in einer Regionalbahn stand – irgendwo in der Uckermark, wo die Bahnsteige mit Unkraut bewachsene Schotterpisten sind. Selten war ich dankbarer für Podcasts.

Eingeklemmt zwischen Fahrgästen unterschiedlichen Geduldszustands, so eng, dass man nicht einmal ein Buch lesen kann, sind Podcasts die Rettung. Allein schon, weil sie die Flucht vor der Umwelt ermöglichen. Diese unangenehmen Momente, wenn Zugbegleiter:innen pensionierte Studienrät:innen mit Fahrrad brüsk abweisen, kann man ja kaum mit ansehen – respektive anhören. Da taucht man besser ab in Geschichten, die einen vergessen lassen, dass man nun schon seit 45 Minuten am Bahnhof Hallbergmoos steht und nichts vorwärtsgeht.

Die zweite Staffel von Wild Wild Web, diesmal mit dem Untertitel Der Pornhub Effekt, ermöglicht das zum Beispiel. Dabei geht das Podcast-Team um Janne Knödler (nach wie vor nicht verwandt oder verschwägert) der Geschichte um Fabian Thylmann nach, dem Mann, der Pornhub groß gemacht – und nicht nur die Pornobranche, sondern auch die Gesellschaft und ihre Sexualität verändert hat. Rund drei Stunden dauern die fünf Folgen, damit schafft man es, wenn alles glattläuft, fast von Berlin nach Stralsund – Sinnieren über die deutsche Gesellschaft inklusive.

Dafür ist das Zugfahren ja ohnehin gut. Das Nachdenken über das Land und die Leute, an deren Vorgärten man gerade vorbeifährt. Nicht umsonst war die „Deutschlandreise“ einst eine ähnlich beliebte Gattung wie heute der 9-Euro-Ticket-Text. Auch der Podcast Die Jagd – Die geheimen Chats der AfD-Bundestagsfraktion lässt sich in diesem Kontext hören. Denn es geht um die AfD – zu einer Zeit, in der die Partei mehr noch als heute mit ihrem Populismus Erfolg hatte. Die Journalist:innen Katja Riedel, Sebastian Pittelkow und Christian Basl haben für den Podcast die Whatsapp-Chats der „Quasselgruppe“ ausgewertet – in der sich AfD-Bundestagsabgeordnete in ihrer ersten Legislaturperiode im Bundestag ausgetauscht haben. Es ist ein Einblick in das Denken einer Partei, die einerseits von ihrem Erfolg besoffen, andererseits aber auf vielen Ebenen dysfunktional ist. Gleichzeitig gibt der Podcast einen Einblick in journalistische Arbeit im Umfeld der AfD. Dreieinhalb Stunden dauert dieser Podcast, das ist die Strecke von München nach Augsburg – inklusive Böschungsbrand.

Und wenn wir schon bei der Deutschlandreise sind, dann lohnt es sich auch, zumindest Podcast-hörend in Eisenhüttenstadt vorbeizuschauen. Liechtenstein in Stalinstadt heißt ein rbb-Podcast, in dem Künstler Friedrich Liechtenstein mit der Fotografin Jennifer Endom in seine Geburtsstadt Eisenhüttenstadt reist. Es ist ein Gang durch die Vergangenheit, von einer DDR-Kindheit bis zur Zeit nach 1990. Unterwegs zwischen Geschichte und Gegenwart, schafft man es fast von Leipzig dorthin.

So denkt man dann doch viel über die Gesellschaft nach, in deren Mitte man im Abteil schwitzt, die Podcasts im Ohr. Würde mich nicht wundern, wenn auf die ganzen 9-Euro-Ticket-Texte bald der erste 9-Euro-Ticket-Podcast folgt.

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Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Neben seinem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz viele Leser:innen zu begeistern. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts. Er ist außerdem Co-Autor zweier Jugendbücher: Young Rebels (2020) und Whistleblower Rebels (2024) sind im Hanser Verlag erschienen.

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