„Gigantomanisch, was wir da fordern“

Europa Am 3. Oktober stellten Daniel Cohn-Bendit und Guy Verhofstadt in Berlin ihr Buch „Für Europa“ vor. Es ist ein Manifest für ein Postnationales Europa.

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Der 3. Oktober ist in Deutschland kein gewöhnliches Datum, jährt sich hier doch die Wiedervereinigung Deutschlands und damit auch irgendwie das Zusammenwachsen Europas. Daher sei es bezeichnend, so ist es an diesem Morgen im Haus der Bundespressekonferenz immer wieder zu hören, ein Buch vorzustellen, das die Autoren als Manifest für ein postnationales Europa bezeichnen. Und eben darum geht es den beiden, das wird von Anfang an deutlich: um die Idee eines postnationales Europas. Das ist keine Werbetour für ein Buch, bei Schnittchen und Kaffee am Morgen eines Feiertages. Wenn Cohn-Bendit und Verhofstadt hier die Werbetrommel rühren, dann für ihre Vision.

Natürlich erzählt Cohn-Bendit die Entstehungsgeschichte, wie das Buch vom Niederländischen ins Französische und wieder zurück-übersetzt wurde, und wie so die Vorstellungen der beiden Europa-Politiker einflossen. Er erklärt, dass das Buch, einheitlich im Design, auf sechs Sprachen gleichzeitig erscheint, und drei weitere Sprachen bald folgen sollen. Doch was sie zu ihrer Arbeit sagen und die Tatsache, dass das Buch in gerade einmal drei Monaten entstanden ist, ist nur ein weiterer Beleg dafür, wie ernst es ihnen ist.

Dementsprechend schnell sind die beiden an diesem Morgen auch bei ihrer Vision von einem postnationalen Europa. Das ist das Gebiet des Liberalen Verhofstadt, der vorrechnet, warum nur ein föderales Europa den Krisen unserer Tage begegnen kann. Er spricht aus eigener Erfahrung als Premierminister Belgiens, wenn er sagt, dass die Regierungen der Nationalstaaten auf dieser Ebene versagt, dass sie keine Vision von Europa hätten. Und obwohl Cohn-Bendit inhaltlich nicht immer mit Verhofstadt einer Meinung sein dürfte, ist er, was die Zukunftsvision von Europa angeht, ganz auf dessen Seite und spricht sich wortgewaltig für ihre gemeinsame Idee aus. Natürlich sei das illusorisch, was sie da forderten, natürlich sei das gigantomanisch, aber ihr Manifest solle eben ein Kompass im Nebel der Krise sein, solle Anhaltspunkte dafür liefern, wie man all diese Probleme besiegen könnte. Es ist beeindruckend die beiden so für ihre Sache einstehen zu sehen. Wo die nationalen Regierungschefs hin und hergerissen mal die eine, mal die andere Position vertreten, haben sie einen klaren Standpunkt. Allerdings drängt sich währende der Pressekonferenz der Eindruck auf, dass es ihnen bei der Vorstellung eines neuen starken, demokratischen Europas vor allem um die Reaktion auf die Krise zu gehen scheint, und es ist keine Rede davon, mit der dann neuen Macht Europas auch etwas an Strukturen á la G8 verändern zu wollen. Das ist schade und da passt es dann auch dazu, dass erst nach geraumer Zeit das erste Mal der Begriff Solidarität als Antreiber dieses, vielleicht nicht neuen aber doch radikalen, europäischen Gedanken fällt. Hat man das Buch nicht gelesen, kann einen das schon verwundern, doch wenn man die beiden da so sitzen sieht, ist man guten Mutes, im Buch noch ein Bisschen mehr „europäischen Idealismus“ zu finden.

Dieser etwas schale Eindruck ändert jedoch nichts an der Überzeugungskraft der Vordenker, ebenso wenig wie die allesamt eher kritischen Fragen der anwesenden Journalisten. Ob ihre Forderung denn nicht demagogisch sei, schließlich könne ein solches föderales Europa nicht demokratisch sein, wird da zum Beispiel gefragt. Darauf antwortet Cohn-Bendit nur, dass alles ein Frage der Definition sei, dass man auch Deutschland trotz demokratischer Mängel als Demokratie bezeichnen könne. Die spannendste Anmerkung kommt allerdings zum Schluss: Welche Sprache soll im neuen Europa gesprochen werden? Das impliziert die weiter gehende Frage, ob die jeweils eigene Kultur eines Landes für das Modell eines starken, föderalen Europas geopfert werden müsse. Und noch weiter gefragt: Ist überhaupt der Wille der Bevölkerung da, sich für Europa einzusetzen, gibt es eine "europäische Gesellschaft"? Die Antwort geben beide zusammen. Cohn-Bendit erzählt von Reden, die er auf Französisch gehalten, und die Dank Internet und Untertiteln von Menschen in Ungarn und Griechenland gehört und verstanden werden. Verhofstadt erinnert an die Niederlande und die Quittung, die die extremen Parteien für ihre Europa-kritische Haltung von der Bevölkerung bekommen haben. Das seien alles keine Hinderungsgründe.

Die berechtigten Einwände der Zuhörer könnte man sicher noch viel genauer unter die Lupe nehmen. Bei ihrer Beantwortung wird Cohn-Bendit teilweise ein bisschen zu laut, ein bisschen zu ungehalten. Das müsste gar nicht sein, das Gespann ist in den Momenten überzeugender, in denen es ruhig und klar seine Position vertritt.

Nach den Ausführungen der beiden hat man nicht nur große Lust diese Manifest zu lesen, sondern man ist sich auch sicher, dass das ein spannender Weg ist, den sie da nehmen wollen. Ein Weg, in die richtige Richtung. Es braucht nur mehr Menschen, die sich trauen, ihn mit zu gehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Neben seinem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz viele Leser:innen zu begeistern. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts. Er ist außerdem Co-Autor zweier Jugendbücher: Young Rebels (2020) und Whistleblower Rebels (2024) sind im Hanser Verlag erschienen.

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